Iring Fetscher - Aus dem Geist der Gerechtigkeit. Wiedergelesen: Gustav Landauers „Aufruf zum Sozialismus“ von 1911 (1977)

Ein spannender Text Iring Fetchers. Er besitzt insofern weiterhin Relevanz, als auch die "Neue Rechte" versucht, Gustav Landauer´s Denken für sich nutzbar zu machen. So erschien etwa Wolf Kalz 1967 erschienene Dissertation "Gustav Landauer. Anarchist und Kultursozialist" 2009 neu - diesesmal unter dem Titel "Gustav Landauer. Ein deutscher Anarchist" - mit Betonung auf deutscher...

Gustav Landauer gehört zu den vielen Opfern der Gegenrevolution. Am 2. Mai 1919, einen Tag nach der Niederwerfung der zweiten Münchner Röteregierung, wurde er von Freikorpsangehörigen ermordet. Seine letzten Worte sollen gelautet haben: „Erschlagt mich doch! Daß ihr Menschen seid!“ Unter dem freiheitlichen deutschen Sozialisten war Landauer der leidenschaftlichste Gegner der Gewalt, der idealistische Anwalt einer Erneuerung aus dem Geiste der Gerechtigkeit. Er wurde von denen getötet, für deren Befreiung er zeitlebens eingetreten war. Er, der die Proletarier vom verrohenden Druck einer inhumanen Umwelt entlasten wollte, wurde das Opfer ebenjener brutalen Rohheit. Man kann Landauers „Aufruf zum Sozialismus“ nicht lesen, ohne an die sympathische Gestalt des Autors und an sein Schicksal zu denken. Aber man kann nicht umhin, heute abermals – wie schon sein Editor Meydorn 1967 – die Frage zu stellen, was bleibt.

Mißbrauchte Worte

Viele Redewendungen und Schlagworte, die Landauer 1911 noch unbefangen verwendet, sind in der Zwischenzeit durch den Mißbrauch, den Nazis und andere mit ihnen getrieben haben, fragwürdig und schal geworden. Man muß sie als zeitbedingte Schwäche überlesen, ohne daß sich wohl ganz leugnen ließe, daß Landauer an einer kulturellen Entwicklung Teil hat, deren antiwestliche, antizivilisatorische, fortschritts- und technikfeindliche Tendenz, so berechtigt sie uns seit der ökologischen Krise erscheinen mag, unheilvolle Konsequenzen für die deutsche Bevölkerung gehabt hat. Manche Sätze konnte ich nicht ohne Unbehagen zur Kenntnis nehmen: „Wo Volk ist, ist ein Keil, der vorwärts drängt, ist ein Wille; wo ein Wille ist, ist ein Weg“ (S. 59). „Keinerlei Technik, keinerlei Virtuosität wird uns Heil und Segen bringen; nur aus dem Geiste, nur aus der Tiefe unserer inneren Not und unsres inneren Reichtums wird die große Wendung kommen, die wir heute Sozialismus nennen“ (S. 66). „Wir sind ein Volk, das wieder aufwärts schreiten kann…, wir sind das Volk, das nur zu retten, nur zur Kultur zu bringen ist durch den Sozialismus“ (S. 68).

Freilich wäre es ungerecht, wollte man aus solchen Zitaten folgern, Landauer habe die Volksgemeinschaftsideologie der Nazis inspiriert. Seine „sozialistische Erneuerung aus dem Geist“ bleibt nicht so inhaltsleer wie die nazistische. Er spricht von der sozialen Gerechtigkeit, ruft zur Bildung von Wirtschafts-Gemeinden von produzierenden und konsumierenden Genossenschaften auf und ist ein erklärter Feind allen expansiven Nationalismus und Imperialismus. Was an Gemeinsamkeiten – zum Beispiel mit den „linken Leuten von Rechts“, auf die er zweifellos eingewirkt hat – vorhanden ist, könnte gerade das sein, was noch immer ernst genommen zu werden verdient.

Hauptinhalt seines Aufrufs ist eine Auseinandersetzung mit dem Marxismus. Vieles, was Landauer hier sagt, kann man als eine Kritik am Kautskyanischen Marxismus, wie er damals die deutsche Sozialdemokratie beherrschte, ohne weiteres akzeptieren. Ein differenzierteres Marx-Verständnis gab es aber 1911 noch nirgends. Marxismus, das ist für Landauer ein pseudowissenschaftlicher Entwicklungsglaube. Der echte Sozialismus kann keine Wissenschaft sein, weil er schöpferisch Neues zu verwirklichen trachtet, ein Ideal realisieren möchte. Er ist ein moralisches Sollen aber kein naturgesetzliches Müssen (S. 81). Landauer bekennt sich zum moralisch-wertenden Charakter seines Aufrufs und nimmt für ihn – im Gegensatz zum Marxismus – keinen Wissenschaftscharakter in Anspruch. „Wir sind Dichter; und die Wissenschaftsschwindler, die Marxisten, die Kalten, die Hohlen, die Geistlosen wollen wir wegräumen, damit das dichterische Schauen, das künstlerisch konzentrierte Gestalten, der Enthusiasmus und die Prophetie die Stätte finden, wo sie fortan zu tun, zu schaffen, zu bauen haben im Leben… für das Mitleben, Arbeiten und Zusammensein der Gruppe der Gemeinden, der Völker“ (S. 86).

Der Hauptirrtum des Marxismus ist nach Landauer die Unterstellung, daß die Entwicklung des Kapitalismus gleichsam zwangsläufig den Sozialismus heraufführen helfe. Insbesondere kritisiert er die Annahme, daß bereits innerhalb des Kapitalismus die „Produktion vergesellschaftet“ sei, da – wenn einmal der Zentralisationsprozeß des Kapitals weit genug fortgeschritten und die Zahl der Kapitalmagnaten auf ein Minimum gesunken sei – die Revolution nur noch in der Enteignung dieser kleinen Minderheit zu bestehen habe.

„Das ist die wahre Lehre von Karl Marx: wenn der Kapitalismus ganz und gar über die Reste des Mittelalters gesiegt hat, ist der Fortschritt besiegelt und der Sozialismus so gut wie da“ (S. 92). „Diesem Kapitalsozialismus stellen wir unsern Sozialismus gegenüber und sagen: der Sozialismus, die Kultur und der Bund, der gerechte Austausch und die freudige Arbeit, die Gesellschaft der Gesellschaften kann erst kommen, wenn ein Geist erwacht… und wenn dieser Geist fertig wird mit der Unkultur, der Auflösung und dem Niedergang, der wirtschaftlich gesprochen Kapitalismus heißt“ (S. 92 f). […]

Die Kapitalismuskritik bei Landauer ist nicht – wie die Marxsche und marxistische – primär eine Kritik des ökonomischen Systems und seiner Krisenanfälligkeit, sondern eine Kritik am „Geist“ des Kapitalismus, an seiner Vulgarität, Bestialität und Profitorientiertheit. Viele zeitgenössische Linke dürften von dieser moralisierenden Argumentation heute stärker angezogen werden als von der wissenschaftlichen von Marx. Das hängt damit zusammen, daß jedenfalls in den hochindustrialisierten Gesellschaften die materielle Not zumindest in der krassen Form wie in der Vergangenheit kein Problem mehr ist. Wir leiden nicht – wie Marx annahm – unter der Einschränkung der Produktion als solche unter dem Erlahmen der kapitalistischen Dynamik, sondern eher umgekehrt unter dem Zwang zu ständiger Ausweitung der industriellen Erzeugung bis über die Grenzen der Umweltbelastbarkeit hinaus und unter der Qualität der Produkte, die oft keinem sinnvollen Bedarf, sondern nur der kurzfristigen Befriedigung künstlich geweckter (schädlicher) Bedürfnisse dienen. Und hier berührt Landauer in der Tat ein Problem, für das sich erst in allerjüngster Zeit einige oppositionelle Marxisten (z.B. in Ungarn) zu kümmern beginnen: „Hat sich denn je“, so fragte er 1911, „ein Marxist um diese große, entscheidende Frage gekümmert; was für den Weltmarkt produziert, was an die Konsumenten verschlissen wird? Immer haftet ihr Blick nur an den äußeren … oberflächlichen Formen der kapitalistischen Produktion …“ (S. 97).

Diese Blindheit für die Fragen der konkreten Gestalt der Produktion rührt nach Landauer von der grenzenlosen Verehrung des „Gevatters Fortschrittler für die Technik“ her, von der Begeisterung für die industrielle Großproduktion. Wegen dieser Begeisterung für den technologischen Fortschritt („für den Dampf“) akzeptiere der Marxismus auch die Konzentration in Riesenbetrieben und überantworte leichten Herzens den Klein- und Mittelbetrieb dem Untergang. Entsprechend dieser technizistischen Fortschrittsgläubigkeit optiere er auch für den zentralisierten Einheitsstaat und lehne den Föderalismus wie die selbständigen, kleinen Genossenschaften als Organisationsform des Sozialismus ab. Was Landauer als Inbegriff der barbarisierenden Tendenzen des Industriekapitalismus erscheint, wird von Marx und Engels geradezu als Zukunftsideal im „Kommunistischen Manifest“ beschworen: „Gleicher Arbeitszwang für alle, Errichtung industrieller Armeen, besonders für den Akkerbau“ (S. 100). […] Die Gefahr der bürokratischen Öde eines sozialistischen Zukunftsstaates (S. 104) habe Marx einfach nicht gesehen.

Träger seines idealen Sozialismus ist keine spezifische Klasse, sondern zumindest anfangs nur eine kleine Anzahl „Einsamer, Abgesonderter“, zu „denen Volk und Gemeinschaft… geflüchtet sind“ (S 105). Von diesen wenigen Sensiblen werde der Widerstand ausgehen und sich ausbreiten durch Wort und vorbildliche Tat. Nur sie vermögen eine wirkliche Alternative dem Kapitalismus und dem praktisch seelenverwandten Staatssozialismus gegenüberzustellen.

Hier münden Landauers Gedanken in bekanntes Proudhonsches Gedankengut ein, das in Frankreich 1871 und zumindest unterschwellig auch 1968 eine Rolle gespielt hat.

Auffallend aktuell

Im Kontext seiner kritischen Würdigung der Gewerkschaften erörtert Landauer ausführlich den Zusammenhang von Lohn und Preis und liefert unerwartet Argumente für eine Niedriglohnpolitik: „Bei steigenden Löhnen steigen die Preise unverhältnismäßig hoch… Es ergibt sich: auf die Dauer und im Ganzen muß der Kampf der Arbeiter in ihrer Rolle als Produzenten die Arbeiter in ihrer Wirklichkeit als Konsumenten schädigen“ (S. 121). Innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft gibt es keine dauernde Verbesserung der Lage. Eine bemerkenswerte Schwäche seiner Argumentation über ökonomische Fragen ist übrigens die Klammerung der Investitionsfrage, die auch bei der Diskussion des Mehrwertproblems nicht erwähnt wird.

Auffallend aktuell sind dagegen wieder Landauers Bemerkungen zur Bedeutung der Arbeitszeitverkürzung und zur Notwendigkeit der Bildung im Interesse der Entfaltung besserer Nutzungs-Chancen der Freizeit. Energisch lehnt er in diesem Zusammenhang „eine sogenannte sozialistische Kunst oder Wissenschaft oder Bildung“ (S. 128) ab und meint „Es ist ein großer Fehler, an dem alle marxistischen Richtungen Anteil haben, daß in den Kreisen der Arbeiter alles Stille und Ewige mißachtet und nicht gekannt ist, während dagegen das Agitatorische und das oberflächliche Tagesgeschrei überschätzt wird“ (S. 129). Als Beispiel solcher „stiller“ Literatur, die für die zu emanzipierenden Menschen wichtiger sei als Agitationstraktate, zitiert Landauer Adalbert Stifter.

Es genügt aber nicht, die Freizeit zu vergrößern, wenn die arbeitenden Menschen wirklich befreit werden sollen, dann muß die Art und Weise ihrer Tätigkeit sich ändern, dann müssen sie in kleinen, überschaubaren Produktionseinheiten selbst über ihre Tätigkeit bestimmen und dann werden sie u.a. auch eine völlig andere Technik entwickeln als die heutige, die „ganz im Banne des Kapitalismus steht“ (S. 134). Auch hier wirft Landauer den Marxisten eine sträfliche Blindheit vor, weil sie außer acht lassen, „wie gründlich sich… die Technik der Sozialisten von der kapitalitischen… unterscheiden wird“. Unter dem Zwang der stets wachsenden industriellen Großproduktion müsse heutzutage sogar der Unternehmer leiden, der genötigt sei, um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu bleiben, immer mehr und immer kostspieligere Maschinen zu erwerben (hier kommt über die technologische Seite das Investitionsproblem doch noch zur Sprache). Um aber die massenhaften Produktionsmittel nutzen zu können, werde immer mehr „Schundluxus fürs Proletariat“ (S. 136) erzeugt.

Der „Geist“, der immer wieder als Schlüsselbegriff bei Landauer auftaucht, ist am ehesten mit Hegels „objektivem Geist“ vergleichbar. Er soll die Verbindung stiftende Größe sein, die mit dem Zerfall gewachsener Gemeinschaften am Ende des Mittelalters verlorenging und durch die beiden äußeren, verdinglichten Surrogate: Kapital und Staat ersetzt wurden. Während in den modernen Gesellschaften eine Masse isolierter Individuen zwangsweise durch Kapital und Staat zusammengehalten und in Verbindung gebracht wird, wird in einer wirklich sozialistischen Gemeinde „der Geist“ wechselseitiger Hilfsbereitschaft, Liebe und Gerechtigkeit herrschen.

Als Eugen Leviné die Führung der Münchner Räteregierung übernommen und eine Diktatur errichtet hatte, die sich gegen die anstürmenden Militärs verteidigen mußte, schrieb Landauer: „Ich verstehe unter dem Kampf, der Zustände schaffen will, die jedem Menschen gestatten, an den Gütern der Erde und der Kultur teilzunehmen, etwas anderes als Sie. Der Sozialismus, der sich verwirklicht, macht sofort alle schöpferischen Kräfte lebendig. Es liegt mir fern, das schwere Werk der Verteidigung, das Sie führen, im geringsten zu stören. Aber ich beklage aufs schmerzlichste, daß es nur noch zum geringsten Teil mein Werk, ein Werk der Wärme und des Aufschwungs, der Kultur und der Wiedergeburt ist, das jetzt verteidigt wird“ (zit. nach Einleitung von Heydorn).

Aus: FAZ, 2.12.1977

Originaltext: http://raumgegenzement.blogsport.de/2009/11/03/iring-fetscher-aus-dem-geist-der-gerechtigkeit-wiedergelesen-gustav-landauers-aufruf-zum-sozialismus-1977/


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