Tolstois christlicher Anarchismus - Zum 100. Todestag Leo Tolstoi

Nach julianischem Kalender (der in Russland noch bis zum 14. Februar 1918 Gültigkeit hatte) starb Lev (Leo) Nikolajewitsch Tolstoi am 7. November, nach gregorianischem Kalender am 20. November des Jahres 1910 auf der Bahnstation Astapovo (seit 1918 Lev Tolstoi) im Alter von 82 Jahren. Das ist nicht unwichtig zu wissen, weil in den verschiedenen Biographien entweder das eine oder das andere Sterbedatum genannt werden.

Tolstoi hatte eigenen Angaben zufolge eine sehr glückliche Kindheit, dann ab seinem Eintritt 1844 in die Kasaner Universität mit 16 Jahren, um zunächst orientalische Sprachen, dann Jura zu studieren und 1847 sein Studium abzubrechen, bis zu seinem Tod ein sehr bewegtes Leben: Er machte Spielschulden, borgte sich reihenweise Geld, floh vor seinen Gläubigern ins Militär, nahm an der Niederschlagung eines Aufstands kaukasischer Bergvölker (z.B. Tschetschenen) teil, ebenso auch am Krimkrieg von 1854 bis 1856, nahm danach seinen Abschied, ging zurück auf sein ererbtes Gut Jasnaja Poljana, wo er auch als Sprössling einer Familie des russischen Hochadels geboren worden war, errichtete dort eine Schule für die Kinder seiner Leibeigenen (insgesamt gab es vier solcher Schulversuche auf seinem Gut), unternahm zwei Europareisen, machte die persönliche Bekanntschaft mit Proudhon und sich einen Namen als großer Schriftsteller, beteiligte sich an der sogenannten Bauernemanzipation (Aufhebung der Leibeigenschaft), führte eine ziemlich unglückliche Ehe, wandte sich religiösen Themen zu, legte sich mit der orthodoxen Kirche, dem zaristischen Staat und der feudal-bourgoisen Gesellschaft, in die er hineingeboren wurde und aus welcher er auszubrechen sich bemühte, an, lehnte im Jahr 1901 den ihm zugedachten Nobelpreis ab, wurde im gleichen Jahr von der Kirche exkommuniziert (weshalb er auch auf keinem Friedhof beerdigt werden durfte), trat sehr früh gegen die Todesstrafe ein, nachdem er in Paris Augenzeuge einer Hinrichtung mit der Guillotine gewesen war. Diese Hinrichtung war für ihn derart abscheulich, dass er in einem Brief festlegte, niemals mehr irgendwo irgendeiner Regierung dienen zu wollen.

In seinen späten Lebensjahren wandte er sich, obgleich selber einmal leidenschaftlicher Jäger gewesen, gegen das Jagen von Wild und das Schlachten von Tieren und sprach sich für ausschließliche vegetarische Ernährung aus. Seinen ganzen Besitz einschließlich seiner Werke wollte er testamentarisch dem russischen Volk vermachen, was jedoch vom Notar unter Hinweis auf die vom Gesetz her nicht geschaffene Möglichkeit, sein Eigentum der Allgemeinheit zu überschreiben, unterbunden wurde.

Tolstoi galt nicht nur als antiautoritärer Pädagoge, herausragender Schriftsteller und schließlich als Prediger eines nichtkirchengebunden, auf der ratio begründeten Christentums und der absoluten Gewaltfreiheit, sondern - vor allem seit mindestens der letzten zwanzig Jahre seines Lebens - auch als Anarchist, obgleich er sich selber nie als einen solchen bezeichnete. Zwar korrespondierte er sehr eifrig mit Kropotkin (den er nie persönlich kennengelernt hat), hielt aber ansonsten Distanz zur anarchistischen Bewegung, weil diese mehrheitlich seine grundsätzliche Gewaltfreiheit nicht teilte.

Tolstois Anarchismus ist recht einfach festzumachen: Er orientierte sich aufgrund seiner seit 1879 einsetzenden Beschäftigung mit religiösen Fragen an christlichen Werten, vornehmlich an der Bergpredigt des neutestamentlichen Matthäusevangeliums (Mt 5-7), das etwa 40 bis 50 Jahre nach Jesu Tod niedergeschrieben wurde. Somit wäre also fraglich, ob dieses Evangelium die genannte Predigt auch wortgetreu wiedergegeben hat. Darüber möge aber die Theologenzunft ihr Gezänk austragen. Tolstoi jedenfalls war das nebensächlich; er orientierte sich ausschließlich am Bibeltext und machte dabei die allen kirchenchristlichen Dogmatiken zuwiderlaufende Entdeckung, dass der Text nicht in ein Jenseitiges nach dem Tod verweist, sondern eine Erlösung (man kann auch sagen: Befreiung) der Menschheit in der Jetztzeit verheißt. Dort steht nämlich nicht "Selig werden diejenigen sein, welche...", sondern "Selig sind diejenigen, welche...". Verständlicher wird der Text als sehr frühes befreiungstheologisches Dokument, wenn anstelle der Vokabel "selig" ein "wohl dem" gesetzt wird (was der griechische Urtext als Übersetzungsmöglichkeit durchaus zulässt). Aus dieser Bergrede, die als Kern christlicher Lehre gilt, leitete Tolstoi dementsprechend ein "Reich Gottes auf Erden" als eine Menschheitsgesellschaft ab, in welcher es keinerlei Privateigentum (das Tolstoi ähnlich wie Proudhon als ein Grundübel ansah), sondern nur noch gemeinschaftliches Eigentum geben solle. Denn die Reichtümer der Erde seien für alle, und nicht nur für einige wenige Privilegierte geschaffen. Diese Ansichten über die Reichtümer der Erde waren zu Tolstois Zeiten keineswegs neu; sie finden sich schon bei einigen sogenannten Kirchenvätern des 4. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung (z. B. Basilius von Caesarea, Johannes Chrysostomos von Antiochia). Für Tolstoi war mit seiner "Reich-Gottes"-Vorstellung ein Weg verbunden, der den Menschen aus Tyrannei, Versklavung, Unterdrückung und Herrschaft führt. Dieses "Reich Gottes auf Erden", dem menschliche Herrschaft fremd sein soll, kennt somit auch keine Kriege und sonstige Gewalt. In seinem religionskritischen Traktat "Das Reich Gottes ist in Euch!" (angelehnt an ein fast gleichlautendes, angebliches Jesuswort aus dem Lukasevangelium [Lk 17, 21]) entwickelte er seine religiös-politischen Grundsätze: Religion ist eine Sache der ratio, aus der das Gesetz der Liebe und der gegenseitigen Hilfe folgt. Und diese kann nur auf der Basis der strikten Gewaltlosigkeit erfolgen.Statt auf eine in seinen Augen gewaltsame Revolution setzte Tolstoi auf ein Streben nach individueller Vervollkommnung.

Nun ist es keineswegs so, dass Tolstoi als einziger Revolutionär in der Geschichte sich auf christliche Inhalte bezieht. Auch Proudhon tat dies eine Zeitlang, bei Bakunin finden sich in seinen Frühschriften hie und da gleichfalls derlei Bezugnahmen; bei den Frühsozialisten finden wir sie allenthalben, besonders im 1845 erschienenen "Evangelium des armen Sünders" des Schuhmachers Wilhelm Weitling. Aber am konsequentesten waren sie in Tolstois sozialer Utopie eingebunden. Im Christentum erkannte Tolstoi einen antistaatlichen Wesenszug. Von dieser Warte aus sprach er dem Staat, gleichgültig in welcher Form er auch immer existiert, jede Daseinsberechtigung ab. Gleiches galt für ihn auch den staatlichen (und kirchlichen) Institutionen, die Schutzfunktionen und soziale Einrichtungen für ihre Bevölkerung bieten (sollen); denn in der von Tolstoi gedachten Gesellschaft bedarf es solcherlei nicht, weil sich dies alles auf der Grundlage von Gewaltfreiheit, Nächstenliebe, gegenseitiger Hilfe und Selbstbestimmung von selber regeln werde.

Tolstois christlich geprägter Anarchismus darf wohl als eine Sonderform gelten; denn der Anarchismus im allgemeinen erkennt keinerlei Herrschaft an, auch keine göttliche. Und gerade Tolstoi unterwarf sich "dem Gesetz Gottes", erkannte also eine über ihm stehende Macht an. Dennoch ist seine, wenn auch christlich motivierte Idee einer von jeglicher menschlichen Herrschaft freien Gesellschaft durchaus anarchistisch zu nennen. Und sie tat auch ihre Wirkung:

Noch in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens entstanden - nicht nur in Russland! - ganze Kolonien von Tolstoianern (die jedoch im Zarenreich massiv verfolgt wurden, während Tolstoi selber, wohl wegen seines Weltrufes, auf Veranlassung des Zaren trotz aller sonstigen Repression tunlichst in Ruhe gelassen wurde). Nach dem Ersten Weltkrieg und in den 1920er Jahren fanden Tolstois freiheitliche Ideen verstärkt Eingang in die im Jahr 1900 im mitteleuropäischen Raum entstandene Bewegung religiöser Sozialisten. Selbst Erich Mühsam berief sich 1913, drei Jahre nach Tolstois Tod, in seiner Zeitschrift "Kain" auf den "Anarchisten Tolstoi", als er seine - damalige - Gewaltlosigkeit vor Genossen rechtfertigte.

Originaltext: http://fda-ifa.org/nachrichten/tolstois-christlicher-anarchismus-zum-100-todestag-leo-tolstoi


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