Max Nettlau - Noch ein Wort über das Rätesystem

Malatesta (Errico Malatesta, italienischer Anarchist, Anm.), der nun auf eine sechzigjährige Erfahrung zurückblickt, schrieb kürzlich: „ ...Vor sechzig und mehr Jahren dachten wir, daß der Anarchismus und der Kommunismus als direkte, unmittelbare Folge einer siegreichen Insurrektion ins Leben treten könnten. Es handelt sich nicht darum, sagten wir, die Anarchie und den Kommunismus eines Tages zu erreichen, sondern die soziale Revolution mit ihnen zu beginnen. Es ist nötig, sagten wir, beständig in unsern Manifesten, daß am Abend des Tages der Besiegung der Regierungskräfte jeder seine wesentlichen Bedürfnisse voll befriedigen und ohne weitere Verzögerung die Vorteile der Revolution fühlen könne. Dies war die Idee, wie etwas später Kropotkin sie annahm und popularisierte und gewissermaßen als endgültiges Programm des Anarchismus festsetzte. Unser Vertrauen, unsere zu jugendliche Verwegenheit waren die Folge mehrerer Irrtümer...."

Als solche bespricht Malatesta die Überflußillusion, den Glauben an die Fähigkeit des Volks sich spontan zu organisieren und selbst für seine Interessen zu sorgen, ferner den Glauben an die unbegrenzte Ausdehnungsfähigkeit der Propaganda. In letzterer Hinsicht bemerkt er, daß "...wir uns überzeugen mußten, daß die Masse nicht die Tugenden besaß, die wir ihr zuschrieben. Ein Teil derselben, in gewissen Gegenden die große Mehrheit, vom Elend und der Religion verdummt, war blindes und unbewußtes Werkzeug der Unterdrücker gegen sich selbst und die gegen die Unterdrückung rebellierenden. Und der andere Teil, mehr entwickelt, von seinem Milieu mehr begünstigt, unserer Propaganda zugänglicher, hatte im allgemeinen weder geistige Unabhängigkeit noch den glühenden Wunsch nach Freiheit. An das Gehorchen gewöhnt, suchte er auch in seinen Bestrebungen und revolutionären Bemühungen geführt, geleitet, kommandiert zu werden, und zu eigener Initiative unfähig. Statt sich der Mühe und dem Risiko freien Denkens und Handelns zu unterziehen, wartete er eher darauf, daß die Führer ihm sagten was zu tun sei, und blieb untätig oder wurde verraten, wenn die Führer indolent oder unfähig oder Verräter waren. Gewiß waren unter der Masse Elemente, die fähig waren, gute Anarchisten zu werden und es war Aufgabe der Propaganda, sie zu entdecken und auszubilden; die Propaganda hatte aber doch nicht die Leistungsfähigkeit, die wir, durch die ersten schnellen Erfolge gewiegt, ihr zutrauten. Tatsachen zeigten uns, daß man in einem gegebenen ökonomischen, politischen und moralischen Milieu eine gewisse Anzahl, durch besondere Verhältnisse dazu disponierter Personen bekehren konnte, dann aber wurde es immer schwerer und fast unmöglich, neue Anhänger zu finden, solange ökonomische oder politische Ereignisse nicht neue Möglichkeiten boten. Wenn ein gewisser Punkt erreicht war, konnte man an Zahl nicht zunehmen, außer, wenn man das Programm milderte und fälschte, wie es die Sozialdemokraten taten, denen es gelang, bedeutende Massen zu sammeln, aber um dies zu erreichen, mußten sie aufhören, wirkliche Sozialisten zu sein...."

Ich sehe hierdurch meine Ausführungen im Septemberheft bestätigt, nach welchen die Einheitlichkeit des Proletariats als Klasse eine trügerische Fiktion ist, der grade die vorgeschrittenen Richtungen zum Opfer fallen, während die rückständigen sozialen Parteien sich diese Verhältnisse zu Nutzen machten, um riesige Organisationen zu bilden, denen nur eben der wirkliche Sozialismus fehlt und die sich noch dazu als Todfeinde desselben immer mehr betätigen. Zum Beweis für diese Behauptung genügt wohl der Hinweis auf die Sozialdemokratie im jetzigen Spanien, wo die Organisationen der autoritären Sozialisten eine immer infamere Rolle spielen, den Intentionen ihres Sekretärs, des früheren Staatsrats der Diktatur und jetzigen Arbeitsministers Largo Caballero entsprechend, der mit allen Regierungsmitteln, mit Gendarmerie und Pistoleros der Diktaturzeit und als Verbündeter der Madrider zentralistischen Elemente sich der freiheitlich-sozialistischen Arbeiterbewegung und dem politisch-sozialen Föderalismus entgegenstellt ein grenzenloser Verrat an jedem Sozialismus und teuflische Grausamkeit gegenüber den wirklich dem Hunger preisgegebenen andalusischen Landarbeitern, die von neuem niedergetreten werden. Dazu schweigt der internationale Sozialismus und feiert Feste in dem nicht minder armen Wien, wo ihm Sportbeflissene einen Festzug vorführen, während das Elend zuhause hungert. Diese beiden Taten frivolster Herzenskälte genügen wohl, zu zeigen, daß von dieser Seite nichts zu erwarten ist: es sind also allerorten wesentliche Teile des Proletariats beinahe ebenso lahmgelegt, wie wenn der schwärzeste Klerikalismus sie in seinen Krallen hätte. Daß sich daran im Fall einer Revolution etwas wesentlich ändern würde, ist nicht wahrscheinlich: zeigt doch gerade Spanien jetzt, daß dies nicht der Fall ist, und in Deutschland sah man seit 1918 ähnliches. Umwandlungen durch ein neues Milieu sind keine Verwandlungsszenen, sondern vollziehen sich langsam genug.

Malatesta schrieb nun weiter: "... Was war unter solchen Verhältnissen zu tun? Den Kampf aufgeben, skeptisch und gleichgültig zu werden oder auf die Anarchie verzichten und Anschluß an eine autoritäre Partei? Einige haben dies getan, aber die meisten von uns, die, die "das heilige Feuer" in sich hatten, wurden mehr als je von dem Wert und der Größe der Aufgabe, die die Anarchisten sich stellen, gepackt. Sie blieben überzeugt, daß das Streben nach voller Freiheit (das, was man den anarchistischen Geist nennen könnte) stets die Ursache jedes individuellen und sozialen Fortschritts war und daß dagegen alle politischen und ökonomischen Vorrechte (verschiedene Seiten ein und derselben Unterdrückung), wenn sie nicht im mehr oder weniger bewußten Anarchismus ein Hindernis finden, die Menschheit in die finsterste Barbarei zurückzuwerfen suchen. Sie sahen ein, daß die Anarchie nur graduell kommen könne im Ausmaß des Verständnisses und Wunsches der Masse nach derselben, daß sie aber nie kommen würde, wenn der Antrieb einer mehr oder weniger bewußt anarchistischen Minderheit fehlen würde, die im Sinn der Vorbereitung des nötigen Milieus vorgeht. Anarchisten zu bleiben, als Anarchisten in allen möglichen Verhältnissen zu handeln, dies blieb die von uns frei gewählte und übernommene Pflicht... ."

Hier möchte ich einige Worte Kropotkins einfügen, der in einem wenig bekannten Artikel Insurrektionen und Revolution (20. Juli 1910) bemerkte: "... Die ersten Insurrektionen einer Revolution können kein größeres Ziel haben als die Regierungsmaschine zu stören, nicht aufrechtzuerhalten, sie zu brechen, und es ist nötig so vorzugehen, um die weiteren Entwicklungen der Revolution möglich zu machen.“ Kropotkin nahm drei oder vier Jahre revolutionären Sturms als nötig an, um greif bare Resultate, einen ernsten, dauernden Wechsel in der Verteilung der ökonomischen Kräfte einer Nation zu erreichen. Er sagt ferner: "... Auf jeden Fall, wenn es nötig wäre zu warten, bis die Insurrektion mit einer kommunistischen Revolution beginnen würde, müßte man auf die Möglichkeit einer Revolution verzichten, denn dazu würde notwendig sein, daß die Mehrheit sich zur Verwirklichung eines kommunistischen Umschwungs einigt..." Kropotkin meint dagegen: "... Nur nachdem die Regierung und ihre moralischen Stützen in Verwirrung gebracht und geschwächt sind, werden die anarchistisch-kommunistischen Ideen in den Massen sich verbreiten und Gestalt annehmen. Nur dann, nach Beseitigung oder Lahmlegung der ersten Hindernisse, bietet das Leben die großen Probleme der ökonomischen Gleichheit dar; dann und nur dann, wenn die Geister durch die Ereignisse erregt sind, werfen sie sich auf die Zerstörung der alten Formen und die Einrichtung der neuen Beziehungen. Dann und nie unter ändern Verhältnissen, werden die Anarchie und der Kommunismus sich als unvermeidliche Lösungen zwingend ergeben. Dann wird die Revolution beginnen, die unsere Aspirationen vertritt, die mehr oder weniger unseren Wünschen entspricht..."

In diesem Sinn schrieb Malatesta in dem im vorigen exzerpierten Artikel von 1931: "... Mir scheint und ich glaube, daß dies jetzt die Meinung beinahe aller Anarchisten ist daß die Revolution nicht mit dem Kommunismus beginnen kann, oder es würde, wie in Rußland, ein Kloster-, Kasernen- und Zuchthauskommunismus sein, schlimmer -als der Kapitalismus selbst. Sie muß schnell das tun, was möglich ist, aber nicht mehr als dies: für den Anfang würde genügen, mit allen möglichen Mitteln die politische Autorität und die ökonomischen Vorrechte anzugreifen, die Armee und alle Polizeikörper aufzulösen, die Bevölkerung zu bewaffnen, die Nährstoffe zu Gunsten Aller zu requirieren, für die Fortdauer der Verpflegung zu sorgen und die Massen anzuregen, vor allem dazu zu handeln, ohne auf Befehle von oben zu warten. Und achtzugeben, daß nichts zerstört wird, das nicht durch etwas besseres ersetzt werden kann. Dann wird man an die Organisation des freiwilligen Kommunismus schreiten oder anderer Formen, wahrscheinlich verschiedenartiger und vielfacher des sozialen Zusammenlebens wie die durch Erfahrung aufgeklärten Arbeiter dies vorziehen werden...."

Malatesta sagt noch: "Wenn die Anarchisten allein Regierungsfunktionen würden übernehmen wollen (was sie übrigens zu tun nicht die Macht haben würden) oder, was noch schlimmer wäre, wenn sie sich mit den autoritären Parteien vereinigen würden, um Gesetze und verbindliche Vorschriften zu diktieren, würden sie nur sich selbst und die Revolution verraten...." Diese Worte sind gegen die Richtung der sogenannten russischen Plattform von 1926 gesprochen, eine vom regierenden Bolschewismus faszinierte Richtung, die sich so etwas wie einen regierenden Anarchismus erträumt, der so die Rolle des sogenannten "aufgeklärten Despotismus" des achtzehnten Jahrhunderts spielen möchte.

Aus früheren Äußerungen von Malatesta, von denen einiges in meinen älteren Beiträgen zur Internationale angeführt ist, ersehen wir, daß er nach einer Revolution der anarchistischen Minorität ein Leben auf ihre Weise, mit Anteil an den sozialen Mitteln, als nächstes Ziel zuerkennt neben der auf ihre Weise lebenden Majorität und bei Eingriffen derselben im dadurch aufgezwungenen Kampf mit derselben.

Die Ziele von Insurrektionen werden von einer Aktionspartei oder von lokalen Verhältnissen bestimmt. Einer Revolution liegt das weitverbreitete Gefühl des Verfalls eines ganzen Systems zugrunde, verbunden mit dem Vertrauen größerer Kräfte in neue, bessere Möglichkeiten, und die Aktionsentschlossenheit einiger, wenn auch zunächst kleinerer Kreise. Daher ist der Zusammenbruch eines verhaßten Systems durch dessen Diskreditierung in Aller Augen die günstigste Vorbedingung. Ferner, der autoritären Mentalität der übergroßen Mehrheit entsprechend, die Verbreitung von Hoffnungen, die in ein neues System und auf neue Männer gesetzt werden. Für die große Masse verfällt von einem gewissen Moment ab das Prestige der alten Regierung, man fürchtet sie nicht mehr und man wendet sich den neuen Mächten zu, denen, wenn sie die physischen Hindernisse zu überwinden, meist zu überrennen verstehen, für die erste Zeit wenigstens moralisch, nichts mehr im Weg liegt und alles zuzustimmen, ja zuzujubeln scheint.

Solche neuen Mächte waren in den letzten Jahrhunderten das Parlament gegen den König, der Unabhängigkeitsgedanke, die Generalstände gegen Königtum und Aristokratie, demokratische Erwartungen, das allgemeine Stimmrecht, die Republik, der Sturz des Zarismus im Namen aller russischen Volkskräfte und Bewegungsparteien, der Sturz des spanischen Königtums im Namen ähnlicher Kräfte usw. Dazu kam zum ersten Mal die Vertreibung einer bürgerlichen Regierung durch den Unwillen einer großen Stadt im Sinn aller Bewegungselemente, die Commune von Paris, 1871, eine Insurrektion, die Form und Größe einer Revolution anzunehmen schien, diese aber doch nicht wurde und daran scheiterte. Dann die russische sozialistische Sonderaktion im Herbst 1917, die als soziale Revolution erscheinen möchte, während sie ein bis jetzt erfolgreicher Staatsstreich in einer Revolutionsperiode war, deren Strom sie jäh unterbrach und zu kanalisieren sucht.

Den meisten Revolutionen stehen erbitterte konterrevolutionäre Kräfte gegenüber, und während die neuen Machthaber sonst nur den Wunsch haben, daß jede Aktion außer ihrer eigenen unterbleibt, sind sie manchmal gezwungen, sich mit volksmäßigen direkten Organisationen abzufinden; so Cromwell mit den Soldatenräten in der Parlamentsarmee, die jakobinischen Diktatoren mit den Sektionen. Daher bekämpfen sie diese Faktoren aufs äußerste, sobald sie können, wie in Frankreich schon bald nach der Februarrevolution 1848, als jeder volksmäßige Einfluß sukzessive lahmgelegt oder vernichtet wurde, und wir sehen, wie sich dies in Rußland seit dem Sommer 1917, in Mitteleuropa seit Ende 1918, in Spanien jetzt vor unsern Augen blutig wiederholte. Diese Faktoren, die nicht Revolution und nicht Regierung sind und ihrer Ideologie nach das seine Angelegenheiten selbst besorgende Volk sind, befanden sich immer in einer Ungewissen Zwischenlage, woraus man entweder schließen kann, daß sie erst im Anfang ihrer Entwicklung stehen oder, daß sie keine rechte Entwicklungsfähigkeit besitzen. Sie traten in Rußland seit Oktober 1905 zuerst in Erscheinung, besonders als der Petersburger Arbeiterrat, und wurden damals von der die Revolution im einzelnen untergrabenden Regierung des Grafen Witte bald zurückgedrängt und auch von der ihrerseits sich als Hauptmacht fühlenden Duma nicht gern gesehen, aber sie hinterließen eine gute Erinnerung, beinahe eine große Legende, die von der bolschewistischen Richtung sorgfältig gepflegt wurde. Daher der ungeheure Aufschwung dieser Idee im Jahr 1917, Indem sie den die Macht anstrebenden Bolschewisten ein mächtiges Gegengewicht gegen den Parlamentarismus bot.

Leider kann ich dieser Entwicklung seit 1905 nicht nach den Quellen folgen. Ich weiß nur, daß in den trüben, unaufrichtigen Vorkriegsjahren viele Fragen nicht vollständig besprochen wurden und vieles verschwiegen wurde, so daß die öffentliche Meinung ungewarnt blieb. So posierten damals die Nationalisten als Märtyrer und sagten natürlich nicht, welchen ökonomischen und kulturellen Terrorismus sie selbst in Nationalstaaten betreiben würden. Die Bolschewisten sagten nicht, daß sie jeden andern Sozialismus niedertreten würden und hielten sich Europa gegenüber ganz im Hintergrund, wobei ihnen die von dem internationalen Marxistentum dem eitlen Treiben Plechanoffs und der übrigen Menschewisten gespendete Förderung zustatten kam. Die Räteidee als Ausdruck des Arbeiterwillens, als Mittel, die Arbeiter direkt politisch und sozial tätig zu machen, wurde begrüßt und erschien als eine Art Ausdehnung des Syndikalismus auf das politische und das ganze gesellschaftliche Gebiet: dies war den Syndikalisten ebenso symphatisch. Aber in erster Reihe stand diese Frage außerhalb der russischen Parteipolemik für niemand.

Es gelang Trotzki, sich im Petersburger Arbeiterrat von 1905 geltend zu machen, wie es Lenin und Stalin gelang, auf die Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte das straffste Regierungssystem ohne einen wesentlichen Kontrollfaktor zu stützen, das die neue Geschichte neben dem italienischen faschistischen Staat kennt. Ebenso dominierte Cromwell ungeachtet der Soldatenräte und Robespierre ungeachtet der Sektionen. Historisch hat also selbst der Parlamentarismus der Tyrannei manchmal Einhalt geboten, und der Konvent stürzte Robespierre, während der Sovietismus diese Kraft bis jetzt nicht gezeigt hat und vielmehr grade die Perioden persönlicher Diktatur mit Räteerscheinungen verknüpft sind: Cromwell, Robespierre, Lenin-Stalin. Ob die zahllosen kleinen Soviets weniger Unabhängigkeitskraft, Talent, Geschick usw. besitzen, als größere offene Parlamente zeigen würden, oder welches sonst die Ursachen sein mögen - hier kommt die Tatsache selbst allein in Betracht, daß von ihnen nicht Freiheit, Autonomie, lokale Blüte ausgingen, sondern das intensivste, strengste Regierungssystem. Daher sind sie das Ideal der autoritären kommunistischen Parteien überall, die darauf rechnen, daß ihre Diktatur durch das Rätesystem gesichert würde, wie in Rußland. Begreiflicherweise stehen dem die Sozialdemokraten mißtrauisch gegenüber und stützen sich nun erst recht auf den Parlamentarismus und den Staat.

So lebt also die Räteidee unter der Wolke ihrer äußersten Begünstigung durch die kommunistischen Parteien und trägt indirekt dazu bei, daß die sozialdemokratischen Parteien sich an Parlament und Staat noch fester anschließen. Sind das nicht Familienfragen unter Autoritären, die beide, die einen durch den politischen Wähler, die andere durch den Sovietwähler ihre Macht begründet haben und weiterhin gesichert und ausgedehnt sehen möchten, und die unvermeidlich bittere Konkurrenten sind, da schließlich der wählende Arbeiter in beiden Fällen dieselbe Person ist? Als Produzierender und zu seiner Verteidigung als Gewerkschaftsmitglied ist aber derselbe Arbeiter direkter Teilnehmer der gegenwärtigen und künftigen Gesellschaft im Sinn der wirklich sozialistischen Ideen des Syndikalismus und des Anarchismus, die gleicherweise die Ziele, Mittel und Wege des autoritären Sozialismus ablehnen. Warum sollten sie sich also mit einer Einrichtung beschäftigen, durch die der Kommunismus zur Diktatur gelangte und weiter zu gelangen sucht? Ebenso wenig würden sie sich mit dem allgemeinen Wahlrecht beschäftigen, durch das die Sozialdemokratie ihre Machtstellungen erlangte.

Ein weiteres Mittel ist die Volksabstimmung. Als Plebiszit kam sie den Bonarpartes zu gute, den Vorbildern des Bolschewismus, die die Hand auf Frankreich legten, wie jener auf Rußland und Mussolini auf Italien. Als Ersatz eines unfähigen und korrupten Parlamentarismus wurde sie von den aufrichtigsten Sozialisten und Demokraten als direkte Gesetzgebung durch das Volk empfohlen, von Considerant, Rittinghausen, Ledru, Rollin und von einigen Anarchisten als Übergangszustand anerkannt, von Joseph Dejacque und Cesar De Paepe. Als Referendum ist sie in der Schweiz und anderswo längst üblich und ist nicht besser und nicht schlechter als irgend eine andere Art der Feststellung von Meinungen und Willensäußerungen.

Auf ähnliche Weise kann ein Interesse für die proportionelle Vertretung bestehen, die Minoritäten in gewissem Grade entgegenkommt. Auch für föderalistische Einrichtungen gegenüber zentralistischen, für Steuerreformen, Bodenreform, kurz für jede etwas verbesserte Gesellschaftseinrichtung gegenüber rückständigen, handgreiflich fehlerhaften Formen derselben. Ich verwerfe ein Interesse für all diese Fragen ebensowenig, wie ich mir eine Kritik darüber erlauben würde, daß jemand als Syndikalist im Arbeitskampf nicht etwa nur direkte Aktion betreibt, sondern, wenn erforderlich und möglich, auch bestehende soziale Einrichtungen benutzt usw., und logischerweise müßte er sogar, um unter günstigeren Verhältnissen zu kämpfen, an allen sozialen und politischen Verbesserungen volles Interesse nehmen. Ich begrüße im Gegenteil jedes solche Interesse, das uns in Berührung mit lebenden Verhältnissen bringt und den Gesichtskreis erweitert und vor Einseitigkeit bewahrt. Vorausgesetzt natürlich, daß aus solchem Interesse nicht das Nachjagen hinter, das Aufgehen in neuen Illusionen wird, eine Verschiebung unserer ganzen Stellung. Unsere Zahl ist zu gering, als daß wir nicht alle Kraft im unmittelbaren Sinn unsrer Ideen verwenden müßten, um überhaupt im heutigen Getümmel geistig und moralisch zur Geltung zu kommen. Deshalb wünschte ich, daß wir unsere Anziehungskraft erweitern, neue Kräfte an uns heranziehen, und ich war bekümmert, zu sehen, daß manche sich selbst aufgeben, einem Phantom nachjagend, indem sie: alle Macht den Räten! rufen den Lockruf der Kommunisten, unserer äußersten Feinde in ihrer Herzensgüte zum eigenen Werberuf machend. Sie meinen es unendlich gut, aber wie ich allen in der Diskussion hierüber gemachten Bemerkungen entnehme, sind sie von den verschiedenartigsten Illusionen befangen.

Wenn aus der Unmöglichkeit der sofortigen Verwirklichung des kommunistischen Anarchismus die Notwendigkeit eines Zwischenzustands gefolgert wird, sollte doch erst die wirkliche Stellungnahme des Anarchismus betrachtet werden, wie ich sie im obigen mit den Worten von Malatesta und Kropotkin angeführt habe, deren Sinn ist, daß man sich anarchistisch betätigen müsse, nach der Revolution, sich freien Spielraum verschaffend und zugleich alle allgemein fortschrittlichen Schritte fördernd, bis dann, gewiß um den Preis neuer Kämpfe, diese Ideen weitere Verbreitung finden und durchdringen.

Dies müßten auch die Anarchosyndikalisten im Sinn ihrer Ideen tun, voll und ganz, wozu dann, wenn je, Zeit und Gelegenheit wäre und die Mittel erreicht werden müßten. Sich grade dann in einen allgemeinen formellen Rahmen einfügen, wäre doch das Gegenteil von allem, das zu tun wäre. Ein solcher Rahmen mag einmal in einigen Ländern entstehen, wozu die legalen Betriebseinrichtungen, die kommunistischen Gruppen in den Betrieben und wohl auch die Sozialdemokraten, wenn sie glauben, das ganze noch kontrollieren zu können, die Hand bieten werden und die vorhandenen Syndikalisten ebenso. Dann werden dieselben Leute unter sich sein, wie seit Jahren vorher, und der alte Kampf zwischen ihnen würde weitergehen. Es ist mir unmöglich, zu verstehen, daß die "fünf Millionen Sozialdemokraten" "in diesem Augeblick eben keine "Sozialdemokraten“  mehr" sind (Internationale, IV, S. 195). Wenn millionenstarke freiheitlich-revolutionäre Volkskräfte die Sozialdemokraten und die Kommunisten gründlich in Schach halten, dann fallen diese als Machtfaktoren weg, dann wären aber auch die Kräfte zu syndikalistischer und anarchistischer direkter Verwirklichung vorhanden -  wenn nicht, nicht. In letzterem Fall sind alle Gegenkräfte vorhanden, bemächtigen sich die einen oder die ändern des Staats- und Gewaltapparats und die Räte fügen sich in ihre Systeme ein oder springen über die Klinge. Diese Kämpfe um die Macht stehen in erster Linie bevor, wenn nicht, wie ich anregte, eine Verständigung vorher den Minoritäten volles Recht sichert, und der von Syndikalisten jetzt ausgesprochene gute Wille, in den Räten mitzuarbeiten, ändert an dieser Lage garnichts. Nur würden die Syndikalisten durch Empfehlung und Anerkennung eines auf Majoritätsherrschaft Wahl der Räte ruhenden Systems ihre Aktionsfreiheit preisgeben oder sie müßten nach der allerersten gegen sie gerichteten Abstimmung austreten, und um dieser ohnmächtigen Geste willen lohnt es sich nicht, für unabsehbare Zeit ein System anzupreisen, das wie jede auf einer Zahlenmajorität beruhende Einrichtung nur der konservativen Masse, unsern Gegnern, zugutekommen könnte.

Wenn einmal ein solcher Rahmen vorhanden sein sollte, wird er unsern Genossen unter Umständen, und solange es geht, ein Kampfplatz sein, und sie werden genug zu tun haben, gegen die Macht dieser neuen beratenden Versammlungen, einer Vervielfältigung der Parlamente oder die Fiktion einer Delegierung aufrechthaltenden Werkzeugs einer Diktatur, zu protestieren: hielte man ihnen dann entgegen, daß sie ja selbst gerufen haben: alle Macht den Räten, so wären sie in einer wirklich peinlichen Lage. Gegen die Worte "alle Macht" hat sich übrigens Widerspruch erhoben. Für mich würde der gesunde Kern der Frage lauten: alle Achtung vor guten sachlichen Ratschlägen! Solche können in der Betriebsversammlung, im Parlament, in der Werkstatt, in der Studierstube, überall sich ergeben, und verdienen, immer beachtet zu werden. Es ist immer erfreulich, wenn Menschen neue Wege finden, sich unbefangen zu verständigen suchen. Die Schulgemeinde, die Betriebsversammlung sind solche den heutigen Verhältnissen entwachsende neue Sammelpunkte, nachdem die uralte private Intimität der Arbeitsgenossen, Nachbarkinder usw. durch die heutigen weitläufigeren, die Menschen trennenden Verhältnisse so vermindert ist. Heute findet man sehr leicht neue Formen und Rahmen, über denen man die Vertiefung vergisst. Das eigene Studium steht manchem Kind hinter der Betätigung in allgemeinen Jugendangelegenheiten zurück, und so ist es auch mit dem Leben in den Betrieben. Man muß diese Dinge in den wahren Größenverhältnissen betrachten und vor allem nicht glauben, in ihnen kürzere und bequemere Wege zu finden: nein, in solchen Fällen wird man meist nur dürftiger und ärmer. Unsere Sache ist eine sehr schwere, weil wir wirklich für den menschlichen Fortschritt arbeiten wollen. Nichts ist leichter, bequemer, materiell verlockender als langsamer zu gehen, zahlreicher zu werden und so zur konservativen Masse zurückzugleiten - das wollen wir aber nicht.

Eine Überfülle von Erscheinungen zieht täglich an uns vorüber. Die wachsende Arbeitslosigkeit, die durch Sparmaßregeln der Staaten zu unerträglichen Leiden führt, daneben die Produktenüberfülle, der Zerstörungspläne des Unverkäuflichen und lokales agrarisches Elend entspringen (Weizen, Zucker, Baumwolle, Kautschuk, Petroleum usw.), die russischen und deutschen Zwangsmassenexporte (Dumping), die den Export anderer Länder bedrohende lokale Industrialisierung, der Warenboykott und die mangelnde Kaufkraft (Rußland, Indien, China usw.), die allgemeine Überschuldung, die das Bankwesen zu sprengen droht, die fortschreitende Militarisierung rivalisierender Ländergruppen mit der Aussicht auf den Luftbomben- und Giftgaskrieg, wachsende nationale Animositäten, steigende und manchmal sogar fallende Diktatoren (Argentinien, Portugal, Cuba, Chile zeigen alle Stadien dieser Entwicklungen), blutige Streiks (Andalusien, und sogar in Schweden) - all das scheinen Wunden zu sein, die nicht mehr heilen können und immer wieder aufbrechen. Dabei die geistige Blutleere des Sozialismus als tatenloser Sozialdemokratismus und Diktaturkommunismus und die vielfache idealistische Versonnenheit des freiheitlichen Sozialismus, der jetzt mit dem Talent eines Proudhon und Reclus, eines Bakunin und Tolstoi zur Welt sprechen sollte! Diese und ähnliche Männer, deren Persönlichkeit mit ihnen verschwand, wären in ihren Kenntnissen, Scharfsinn und in ihrer Kritik durch die in vielen heute ruhenden Kräfte und Erfahrungen doch wohl endlich wirksam zu ersetzen, wenn nicht zu viele glaubten, auf den Lorbeeren jener ausruhen zu können, und neue Forschung kaum mehr für nötig hielten. Die eingangs angeführten Stellen zeigen, wie Malatesta frühere Irrtümer zugibt, wie Kropotkin 1910 in manchem reifer dachte als 25 bis 30 Jahre früher.

Wie viel hätten wir also im Sinn unserer Ideen zu sagen, wenn wir auch nur zu den eben erwähnten heutigen brennenden Fragen durch geistige Leistungen, welche die Menschheit beachten müßte, Stellung nehmen würden! Dies durch ein: alle Macht den Räten! scheinbar großzügig von uns abzuwälzen, ist eine Abdankung, und dies hat unsere große Sache nicht nötig. Ich weiß, daß die Vertreter dieser Formel das beste zu tun glauben, aber mich haben ihre Argumente nicht überzeugt. Die Zeit fordert immer mehr, voll und ganz für die Ideen einzutreten, und rein formelle Zufallsorganisationen, die immer das Recht haben, mit Diktaturen nahe verknüpft zu sein, sind nicht eine besonders günstige Stelle zur Geltendmachung unserer Ideen, und noch weniger können wir ihnen noch sonst irgendwelchen Organen "alle Macht" zuerkennen.

Aus: Texte zur Theorie und Praxis des Anarchismus und Syndikalismus, Band 9

Aufsätze aus:
Die Internationale - Zeitschrift für die revolutionäre Arbeiterbewegung, Gesellschaftskritik und sozialistischen Neuaufbau

Herausgegeben von der FREIEN ARBEITER-UNION DEUTSCHLAND / ANARCHO-SYNDIKALISTEN (FAUD/AS) Nr.12 u.13-Jg.4-1931

Originaltext: http://userpage.fu-berlin.de/~twokmi/texte/Raetesystem/Nettlau_Noch_ein_Wort_ueber_das_Raetesystem.htm (kleine Veränderungen)


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