Max Nettlau - Der Anarchismus in Deutschland

Nachstehend veröffentlichen wir aus dem Buche Max Nettlaus: "Die Anarchie im Laufe der Zeiten" zwei Kapitel. Das erste Kapitel lautet: "Die anarchistische Idee in Deutschland seit Max Stirner und Eugen Dühring und Gustav Landauer". Das zweite Kapitel führt bis zum deutschen Syndikalismus der Nachkriegszeit. Da uns die deutsche Ausgabe des Buches nicht erreichbar ist, bringen wir Übersetzungen aus der in der "Biblioteca Universal de Estudios Sociales" unter dem Titel "La Anarquia a traves de los tiempos" in Barcelona 1935 erschienen Ausgabe.

I.

Unaufhaltsam bahnte sich das liberale Gedankengut des 18. Jahrhunderts seinen Weg in den grossen Landern während der autoritären Epoche, die 1789 begann. Die napoleonischen Siege sowohl in Deutschland wie in Italien bildeten die Grundlage des Nationalismus, dessen kulturelle Form die Wendung zur nationalen Vergangenheit, dessen wirtschaftliche Form die gebietlichen Einheiten, der vereinheitlichte nationale Staat, darstellen. Daher auch die nationale Philosophie. Durch den Staatsgedanken Napoleons inspiriert, wünschen Philosophen mit einer gewissen logischen Denkkraft wie Hegel auch in ihrem eigenen Lande einen ähnlichen allmächtigen Staatsapparat. Die nationalen Kriege der anderen betrachtend, schreibt Fichte, vorher alles andere als ein Bewunderer des Staates, "Der geschlossene Handelsstaat" (1800) und hält seine patriotischen "Reden an die deutsche Nation". Die romantischen Schriftsteller und Poeten hatten sich früher zu anti-nationalen und freiheitlichen Ideen auf den verschiedensten Gebieten bekannt. Die Geschehnisse machten aus ihnen extreme Nationalisten und Reaktionäre. Die internationalen Beziehungen beginnen in kleinen Ausmassen durch Reisen von Mitgliedern geheimer liberaler Verbände, durch Verbindungen zwischen ihnen, Italienern und Schweizern in der Schweiz. Zehn Jahre später beeinflusst der Saint-Simonismus eine grosse Gruppe junger deutscher Schriftsteller. Mit republikanischen und sozialistischen Ideen sympathierende Deutsche lassen sich nach 1830 häufig in Paris nieder, unter ihnen fortschrittliche Schriftsteller wie Heine und Börne, Flüchtlinge und Handwerker. Aber es handelt sich hier alles in allem um Ideengänge der unitaristischen (zentralistischen) Demokratie. Föderalistische Meinungen — der Flüchtling Georg Kombst hat solche vertreten — waren sehr selten.

Diese Schwankungen zwischen dem schönen kosmopolitischen Internationalismus und der nicht minder schön erscheinenden höchsten wirtschaftlich-kulturellen nationalen und lokalen Blüte waren der bezeichnendste Ausdruck der grausamen Kämpfe, welche Europa in dieser Zeit noch zerrissen. Da die Garantien des Internationalismus fehlen und seine Verwirklichung schwierig erscheint, sucht man, anstatt dieses grosse Ziel zu verfolgen, Zuflucht in der Isolierung, in der bewaffneten Nation. Um sich zu schützen, will jede Nation die stärkste sein und die Entwicklung der anderen Völker aufhalten. Die Lösung liegt nicht im unabhängigen Staat; sie kann nur in der Föderation liegen, die den grossen Rahmen für alle darstellt, jedem seine eigene unabhängige Entwicklung gestattend. Von hier aus schreitet man zur freien Gruppe und zu den vielseitigen Beziehungen untereinander, die alle Tätigkeiten umfassen, die die Menschen in einer Atmosphäre gesicherten Friedens auf vielen Gebieten des sozialen Lebens verrichten. Die Summe aller Tätigkeiten dieser freien Vereinigung, die Ausmerzung aller Hindernisse — ist die Anarchie. Trotzdem entsprang um das Jahr 1840 aus zwei Persönlichkeiten ein ursprünglicher freiheitlicher Ideengang. Es handelt sich um die Brüder Bruno und Edgar Bauer in Berlin, den freien Zirkel, welchen Marx 1837 besuchte, sich bis zum endgültigen Bruch Ende 1842 eng mit Bruno Bauer verbindend.

Max Stirner war ein Pfeiler dieses Zirkels, welcher die hegelianische Philosophie kritisch zu betrachten begann, eine einschneidende Kritik an den Ursprüngen des Christentums vornahm, der von der Kritik aller Zeiten zur Kritik des ihn umgebenden Staatsgedankens und des Bürgertums gelangte. Aus der Widerspiegelung der geistigen und sozialen Bewegungen auf allen Gebieten formte sich in den hervorragendsten Mitgliedern, den Brüdern Bauer, Max Stirner, Ludwig Buhl und anderen ein kritischer Nihilismus, die Entthronung aller errichteten und anerkannten Autoritäten. Engeta beschreibt im Sommer 1842 in einem meisterhaft verfassten Gedicht dieses Milieu, dem er sympathisierend gegenüberstand und kennzeichnete Max Stirner treffend, erzählend, dass, während die anderen ausriefen: "Nieder mit den Königen", Stirner sagte: "Nieder mit den Gesetzen". Etwa Ende November brach Marx jäh mit dieser Gruppe, die man "Die Freien von Berlin nannte.

Von dieser Gruppe sind uns als anarchistische Schriften vor allem die Edgar Bauers erhalten, wie "Der Streit der Kritik mit Kirche und Staat" (Charlottenburg, 1843, im September beschlagnahmt und in Bern 1844 neugedruckt). Eine projektierte Zeitung (Ankündigung vom 12. Juli 1843) wurde am Erscheinen gehindert, ihre Mitarbeiter vereinigten jedoch Artikel in Bänden (der Zensur nicht unterworfen), wie z.B. die Berliner Monatsschrift (Mannheim 1844), die erste anarchistische Sammlung in deutscher Sprache. Max Stirner war einer der Mitarbeiter und Buhl organisierte die Herausgabe.

Wahrscheinlich hat Max Stirner während dieser letzten Jahre sein berühmtes Buch "Der Einzige und sein Eigentum" geschrieben, welches 1844 in Leizpig erschien. Später hat man verstreute Schriften Stirners zusammengestellt, vor allem in "Kleinere Schriften". Sammlung von J. H. Mackay (1898; ergänzte Auflage erschienen 1914). Jedoch haben Prof. Gustav Mayer und andere mehr verstreute Artikel aufgefunden, und die Nachforschungen sind noch nicht beendet. Jedoch enthält dieses grosse Werk alles, um sich eine genaue Vorstellung seiner Ideen zu formen.

Ich habe Auszüge veröffentlicht, um meine Meinung zu begründen, dass Max Stirner im Grunde genommen Sozialist war, aus vollem Herzen die Soziale Revolution wünschend. Aber als Anarchist bin ich der Meinung, dass sein sogenannter "Egoismus" die ihm notwendig erscheinende Verteidigung gegen den autoritären Sozialismus ist, die Verteidigung gegen alle autoritären Ideen, welche die Autoritären in den Soziaiismus mengen. Sein Egoismus ist die individuelle Initiative: Sein "Verein", seine freie Gruppe, welche ein Ziel Verwirklicht, welche sich aber nicht in Organisation, in Gesellschaft verwandelt. Seine Methode ist vorzüglich der Ungehorsam, die individuelle und kollektive Negierung der Autorität und eine freiwillige Gruppierung gemäss den jeweiligen Erfordernissen der Situation. Es ist das freie Leben anstelle des Lebens, das durch die widerrechtlichen Besitzergreifer der Autorität und das Eigentum, kontrolliert und geregelt wird.

Wenn man Stirner als Sozialist liest glaube ich, dass man ihn auf keine andere Art auslegen kann. Einen nicht oder gar antisozialistischen Individualisten in ihm zu suchen würde bedeuten, ohne stichhaltigen Grund den Wert zahlreicher Stellen herabzumindern. Diese überindividualistischen Auslegungen sind schon alten Datums. Man braucht nur die Veröffentlichungen Doktor Karl Schmidts, Anhalt, zu "Das Verstandestum und das Individuum" und "Liebesbriefe ohne Liebe" zu lesen, die von Stirner selbst mit überlegener Geringschätzung behandelt worden sind. Er würde nicht anders über vieles denken, was man mit seiner scheinbaren Wiederentdeckung über ihn geschrieben hat. Denn er wurde niemals aus dem Auge verloren und sein Buch erlebte eine zweite Auflage durch den ersten Herausgeber. Viele Daten seines Lebens wurden in der Biografie J. H. Mackays zusammengestellt.

"Kleineren Schriften", eine Menge zerstreuten oder spater aufgefundenen Materials, das gleichfalls Beachtung verdient. Es gibt von "Der Einzige und sein Eigentum" eine Ausgabe in einer sehr verbreiteten volkstümlichen Serie, welche im Jahre 1892 vertrieben wurde. Dadurch wurde das Buch von vielen deutschen Anarchisten dieser Jahre gelesen und beeindruckte einige von ihnen. Es gibt Übersetzungen in Französisch, Italienisch, Spanisch, Englisch, Schwedisch, Russisch, vielleicht auch noch in anderen Sprachen. Überall gibt es Broschüren usw.. die sich mit ihm beschäftigen, ohne meiner Meinung nach unsere Kenntnisse zu vertiefen. Man hat auch ein grosses Werk veröffentlicht, das seinerzeit unveröffentlicht blieb und Marx und Engels in einem unfruchtbaren Kampf gegen das Buch Stirners zeigt.

Die zweite Quelle der freiheitlichen Ideen in Deutichland war die Philosophie Ludwig Feuerbachs, welche dem Hegelschen Alpdrücken den Gnadenstoss gab. Diese Philosophie (die Marx auch ausführlich bekämpft hat), war zweifellos nicht anarchistisch. Aber sie stellte die Rolle des Menschen wieder her, welche im Hegelismus ertränkt und vernichtet worden war. Und zwar durch höhere, abstrakte Kräfte, welche gleichzeitig sehr reale waren (der augenblickliche Staat; der zukünftige Staat immer irgendein [...] oder irgendein Staat)

Es ist der Mensch, welcher Gott geschaffen hat, sagte Feuerbach, und dieser Gedanke gab Bakunin den endgültigen Anstoss zu seiner geistigen Befreiung; und Pi y Margall schreibt in seinem Buch "Die Reaktion und die Revolution" (1854); ... "Homo tibi deus hat ein deutscher Philosoph gesagt. Der Mensch ist für sich selbst seine Wirklichkeit, sein Recht, seine Welt, sein Gott, sein alles. Es ist die ewige Idee, welche sich vergegenständlicht und aus sich selbst heraus das Bewusstsein erwirbt; sie ist das Wesen aller Wesen, Gesetz und Gesetzgeber, Herrscher und Untertan ..."

Zusammengefasst, wenn der Mensch die Götter aus seiner Phantasie geschaffen hat, ist es nicht schwer, zu schliessen, dass es sich auch seine Philosophien geschaffen hat, dass alle geheiligten Institutionen sein Werk sind, welche er hat schaffen können und von denen er sich loslösen kann. Er wird nicht mehr der Sklave der Philosophien anderer Menschen noch seiner Institutionen und seiner Autorität sein. Er kann seinen Kopf stolz erheben und seine Angelegenheiten selbst regeln, wenn er dazu den Willen hat. In diesem Sinne war Ludwig Feuerbach ein Befreier der Geister. Lange Zeit hatten sich Menschen guten Willens ohnmächtig gefühlt gegen die Gottheiten, gegen die vergöttlichte Natur, gegen philosophische Systeme, die Anspruch auf absolute Bejahung erhoben Feuerbach zeigte ihnen in diesen Jahren um 1840, dass sie sich im Kreise ihrer eigenen Schöpfungen befanden. Sie begannen klar zu sehen und fühlten die Notwendigkeit, Hand ans Werk zu legen.

Sozialisten, deren autoritäre Auffassungen durch Proudhons Kritik erschüttert wurden, und Philosophen, deren Ansichten sich durch Feuerbach menschlicher, weitherziger entwickelten, suchten eine Synthesis, einen freiheitlichen und humanen Sozialismus, und diese Ideengänge näherten sich dem anarchistischen Kommunismus. Solche Ideale werden ausgearbeitet durch Moses Hess in den Essais "Sozialismus und Kommunismus" und "Philosophie der Tat", einer Sammlung, welche in Zürich im Jahre 1843 anstelle einer projektierten Zeitung herausgegeben wurde. Ein anderer Schriftsteller, welcher zu ähnlichen Schlussfolgerungen kam, war Carl Grün im Jahre 1844. 1843-45 fanden diese Ideen Eingang in die revolutionär-sozialistische Propaganda einiger deutscher Arbeiter in der Schweiz, vor allem Wilhelm Marrs. Die "Blätter der Gegenwart für soziales Leben" herausgegeben in Lausanne vom Dezember 1844 bis Juli 1845 waren das erste anarchistische deutsche Propagandaorgan innerhalb der Arbeiterschaft.

Diese Kräfte stiessen gegen unüberwindliche Schwierigkeiten. Die deutschen Arbeiter — es handelte sich um Flüchtlinge und solche, die auf ihrer Wanderschaft durch Europa einige Zeit im Ausland verbrachten (vor allem in der Schweiz, in Paris und in Brüssel) — betrieben nach ihrer Rückkehr in ihr Land eine geheime Propaganda, unter sich durch geheime Gesellschaften verbunden. Diese Arbeiter befanden sich unter dem Einfluss der autoritären Kommunisten wie Weitling und recht bald unter dem der Intellektuellen der absolutistischen sozialistischen Lehre wie Marx und Engels. Die anarchistische Propaganda vor allem in der romanischen Schweiz wurde durch die kantonalen Behörden vermittels Verfolgungen und Ausweisungen ausgerottet. Als sie wieder ein wenig auflebte, wie in Paris, wo Grün die Ideen Proudhons aufrecht erhielt, betrachtete es Engels als seine Pflicht, sie direkt zu bekämpfen. In gleicher Art und Weise wurde unter den Intellektuellen Hess durch Marx eingeschüchtert und bekämpft. Trotzdem er dessen Ideen nicht annahm, wurde er ein Toter für die freiheitlichen Ideen. Grün, heftig durch Marx bekämpft, beschränkte sich auf einen orthodoxen Proudhonismus und opferte so seine sich entwickelnde Persönlichkeit. Man weiss, dass Marx und sein Altardiener Engels, der, bevor er Marx kennenlernte, ein allgemeines sozialistisches Interesse hatte, alle Schriften von Godwin und Owen bis zu Max Stirner kennend, sich seit 1844 bemühten, vermittels übertriebenen unqualifizierter Polemiken sämtliche wertvollen Sozialisten ihrer Zeit verächtlich zu machen. Ihre beharrlichen Feldzüge gegen alle freiheitlichen Elemente beweisen, dass sie mit Recht den geistigen Aufschwung dieser Ideen fürchteten.

Dieser Aufschwung existierte in der Tat in den Jahren vor 1848 in den Reihen derer, welches mit den Theorien Max Stirners und Proudhons gut vertraut waren; er hob sich besonders nach der Vernichtung der Hoffnungen auf die französische und deutsche politische Revolution im Jahre 1848-49 hervor, insbesondere nach der offensichtlichen Demonstrierung der Unfähigkeit und Ohnmacht des liberalistisch-demokratischen Parlamentarismus.

In den Jahren 1849, 1850, 1851 bis zum französischen Staatstreich vom 2. Dezember, welcher die Epoche der allgemeinen Unterdrückung einweihte, gab es noch eine Zwischenzeit der zurückblickenden Kritik an den begangenen Fehlern. Sowohl in Frankreich wie in Deutschland fehlten die freiheitlichen Stimmen nicht. So ruft Carl Vogt, Wissenschaftler und Politiker, der Bakunin und Proudhon sehr gut kannte, im Dezember 1849 aus: ... "So komme denn, süsse, befreiende Anarchie und löse ab das Übel, das sich Staat nennt".

Ähnliche Worte findet 1864 Cesar de Pape: "Anarchie. Traum der Freunde der vollkommenen Freiheit, Idol der wahren Revolutionäre! ... Es komme Deine Herrschaft, Anarchie!"

In seinen Schriften "Die Kunst und die Revolution" (1849) und in "Das Kunstwerk der Zukunft" (1850) zeigt Richard Wagner vollkommenes Verständnis und eine tiefe Sympathie für die "freien Assoziationen der Zukunft". Auch er hatte Gelegenheit gehabt, 1849 aufs gründlichste die Gedankengänge Bakunins kennenzulernen. Lokal gesehen sind in diesen Jahren zu erwähnen Wilhelm Marr in Hamburg ("Anarchie oder Autorität", 1852); Professor K. R. Th. Bayrhoffer in Hessen ("Die Hornisse", Kasseler Tageszeitung); Übersetzungen von Proudhon mit denen Friedrich Mann in der "Freien Zeitung", Wiesbaden symphatisierte. Das gleiche geschah lange Zeit in der "Trierschen Zeitung" unter dem Einfluss von Grün. Eine Berliner Zeitung des Jahres 1850, "Die Abendpost" ist in dem Prinzip antistaatlich, das durch Bellegarrigue in Frankreich vertreten wird. Diese Richtung tritt für das Nichtintervenieren der gesamten Kollektivität ein, was im heutigen System einen Freibrief für die Bourgeoisie in Hinsicht auf die Ausbeutung der Massen bedeutet, ein formeller Antistaatsgedanke ohne sozialen Inhalt.

Arnold Rüge, einer der damaligen Übersetzer Proudhons, der alte Freund Bakunins, sprach sich in einer Schrift 1849 für "die Selbstregierung des Volkes" aus, welche die "Unterdrückung jeder Regierung bedeutet, eine soziale Ordnung, welche in Wirklichkeit die geordnete Anarchie ist, da sie keinerlei Regierung anerkennt, sondern nur technische Beauftragte, die freie Kommune und die Zusammenarbeit der Menschen, welche sich selbst beherrschen, welche in allem gleiche Kameraden sind."

Auch Edgar Bauer ist in seiner kleinen Zeitschrift (Hamburg 1849) auf einen gemässigten antiautoritären Standpunkt eingestellt. Diese Ideen haben auch innerhalb der so zahlreichen deutschen Presse der Flüchtlinge und Einwanderer in den Vereinigten Staaten Eingang gefunden. Marx und Engels, in das Exil zurückgewiesen, seit der zweiten Hälfte des Jahres 1849 in England, hatten wenig Einfluss innerhalb der aktiven Kräfte in Deutschland, ausgenommen Lasalle, und andere revolutionäre Kommunisten blanquistischer Richtung ebensowenig wie sie.

Die freiheitliche Idee wurde, wie die gegebenen Erklärungen zeigen, die ohne Zweifel unvollständig sind, durch eine grosse Zahl von Sammelpunkten verbreitet, wurden jedoch durch die Reaktion, seit 1852 erstickt. Sieben Jahre später wurde dieses erzwungene Schweigen gebrochen. Die nationalistischen Bewegungen führten verhängnisvollerweise zu Kriegen, durch die ehrgeizigen staatlichen Ambitionen Deutschlands, Italiens und Frankreichs angeregt. Diese Kriegsvorbereitungen zeigten die Unterstützung des Volkes und der autoritären Politiker aller Richtungen, einschliesslich Sozialisten und Demokraten, für die kommenden Kriege zu sichern. Die freiheitlichen Gedankengänge werden nicht wieder von neuem propagiert, ausgenommen Proudhon, der sich in diesen Jahren dem Patriotismus widersetzte, der bis zur Weissglut getrieben wurde. Dafür wurde er sozusagen ausserhalb des Rahmens der öffentlichen Meinung gestellt.

Marx sah diese Entwickung nüchterner als Lasalle, der sich völlig in das Fahrwasser des Nationalismus begab und äusserst ehrgeizig und jeden Tag mehr sich von Marx trennend, die ultraautoritäre Sozialdemokratie gründete, mit welcher sich 12 Jahre später die marxistischen Sozialisten nach unglaublichen Kämpfen im Jahre 1875 vereinigten. Es war dies bereits die Epoche der Internationale, gemeint ist die erste Arbeiterinternationale, die Internationale Arbeiter-Assoziation, (Asociación Internacional de los Trabajadores), gegründet 1864, in London, gespalten durch die Marxisten auf dem Kongress im Haag, 1872.

Und doch haben diese Ideen damals in Deutschland ihre Widerspiegelung gefunden in der Base der sozialen Ideen Eugen Dührings (1833-1921), "wie er sie vor allem in seinem "Cursus der National- und Sozialökonomie" im Jahre 1872 vorgeschlagen hat. Die sogenannten sozietären Ideen, auch anti-kratische, sind im Grunde genommen die des kollektivistischen Anarchismus dieser Jahre, die der Produzentengruppen, freiwillig föderiert (wirtschaftliche Kommunen). Er beharrt hauptsächlich auf dem freien Eintritt der Produzenten in diese Gruppen. Diesen Gedanken lehnten die Kollektivisten der Internationale übrigens nicht ab, da sie keine geschlossenen Kooperationen bilden wollten, welche kollektive Monopole errichten würden. Ich habe noch nicht untersuchen können, in welchem Masse Dühring eigene Ideen gehabt haben könnte, jedenfalls sind seine Ideengänge von 1872 und die, die von den Kollektivisten der Internationale seit 1868 verkündet wurden die gleichen. Die deutschen Sozialisten, die diese Ideen entgegennehmen und kennenlernen konnten, waren gücklich, einem liberalen Sozialismus ausserhalb der formelhaften, steifen Lehren Marx und Lasalles zu begegnen. Sie waren sogar begeistert, und es bildeie sich ein oppositioneller Zirkel, welchem sowohl Eduard Bernstein wie Johann Most angehörten, was Marx und Engels sehr gefährlich erschien. Letzterer leitete im Jahre (1877-78) seine bekannte Widerlegung Dührings ein, welche einer der Kampagnen mehr gegen die freiheitlichen Tendenzen im Sozialismus waren. Weder Dühring, welcher des freiheitlichen Symphatisanten, welche jedoch in ihrer Partei verblieben, entfalteten eine wahrhafte Agitation für das sozietäre anti-kratische System.

Da sehr bald, im Jahre 1876, eine direkte Agitation durch deutsche anarchistisch-kollektivistisch eingestellte Arbeiter, die aus der Schweiz kamen, begann, fielen die Ideen Dührings bis etwa 1889 in Vergessenheit. Nunmehr war es der liberale Wirtschaftler Dr. Theodor Hertzka, ein gebürtiger Ungar, welcher das Werk "Freiland. Ein soziales Zukunftsbild" (Leipzig 1890), eine Utopie, ausarbeitete. Auf der anderen Seite waren es die Berliner Jungsozialisten, unter ihnen der meistbekannte Benedikt Friedländer, Autor des gehaltvollen Werkes "Der freiheitliche Sozialismus im Gegensatz zum Staatsknechtstum der Marxisten" (Berlin (1892).

Hertzka hatte seiner Utopie eine Form gegeben, welche aus ihr gleichzeitig ein Projekt einer Experimentalkolonie in grossem Ausmasse machte. In diesen Jahren des universellen sozialistischen Interesses, zum ersten Male in fast allen Ländern ausserhalb der Arbeiterkreise durch die berühmte Utopie Edward Bellamys "Looking backward" (Rückblick aus dem Jahre 2000) verbreitet, interessierte sich ein grosses Publikum ausserordentlich für "Freiland". Man bereitete seine praktische Ausübung in dem von Hertzka geschilderten fruchtbarem Gebiete von Kenia und Kilimandscharo im östlichen Zentralafrika bevor. Durch die freie Eintrittmöglickeit in die Produzentengruppen wäre die Anziehungskraft der verschiedenen Gruppen ausgeglichen worden. So, und durch viele andere einfache und praktische Mittel, wäre die Autorität in der neuen Gemeinschaft auf ein Minimum herabgedrückt worden, d.h. auf die reinen technischen Erfordernisse, die man freiwillig anerkennt. Die Mittel fehlten nicht, und die Blüte der Pflanzungen, in diesem Teile Afrikas, einem der am meist europäisierten und reichsten, bewiesen, dass diese Kolonisationsbestrebung durchaus nicht auf einer grillenhaften Idee beruhten. Die englische Regierung verhinderte jedoch die Realisierung dieser Pläne. Die Agitation verringerte sich nunmehr und verstreue sich in verschiedenen Richtungen.

Von hier aus haben die "Siedlungen" in Deutschland, vorgeschlagen und zum Teil gegründet von Dr. Franz Oppenheimer, ihren Ursprung. Michel Flürschein verhandelte lange Zeit, um soziale Kolonien in fernen Ländern zu gründen. Dr. Wilhelm, welcher der Gruppe "Freiland", welche bereits in Afrika gelandet waren, angehörte, verteidigt immer sein damaliges Ideal. Ich glaube dass indirekt die Idee Dr. Theodor Herzls die Juden in einem unabhängigen Territorium zu vereinigen, und die heutige zionistische Siedlung in Palästina eine Widerspiegelung der Initativen Dr. Hertzka "Freiland" in der Region Kenia zu gründen, sind. Gleicherweise stammt der freiheitliche Willen einiger der Produzentengruppen im heutigen Palestina, in wohlbehüteter persönlicher Freiheit zu leben, von dem mächtigen Impuls ab, den einst "Freiland" gegeben hat.

II.

Der erste Brennpunkt des Anarchismus in deutschsprachigem Gebiet war eine Arbeiter-Vereinigung zu Bern, welche durch P. Brousse (1875-77) inspiriert wurde. 1876 unterstützte auch P. Kropotkin diese Gruppe. Seine Artikel wurden in der Zeitschrift: " Arbeiter Zeitung" (Bern. 1876-78) veröffentlicht.

Einige aktive Arbeiter propagierten dann nicht ohne Erfolg die anarchistischen Ideen in Deutschland; jedoch konnte durch die feindselige Haltung der Sozialdemokratie und den Mangel an finanziellen Mitteln dieser Propaganda kein breiter und öffentlicher Raum geschaffen werden. Vor allem arbeiteten in Deutschland propagandistisch die Kameraden Reinsdorf, E. Werner und Rinke. Durch das Sozialisten-Gesetz (Oktober 1878) wurde diese Propaganda noch mehr eingeschränkt, und die wenigen Militanten waren bald verhaftet oder sie mussten vor der Verhaftung flüchten. 1879, 1880 schrieb John Most mit glänzender Rethorik seine sozialrevolutionären Proteste in der "Freiheit", London, und obgleich er mehr dem Blanquismus zuneigte, zog er die revolutionären Kreise an.

Nur einige unvollständige Artikel von A. Reinsdorf erschienen in der "Freiheit", die das anarchistische Gedankengut ausdrückten. Als J. Most für lange Zeit ins Gefängnis musste, wurde die Herausgabe der Zeitung immer unsicherer. Ende 1882 kam J. Most aus dem Gefängnis und wanderte nach Amerika aus. Hier gab er sogleich wieder die "Freiheit" heraus, worin er einen kollektivistischen Sozialismus vertrat. Unterdessen wurden die anarchistischen Ideen durch eine weitere Zeitung: "Die Autonomie" vertreten, die den Anarchismus propagierte. Viele Übersetzungen von Arbeiten Kropotkins erschienen in ihr und brachten den Anarchismus dem deutschen Leser näher.

Unterdessen hatte sich gegen den sozialdemokratischen Reformismus eine sozialistiche Opposition entwickelt, und viele hatten das dringende Interesse, die revolutionären Ideen kennen zu lernen. Die einen von ihnen informierten sich in der "Autonomie" und in der "Freiheit", die andern glaubten in einem linken, antiparlamentarischen und revolutionären Sozialismus alles das sehen zu können, was der Anarchismus ist und sagen will. Einige wandten sich zu Dühring-Hertzka und zum kollektivistischen Anarchismus. In dieser Zeit erschien die Übersetzung der "Eroberung des Brotes" — zuerst in Kapitelfolgen, dann, 1896, in Buchform — die direkten Ideen Kropotkins.

Die Zeitschrift: "Der Sozialist" (Berlin, 1891-1899) zeigt uns die Verschiedenheit der Strömungen im Anarchismus. Sie wurde redigiert seit den ersten Monaten 1893 durch den jungen G. Landauer (1870-1919), welcher sich persönlich als anarchistischer Kollektivist und für freie Konsum-Organisation erklärte. 1893-1894 musste Landauer ins Gefängnis; die Zeitung wurde stark durch die Behörden bedrängt, und als Landauer endlich aus dem Gefängnis entlassen wurde, waren die Diskussionen über das Thema Anarchismus abgeschlossen; der freiheitliche Kommunismus war allgemein angenommen worden. Die anarchistischen Arbeiter riefen neue und eigene Organe ins Leben "Neues Leben", "Der freie Arbeiter", die mehr einen doktrinären Anarchismus vertraten.

Landauer interessierte sich später für eine intellektuelle Gemeinschaft und für eine Ethik freier Menschen (s. "Durch Absonderung zur Gemeinschaft", 1901). Er war stark beeindruckt worden durch die Ideen des kollektiven, passiven Widerstands, wie sie Etienne de la Boétie befürwortete (s. Landauers Buch: "Die Revolution"). Viel Proudhon studierend, kam er zu der Überzeugung, dass es notwendig sei, um die kapitalistische Gesellschaft in eine sozialistische zu überführen, zahlreiche freie Siedlungen und Kommunen zu bilden, die bestmöglich die Produktion und den wirtschaftlichen Kreislauf zu organisieren hätten, ohne sich kulturell von dem allgemeinen Fortschritt der Welt zu trennen. Er veröffentlichte anfangs 1907 die "Dreissig sozialistischen Thesen", die "Flugblätter des sozialistischen Bundes" (1908, 1909), die Zeitschrift: "Der Sozialist" (1909-1915), den "Aufruf zum Sozialismus" (Berlin, 1911), etc. Der Weltkrieg unterbrach seine Aktivität.

Diese propagandistische Tätigkeit Landauers hat nicht vielen praktischen Niederschlag gehabt: wohl bildeten sich viele Gruppen mit diesen Zielen, jedoch waren fast alle Anarchisten und Syndikalisten, alle Sozialdemokraten und organisierten Arbeiter Gegner dieser Auffassungen. Es ist immer leicht gewesen, Massen zu sammeln, um ein Programm, das nichts anderes fordert, als Organisationsbeitrag und parlamentarische Wahlbeteiligung zugunsten der "Partei". Aber es ist schwierig, ja sehr schwierig, eine wirklich unabhängige, individuelle Aktion durchzusetzen und zu organisieren.

Landauer glaubte, dass es unumgänglich nötig sei, als Sozialist oder als Anarchist immer wieder innerhalb des kapitalistischem Systems reale Keimzellen des Sozialismus zu entwicken und zu organisieren. Jede seiner Zeitschriften aus den Jahren 1909-1915 ist ein Aufruf zur sozialistischen Tat. Mit alten und neuen Beispielen, mit einer glänzenden Rethorik fordert Landauer das sozialistische Wollen, die sozialistische Tat. Er ist einer der seltenen Männer, die immer wieder den sozialistischen Willen in uns wachrufen zur wahren sozialistischen Initiative und Tat.

Ich habe schon oft und ausführlich über die Person und die Ideen Landauers gesprochen, sodass ich mich hier mit einem Hinweis auf das Werk: G. Landauer, "Sein Lebensgang in Briefen", Frankfurt 1929, 2 Bände, begnügen kann. Einen grossen Teil seiner Aufsätze und Broschüren sind gesammelt worden in: "Beginnen", Aufsätze zum Sozialismus (Köln, 1924), "Rechenschaft" (Berlin, 1919; Köln, 1924) usw. Schon "Anarchische Gedanken über den Anarchismus", 1901, beinhalten das wesentliche seines Zukunftwerkes. Wir finden in den Publikationen der "25 Jahre vor 1914" ein grosses, in sich geschlossenes Lehrgebäude Landauers vor uns.

Landauer glaubte an die aktiven, individuellen und kollektiven Kräfte, welche sich am Rande der kapitalistischen Gesellschaft entwickeln würden. Er glaubte auch, dass es das beste Mittel sei, diese latenten Energien immer und immer wieder zur Aktion und zur Revolution anzufeuern und zu organisieren, um dadurch zu einer autonomen Rekonstruktion der Gesellschaft zu gelangen. Er wartete auf die passenden Gelegenheiten, um sich mit ganzem Herzen für die Sache des Sozialismus einzusetzen. Während des Krieges und endlich 1918 schien ihm in Deutschland der geeignete Zeitpunkt zur Aktion gekommen zu sein. Wir sehen ihn hier in den folgenden Monaten in München, fast ohne Ruhe und Schlaf, völlig aufgehend in dem Kampf um den Neubau der Gesellschaft, bis sich über ihm die reaktionären Hasswolken zusammenzogen. Sozialdemokraten und Nationalisten hetzten gegen ihn, und am 2. Mai 1919 wurde er durch die Soldateska im Hofe eines Gefängnisses zu München bestialisch ermordet.

Während der 25 Jahre vor 1914 existierte in Deutschland ebenfalls eine individual-anarchistische Vereinigung, die durch J. H. Mackay (1864-1933) inspiriert wurde. Mackay war durch B.R. Tucker und die Lehre des Mutualismus von Proudhon angeregt worden und dadurch zum Anarchismus gestossen. Er verfasste die Gedichtsammlung "Sturm" (1888), und den Roman: "Die Anarchisten" (1891). Die Diskussion zwischen Kommunismus und Individualismus entwickelte er vollständig in seinen Romanen: "Die Freiheitsucher" (1920) und in: "Abrechnung" (1932). Er entwickelte eine fortgesetzte Propaganda dieser Ideen seit 1898, bis zum Hitler-Putsch 1933 in Zeitungen und Zeitschriften.

In der Zwischenzeit wurde auch eine Propaganda für den Proudhonismus entfaltet durch die Schriften von Dr. A. Mülberger und viele Übersetzungen und Auszüge aus Proudhon, die Landauer bewerkstelligte. Nur nebenbei will ich hier Nietzsche und Tolstoi, Stirner, Ibsen, Multatuli und alles andere erinnern, was es an Freiem und wirklich Ethisch-sozialem in Philosophie und Literaturwerken der Zeit gab. Diese Werke, die damals die Jungen und Alten interessierten und heftig anzogen, die ohne Zweifel durch viele schlecht interpretiert, aber durch andere als eine Synthese von Individualismus und Sozialismus verstanden wurden, regten die freiheitlich strebenden Elemente an, weiter zu arbeiten und aufzubauen. Sind sie beispielsweise das Fundament für die zahlreichen Schriften Dr. B. Willes und des Ungarn Dr. E. H. Schmitt (1851-1913), fernerhin für M. von Egidy (1847-1898). Wir erinnern an die Dichtungen P. Hilles (1954-1904), er starb wegen Erschöfpung durch Hunger, an B. Friedländer, der durch Düring angeregt wurde; an B. Kampfmeyer, der sich Kropotkin stark näherte; an die Österreicher A. Kahane, C. Morburger, Fritz und seinen Sohn O. Karmin usw.

Damals erschien auch ein Buch, welches die Grundideen von Godwin, Proudhon, M. Stirner, Bakunin, Kropotkin, B.R. Tucker und Tolstoi verglich, ein Buch eines Juristen, Gegners des Anarchismus, der aber zaghaft versucht, den Gedanken des Anarchismus gerecht zu werden: Dr. P. Eltzbacher, "Der Anarchismus" (Berlin, 1900). Das Buch behandelt sehr unvollständig die sieben Freiheitskämpfer, ebenfalls sind die anarchistischen Auffassungen sehr unvollständig wiedergegeben; jedoch übermittelte es der Öffentlichkeit die soziale Kritik und die grundsätzlichen Auffassungen der sieben Freiheitskämpfer.

1895 erschienen zu Paris die Werke von Bakunin. 1897 zu Brüssel die "Bibliographie de l'Anarchie" (Übersicht über die Schriften und Werke des Anarchismus) und 1898-1900 zu London die Biographie Bakunins mit unveröffentlichten Dokumenten. Damals habe ich mich verpflichtet gefühlt zu zeigen, welche Ausdehnung die internationale anarchistische Literatur besitzt, auch wollte ich Bakunin zeigen, den seine autoritären Gegner auf eine schmutzige Art und Weise in den Kot gezerrt hatten. Die Person und der Kämpfer Bakunin waren sehr unvollständig bekannt, und ein Teil der damals noch lebenden Kameraden Bakunins halfen mir, die Dokumente über ihn herbeizuschaffen.

III.

Seit 1890 verbreitete sich die freiheitlich-sozialistische Bewegung weiter, bis sie einige Jahre vor der Katastrophe von 1914 etwas an Einfluss verlor. Ein Teil der Sozialdemokraten hatte bei Gelegenheit der Opposition und Trennung 1890 nicht die Partei verlassen, aber ein oppositionelles Gefühl lebte noch sehr lange in ihnen. Eine Anzahl von Fachvereinigungen lehnte die grossen Zentralisationen der Gewerkschaften ab. Die sogenannten Lokalisten (wir erinnern hier an die bekannten Namen G. Kessler und F. Kater) bildeten 1897 die Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften und gaben die Zeitschrift: "Die Einigkeit" heraus.

Unterdessen zog der französische Syndikalismus die Aufmerksamkeit der Anarchisten auf sich; vor allem war es die Broschüre: "Der Generalstreik und die soziale Revolution", von S. Nacht, London 1902, die diese Aufmerksamkeit wachrief. Diese Broschüre wurde oft übersetzt und weit verbreitet. Es folgte ihr 1906 oder 1907 die Broschüre "Die direkte Aktion als revolutionäre Gewerkschaftstaktik" (New York, 63 S.). Ein früherer Sozialdemokrat, Dr. R. Friedeberg (geb. 1863), fing seit 1896 an, den Marxismus kritisch zu betrachten und sich zum Anarchismus zu entwickeln. Sein Ziel sah er nicht in der reinen anarchistischen Propaganda, auch nicht in dem revolutionären Syndikalismus Frankreichs, sondern er versuchte zu einer Synthese zwischen Anarchismus und Syndikalismus zu gelangen, zum Anarcho-Syndikalismus. Sein Ziel war die Arbeiterbewegung, die von der anarchistischen Idee durchdrungen, solidarisch, ökonomisch und revolutionär arbeiten sollte. Er war in diesem Sinne aktiv in Deutschland in den Jahren 1904-1907 oder 1908. Aber er fand bei den Lokalisten damals kein Verständnis für den Anarchismus, und bei den Anarchisten fehlte die Erkenntnis der Notwendigkeit einer Aktivität ausserhalb der Propaganda, ohne dass sich diese Kreise deshalb gram waren. Ich denke, dass Friedeberg den Ideen und Auffassungen Malatestas, den er auf dem Amsterdamer Kongress 1907 kennen lernte, am nächsten stand. Eine Krankheit liess ihn bald aus dem Leben der Agitation scheiden.

Die Lokalisten, die durch diese Propaganda beeinflusst und angeregt worden waren, brachen 1908 mit der Sozialdemokratischen Partei und näherten sich stark dem französischen Syndikalismus, in der Auffassung, nicht durch praktische Verbindung. Sie glaubten durch die syndikalistische Theorie eine endgültige Lösung der sozialen Auffassungen gefunden zu haben. Erst auf ihrem Kongress 27. - 30. Dezember 1919 in Berlin, nach der grossen Rede von R. Rocker, nahm man die "Prinzipienerklärung des Syndikalismus" an, die den Staat und das Streben nach der Staatsmacht verwarf. Es war eine neue Bestätigung dessen, was die spanische Föderation seit ihrer Gründung 1870 sein wollte. Die Gewerkschaften haben in ihren Keimen und in ihrem Aufbau die wirtschaftlichen Organe der Gesellschaft nach der Revolution zu sein. "Jede lokale Föderation wird sich in eine Art lokales, statistisches Büro umformen und wird sämtliche Gebäude, Nahrungsmittel, Kleidungsstücke, usw. unter ihre Verwaltung nehmen". "Die Industrie-Föderationen ihrerseits werden die Mission zu erfüllen haben, durch ihre lokalen Organe und mit Hilfe der Fabrikräte alle Produktionsmittel, Rohmaterialien, etc. in ihre Verwaltung zu nehmen und die Produktions- und Fabriktionsstätten mit allem Notwendigen zu versorgen"...

Unter den Männern, die in Deutschland für den Anarchismus kämpften und noch erwähnt werden müssen, befinden sich:. M. Baginski, R. Rocker, S. Nacht, F. Oerter, R. Lange, E. Mühsam; in Österreich: J. Peukert, R. Grossmann. Ausserdem gab es viele, die wegen ihrer Aktivität wert sind, dass man sich ihrer erinnere; es sind u.a. J. Neve, S. Trunk, W. Werner und viele andere.

Der Experimental-Sozialismus wurde durch das Buch: "Utopie und Experiment" wachgerüttelt. Das Buch war zusammengestellt durch A. Sanftleben (Zürich, 1897). Es beinhaltet die übersetzten Schriften des Dr. G. Rossi vor und nach der Gründung der "Colonie Cecilia" in Brasilien, und seine spätere unveröffentlichte Utopie, die er nach der Preisgabe der Ideen des freien Kommunismus und der Annahme eines mutualistischen Systems schrieb.

1913 erschien in München zur grossen Verzweiflung der Marxisten das Buch: "Marx und Bakunin". Sein Verfasser war Dr. Fritz Brupbacher, der 1874 in Zürich geboren wurde. F. Brupbacher war immer ein Denker und Rebell. 1904 durch den Syndikalismus angezogen, kämpfte er für den Syndikalismus und Antimilitarismus. James Guillaume und auch Kropotkin lernte er 1905 kennen. Er war ein kritischer Beobachter, was man am besten aus dem 1911 erschienenen Werk: "Die Aufgaben des Anarchismus in dem demokratischen Staate" ersehen kann. Die Menschen, die Dinge und die Ideen betrachtet er als Arzt, der nicht das Recht hat, die Schwächen eines Organismus zu verbergen. Die Autobiographie Fr. Brupbachers, "60 Jahre Ketzer", erschien in Zürich 1935.


Hiermit schliessen wir den Abdruck aus Nettlaus "La Anarquia a través de los tiempos". Nettlaus Darlegungen zeigen, dass die freiheitlichen Auffassungen auch in Deutschland immer lebendig waren — wenn auch ohne tiefer in die Volksmassen einzudringen. Die ungebrochene deutsche Tradition führt vom preussischen Militarismus über die Gründung des Bismarck-Reiches und die deutsche Sozialdemokratie bis zu Hitler. Alle diese Erscheinungen liegen auf einer Linie; sie verhinderten, alle zusammenwirkend, das Emporkommen einer freiheitlichen Bewegung. Das Resultat war der Zusammenbruch des Februar-März 1933.

Die Millionenmasse der Marxistenwähler, die Millionen der gewerkschaftlichen Beitragszahler rührten sich nicht. Kein Streik, nicht einmal ein Teilstreik, kein Versuch bewaffneten Widerstandes. Der Nationalsozialismus war der rechtmässige Erbe der zentralistischen deutschen Arbeiterbewegung. Wir hatten das vorausgesagt. Leider hatten wir Recht. Am 19. Juli 1936 bewiesen die katalonischen Anarchisten der Welt, dass es noch etwas anderes gibt. Darüber sprechen wir in dieser Zeitung. Wir wollen diesen Abdruck aus Nettlaus Werk nicht schliessen, ehe wir noch einen kurzen Blick auf die deutsche anarchosyndikalistische Bewegung geworfen haben.

Nettlau erwähnt die "Prinzipienerklärung des Syndikalismus" aus dem Jahre 1919. Sie wurde später in ihren Grundzügen zur Prinzipienerklärung unserer Internationalen Arbeiter-Assoziation (der AIT). Unsere deutsche Organisation, die Freie Arbeiter-Union Deutschlands (Anarchosyndikalisten), hervorgegangen aus der alten lokalistischen Bewegung, arbeitete von 1919 bis 1932 öffentlich, um den Arbeitern die Taktik der organisierten direkten Aktion und die Ideen des freiheitlichen Sozialismus begreiflich zu machen. Die Wochenzeitung "Der Syndikalist" und die Monatszeitschrift "Die Internationale" wurden trotz der beschränkten Mitgliederzahl der Bewegung in die fernsten Winkel des Reiches getragen und unsere Ideen überall diskutiert. Die Publikationen des ASY-Verlages vermittelten der deutschen Leserschaft die Werke Kropotkins, Bakunins, Nettlaus, die französische syndikalistische Literatur usw.
Eine kleine Minderheit der deutschen Arbeiterbewegung nur, nahm die Ideen des freiheitlichen Sozialismus auf. Die Lehre Spaniens dürfte heute allen deutschen Arbeitern die Überlegenheit der Taktik der organisierten direkten Aktion über den Methoden der politischen Partei und des Parlamentarismus bewiesen haben.

Die konstruktiven Leistungen der Syndikate der CNT geben ferner der deutschen und der internationalen Arbeiterschaft einen Begriff davon, was der Anarchosyndikalismus will. Wenn die kommende deutsche Arbeiterbewegung nicht einfach die Ersetzung des faschistischen "totalen Staates" durch eine kommunistische Staatsmaschinerie will, sondern eine lebendige neue Gesellschaft der Freiheit und sozialen Gerechtigkeit, dann wird sie an der Idee der wirtschaftlichen Organisation der Produzenten und Konsumenten als Keimzelle des Sozialismus nicht vorübergehen können.

Aus: Die Soziale Revolution Nr. 7-8, 10, 11, 13, 1937. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ä zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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