Rudolf Rocker - Hinter Stacheldraht und Gitter (1925)
Als ich im April 1918 auf neutralem Boden landete und mich wieder als „freier Mann“ fühlen durfte, da fühlte ich ein unbändiges Verlangen, die flüchtigen Aufzeichnungen aus meiner Gefangenschaft auszuarbeiten und der Oeffentlichkeit vorzulegen. Die herben Erinnerungen der vergangenen vier Jahre waren damals noch zu frisch und lebendig in mir, als dass ich den Wunsch hätte unterdrücken können, das Erlebte mir von der Seele zu schreiben. Nicht, daß ich die persönlichen Leiden und Entbehrungen mannigfacher Art für so wichtig gehalten hätte, um sie der Nachwelt unbedingt erhalten zu wollen. Nein, das war es wahrlich nicht. Aber ich fühlte das Bedürfnis in mir, eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte des großen Völkermordes aufzurollen — die Internierung der sogenannten „feindlichen Ausländer“ in den kriegführenden Staaten, ein Kapitel, dessen innere Tragik bis auf den heutigen Tag von den meisten kaum gewürdigt wird.
Bis zu einem gewissen Grade ist das begreiflich. Angesichts der ungeheuren Woge von Blut und Zerstörung, die über die sogenannte zivilisierte Welt dahingegangen, mußten die kleineren Tragödien des Lebens bedeutungslos erscheinen und verblassen. Und doch bilden auch diese „kleineren Tragödien“ einen Teil des ungeheuerlichen Ganzen, welche den Einzelnen von uns zum Schicksal geworden sind. Die Internierung von vielen lausenden harmloser und friedlicher Zivilisten in den verschiedenen Ländern, die mit brutaler Hand dem Kreise ihrer Familien und ihren normalen Lebensbedingungen entrissen und in Verhältnisse hineingezwungen wurden, die ihnen das Leben zur Hölle und zu einer Reihe fortgesetzter Erniedrigungen machen mußten, ist ohne Zweifel ein düsteres Bild aus jener „großen Zeit“, deren furchtbare Lehren man auch heute anscheinend noch nicht erfaßt hat.
Die Internierung der Zivilisten war eine barbarische Handlung, mehr noch – sie war ein direktes Verbrechen, das in seiner sinnlosen Brutalität um so empörender wirken mußte, als keinerlei zwingende Veranlassung dafür vorlag. Jeder weiß heute, dass das hysterische Geschrei einer gewissenlosen Presse über die angebliche Gefahr der Spionage welches die Internierung rechtfertigen sollte, eine wüste Mache, der Hunderte und Tausende von schuldlosen Menschen zum Opfer fallen sind.
Leider war ich zu jener Zeit nicht imstande, meinem inneren Verlangen stattzugeben, da es mir an dem notwendigen Material fehlte, und hatte vom ersten Tage meiner Gefangenschaft an gewissenhaft Tagebuch geführt und im Laufe der Jahre eine Menge Dokumente gesammelt, die meine Angaben belegen sollten; aber dieses Material befand sich in England und war damals unerreichbar für mich. Ich hatte meine Aufzeichnungen und sonstiges Material nach und nach aus dem Internierungslager hinausgeschmuggelt und bei guten Freunden geborgt Allein es vergingen nahezu zwanzig Monate, bevor ich wieder in den Besitz derselben gelangte. Da aber lebten wir bereits in einer anderen Zeit. Der Krieg war zu Ende. Eine revolutionäre Welle hatte sich über Mitteleurope ergossen und das Gefüge des alten politischen Systems in Trümmer geschlagen. Aus Blut und Graus rang sich die Hoffnung an ein neues Werden empor, und die entsetzlichen Erfahrungen jener Periode des Roten Todes gaben dieser Hoffnung noch stärkeren Ausdruck. Aller Blicke waren auf das Kommende gerichtet. Es galt eine neue Zukunft zu schmieden. Wem sollte es da einfallen, sich um Vergangenes zu kümmern.
So blieben auch meine Aufzeichnungen ungenützt liegen, und ich dachte wohl kaum, daß ich sie noch einmal verwenden würde Es gab jetzt Besseres zu tun, als die Schatten des Vergangenen heraufzubeschwören. Ueberdies erschien mir nun selber alles blass und belanglos im Vergleich mit der ungeheuerlichen Katastrophe, welche die ganze zivilisierte Welt in ihren Grundfesten erschüttert hatte.
So vergingen weitere fünf jähre. Die revolutionäre Welle hatte sich nach und nach zu Tode gelaufen und wurde von einer neuen Periode der Reaktion abgelöst, die sich über ganz Europa verbreitete. Besonders in Deutschland, wo die breiten Massen der werktätigen Bevölkerung durch ungeheuerliches Elend und tausend Enttäuschungen innerlich zermürbt und ihre Widerstandskraft gebrochen wurde, erheben die Machte der Vergangenheit wieder mächtig das Haupt. Dieselbe Männer, welche Deutschland an den Rand des Verderbens geführt und Millionen in einen furchtbaren Tod gehetzt, gebärden sich heute wieder als die Vertreter „Deutschen Geistes“ und versuchen ganz öffentlich die große Revanche vorzubereiten, um die Massen abermals in Tod und Verderben hineinzujagen. Und es scheint fast, als habe man bei uns nichts gelernt und nichts vergessen. Die Tatsache, dass die Repräsentanten des organisierten Massenmordes und der Menschenvertilgung im großen heute wieder das große Wort in Deutschland führen, Gestalten, auf denen der Fluch von Millionen lastet, diese Tatsache wohl eine Erscheinung, die in jedem anderen Lande undenkbar wäre.
Der Kampf gegen diese Gefahr der nationalistischen Reaktion erscheint mir als das wichtigste Gebot der Stunde. Wer diese Pflicht vernachlässigt, darf sich nicht wundern, wenn wir früher oder später in eine neue Katastrophe „hineinschlittern“, deren Tragweite gar nicht zu ermessen ist.
Vielleicht werden auch diese Aufzeichnungen etwas dazu beitragen, diesen Kampf gegen das nationalistische Kannibalentum zu fördern, indem sie eine Seite des Krieges beleuchten, an der man bisher fast achtlos vorübergegangen ist. Es erübrigt sich wohl, hier noch zu bemerken, dass meine Kritik der Internierungsschmach sich nicht bloss gegen ein Land richtet, sondern gegen das System im allgemeinen, das überall dieselben Opfer forderte und dieselben Folgen zeitigte, einerlei, ob diese Opfer Franzosen, Engländer oder Deutsche waren.
Berlin-Neukölln, im Juli 1924
Originaltext: http://raumgegenzement.blogsport.de/2011/05/23/rudolf-rocker-hinter-stacheldraht-und-gitter-1925/