Voltairine de Cleyre und der Anarchismus in Philadelphia (1901)

Voltairine de Cleyres Essays lagen zumeist Vortragsmanuskripte zu Grunde. "Ich bin keine Rednerin", notierte sie, "und empfinde in der Regel einige Verachtung für extemporierte Ansprachen. Die sind so zusammenhangslos und voller Wiederholungen. Daher pflege ich meinen Stoff aufzuschreiben." [1] Auch wenn ihren Vorträgen dadurch die Spontaneität abging, erreichte sie ihr Publikum durch klaren Aufbau, Gedankenfülle und die offensichtliche Überzeugtheit, mit der sie hinter ihren Ausführungen stand; einmal wollte sie einer ihrer Hörer als Begräbnisrednerin für seine eigene Beerdigung verpflichten. [2] Auch ihren Aufsatz "Anarchismus" hat sie zunächst in einer öffentlichen Versammlung in Philadelphia im April 1901 vorgelesen. [3] Dieser Vortrag fand in einer Zeit stark intensivierten Engagements statt. Im Herbst 1900 hatte sie mit George Brown und einigen anderen einen anarchistischen Lektürekreis gegründet, der sich "Social Science Club" (etwa: "Gesellschaft zum Studium sozialer Fragen") nannte.

George Brown war ein Schuhmacher, Trinker und talentierter Debattenredner aus Yorkshire (England). Er lebte fünf Jahre in Indien und wanderte in den frühen 1880er Jahren in die USA ein. Er gründete freidenkerisch und anarchistisch ausgerichtete Diskutierklubs in Chicago und Cincinnati, lebte in Philadelphia und Arden von 1893 bis 1915, wo er an Blutvergiftung starb, verursacht durch einen Splitter in seiner Hand. Er und seine Lebensgefährtin Mary Harden (eine anarchistische Dichterin aus Dänemark) waren mit Voltairine de Cleyre befreundet, die bei ihnen zeitweise lebte, unter anderem auch während der Entstehungszeit von "Anarchismus".

Der Lektürekreis traf sich wöchentlich, wobei jedesmal ein anarchistischer Theoretiker besprochen wurde, den die Gruppe die Woche über studiert hatte. Es wurden auch öffentliche Vorträge veranstaltet und Schriften herausgegeben, unter anderem de Cleyres Essay über "Verbrechen und Strafe" und die erste englischsprachige Übersetzung von Kropotkins "Moderne Wissenschaft und der Anarchismus" Peter Kropotkin (1842-1921) war der Hauptvertreter des anarchistischen Kommunismus und um die Jahrhundertwende der einflussreichste Theoretiker des Anarchismus überhaupt. Er lebte von 1886 bis 1917 in London, wo er 1897 Voltairine de Cleyre kennen lernte, oder vielmehr sie ihn. Sie war jedenfalls beeindruckt: "Obwohl er es eilig hatte, ging er in die Küche hinaus, weil er nicht fortgehen wollte, ohne jenen die Hand zu schütteln, die nicht mehr für ihn getan hatten, als seinen Teller abzuwaschen. Das ist Kropotkin, ein Mann, dessen Persönlichkeit mehr als die jedes anderen in der anarchistischen Bewegung spürbar ist - zugleich der sanfteste, freundlichste und unbezwinglichste aller Menschen. Kommunist ebenso wie Anarchist, schlägt sein Herz im einem Rhythmus mit dem großen allgemeinen Puls der Arbeit und des Lebens. Ich bin indessen keine Kommunistin..." [4]

Nach einer Schätzung de Cleyres gab es 1901 zwischen 400 und 500 Anarchisten in Philadelphia, davon 145 regelmäßig Aktive. Von ihnen wiederum waren 75 russische Juden, 40 gebürtige Amerikaner, 24 Deutsche, 3 Italiener, 2 Kubaner, 1 Franzose. 126 waren Männer, 19 Frauen; 124 Anarcho-Kommunisten, 12 Individualisten und 9 ohne Kennzeichnung, darunter Voltairine de Cleyre. [5] Im Jahr 1900 hatte Philadelphia 1,29 Mio. Einwohner (1890: 1,05 Mio., 1910: 1,55 Mio.). Davon waren 77% gebürtige Amerikaner. Unter den Einwanderern waren 98000 Iren, 71000 Deutsche, 45000 Briten, 29000 Russen (die meisten davon jüdisch), 18000 Italiener und 5000 Österreicher. [6]  Im Frühjahr 1901 startete de Cleyre zusammen mit George Brown eine Reihe von Freiluftveranstaltungen, um der Bewegung neue Anhänger zuzuführen. Sie stürzte sich in diese Tätigkeit: "...öffentliche Vorträge halten, Flugblätter rechtzeitig fertig haben, zum Drucker eilen, der Polizei ausweichen, während ich die Flugblätter unter den Haustüren durchschiebe (es gibt hier eine verrückte städtische Vorschrift, die das verbietet), Mitgliedsbeiträge einsammeln, nachlässigen Mitarbeitern Postkarten schreiben, gelegentliche häusliche Vorträge vorbereiten - und die Hausarbeit (ich mache das nicht ordentlich, aber ich muss wenigstens ein bisschen tun). Ich bin einigermaßen erledigt". (In einem Brief vom 5.4.1901) [7] (Nicht zu vergessen ihre Erwerbstätigkeit als Sprachlehrerin, mit der sie sich den Lebensunterhalt finanzierte.)

Der Eifer blieb nicht ohne Erfolg: die Freiluftveranstaltungen zogen jeweils zwischen 200 und 600 Besuchern an, wovon im Anschluss zwischen 30 und 50 dablieben und sich einige von diesen der Bewegung anschlossen. Wichtiger aber noch schien ihr die Wirkung auf die breitere Öffentlichkeit zu sein: "Wer eine derartige Propaganda betreibt, kann nicht erwarten, große Massen zu bekehren, aber allein schon die Gewöhnung des neugierigen Passanten an das Wort 'Anarchismus', so dass es für ihn nicht länger ein Schreckgespenst bedeutet, und er es mit demselben Gleichmut hören kann wie 'Bodenreform' oder 'Demokrat', genügt dem Propagandisten, der weiß, dass er nur ein einzelner ist und die ganze Arbeit sehr groß ist." [8]

Als ein weiteres fruchtbares Betätigungsfeld erwiesen sich Gewerkschaftsversammlungen, wo de Cleyre und Brown anarchistische Literatur anboten, die besonders bei den Zigarrendreherinnen, Schuhmachern, Tapezierern und Textilarbeiterinnen Anklang fanden. [9] (Im Jahr 1905 war Philadelphia nach New York und Chicago die drittgrößte Industriestadt der USA. Die bedeutendsten Zweige waren damals die Zuckerindustrie und die Textilindustrie; so kamen 41% der in den USA produzierten Teppiche aus Philadelphia, sowie jeder sechste Filzhut.) [10]

Als der Aufsatz "Anarchismus" gedruckt wurde (am 13.10.1901 in der Zeitschrift Free Society in Chicago, damals eines der wichtigsten anarchistischen Blätter der Vereinigten Staaten), hatte sich die Situation indessen gründlich geändert. Am 6. September war der Präsident der USA William McKinley von einem Mann namens Leon Czolgosz erschossen worden, der sich als Anarchist ausgab, allerdings keiner anarchistischen Gruppe angehörte und die Tat alleine beging. Bei einem Besuch bei Emma Goldman [11] hatte er deren Verdacht erregt, ein Spitzel zu sein, woraufhin in Free Society am 1.9. eine entsprechende Warnung veröffentlicht wurde. Trotzdem entfaltete sich nach dem Attentat eine langanhaltende antianarchistische Hysterie, die jene nach dem Bombenwurf auf dem Chicagoer Haymarket im Jahre 1886 noch übertraf. Das gewöhnliche Vereinsleben wurde ebenso unterbunden wie öffentliche Veranstaltungen, Zeitungen wurden konfisziert, des Anarchismus Verdächtige entlassen, aus ihren Wohnungen geworfen, zusammengeschlagen, verhaftet, geteert und gefedert. In New York wurde Johann Most [12] zu einem Jahr Haft auf eine Gefängnisinsel gebracht, und Voltairine de Cleyre, obwohl sie nicht verhaftet wurde, fühlte sich durch die Hysterie "so krank, dass ich wünsche, sie würden uns alle auf eine Insel deportieren und uns in Frieden und weit entfernt von allem, was mich an Amerika erinnert, leben lassen. Ich weiß, dass ich diese Stimmung überwinden werde; aber jetzt fühle ich so. Ich kann nichts machen", schrieb sie ihrer Mutter am 22. September. [13]

Am Tag des Attentats schrieb sie, ebenfalls in einem Brief an ihre Mutter: "Die Zeitungsjungen rufen das Extrablatt über McKinleys Ermordung aus. Das ist eine bedauerliche Geschichte, - weniger, was ihn betrifft, oder jedenfalls nicht mehr als die Geschichte der alten Dame, die gestern in der Brown Street zerstückelt wurde - sondern wegen der Welle reaktionärer Empfindungen, die sie eine Zeitlang zur Folge haben wird. Dennoch, all dies ist Teil des Spiels, wie Umberto sagte, als man ihm zum ersten Mal nach dem Leben trachtete: 'Es gehört zu den Risiken des Königsberufes'". [14] König Umberto von Italien war 1900 von dem Anarchisten Gaetano Bresci getötet worden. Voltairine de Cleyres Haltung zu solchen Taten war zwiespältig. Ursprünglich war sie unter dem Einfluss von Benjamin Tuckers [15] Individualismus eine strikte Pazifistin, die 1890 schrieb: "Widerstand akzeptieren, heißt - den Staat akzeptieren", doch mit der Zeit verzichtete sie auf eine eindeutige Stellungnahme in dieser Frage, blieb aber ihrer eigenen Meinung treu: "Obwohl ich die Logik des gewaltsamen physischen Widerstandes nicht einsehe (da sie eine unaufhörliche Folge von Vergeltungsakten bewirkt, solange bis jemand auf Vergeltung verzichtet), habe ich mich allmählich zu der Überzeugung durchgerungen, dass es andere gibt, die zu dem entgegengesetzten Schluss gekommen sind und ihren Überzeugungen entsprechend handeln, und die ein ebenso wesentlicher Bestandteil der Bewegung zur menschlichen Freiheit wie jene sind, die Frieden um jeden Preis predigen." [16]

In den Tätern sah sie Geschöpfe der bestehenden Gewaltordnung, die sich in ihnen gegen sich selbst kehrte, sie empfand Mitleid für sie, aber sie bewunderte auch ihren Mut und ihre Selbstopferung für die Sache. Während sie in "Anarchismus" bekundete, Bresci und seine Tat vorbehaltlos zu akzeptieren, schlug sie in einem Gedicht vom Juli 1901 einen etwas anderen Ton an:[17]

Marsh-Bloom (To Gaetano Bresci.)

Requiem, requiem, requiem,
Blood-red blossom of poison stem
Broken for Man,
Swamp-sunk leafage and dungeon bloom,
Seeded bearer of royal doom,
What is now the ban?
What to thee is the island grave?
With desert wind and desolate wave
Will they silence Death?
Can they weight thee now with the heaviest stone?
Can they lay aught on thee "Be alone,"
That hast conquered breath?
Lo, "it is finished"-a man for a king!
Mark you well who have done this thing:
The flower has roots;
Bitter and rank grow the things of the sea;
Ye shall know what sap ran thick in the tree
When ye pluck its fruits.
Requiem, requiem, requiem,
Sleep on, sleep on, accursed of them
Who work our pain;
A wild Marsh-blossom shall blow again
From a buried root in the slime of men,
On the day of the Great Red Rain.


Sumpfblume (An Gaetano Bresci)

Requiem, Requiem, Requiem,
Blutrote Blüte auf giftigem Stengel
Für die Menschheit abgebrochen,
Im Sumpf versunkenes Laubwerk und Kerkerblume,
Gesäter Träger königlichen Loses,
Was bedeutet jetzt der Bann?
Was ist dir das Inselgrab?
Mit Wüstenwind und Wellenschlag
Bringen sie den Tod zum Schweigen?
Können sie dich mit dem schwersten Stein aufwiegen?
Können sie irgendetwas auf den legen mit ihrem "Sei allein",
Der den Atem überwunden hat?
Siehe, "es ist vollbracht" - ein Mann für einen König!
Notiert euch gut, die ihr dies tatet:
Wurzeln hat die Blume;
Bitteres und Übelriechendes kommt aus dem Meer;
Du wirst den Saft im Baumstamm kennen
Wenn du seine Früchte pflückst.
Requiem, Requiem, Requiem,
Schlafe weiter, schlafe weiter, von denen verflucht
Die unsere Schmerzen schaffen;
Eine wilde Sumpfblume wird wieder aufschießen
Aus einer begrabenen Wurzel im Menschenschlamm,
Am Tag des Großen Roten Regens.

Im März 1902, als die Anarchistenhatz noch keineswegs vorüber war, bot der Senator Joseph R. Hawley 1000$ für die Erschießung eines Anarchisten an. De Cleyre veröffentlichte einen Brief in Free Society (13.4.1902), in dem sie sich als kostenloses Opfer anbot. Sie führt näher aus: "Sie brauchen bloß das Fahrgeld zu bezahlen, um zu mir zu kommen (Adresse siehe unten) und mich gratis zu erschießen. Ich werde keinen Widerstand leisten. Ich werde gerade vor Ihnen stehen, in jedem Abstand, der Ihnen zusagt, und Sie können in Anwesenheit von Zeugen schießen. Ist das für Ihren amerikanischen Geschäftssinn kein verlockendes Angebot? Doch sollte die Zahlung von 1000$ ein wesentlicher Bestandteil Ihres Vorschlages sein, dann werde ich, nachdem ich Ihnen die Gelegenheit zu schießen gegeben habe, die Summe für die Verbreitung der Idee einer freien Gesellschaft spenden, in der es weder Attentäter noch Präsidenten, weder Bettler noch Senatoren gibt. Voltairine de Cleyre. 807 Fairmount Avenue, den 21. März 1902." [18]

Fußnoten:
[1] Autobiograf. Skizze, zit. in Paul Avrich, An American Anarchist, Princeton 1978, S. 41f.
[2] Brief an ihre Schwester Adelaide Thayer, 7.2.1888, zit. bei Avrich, S. 42.
[3] Max Nettlau, Geschichte der Anarchie, Band 4, S. 453.
[4] Selected Works of Voltairine de Cleyre, Hg. Alexander Berkman, 1914, nachgedruckt bei The Revisionst Press, New York, 1972, S. 155.
[5] Voltairine de Cleyre, "Ein Bericht über die Bewegung in Philadelphia", Free Society, 18.8.1901; bei Avrich, S. 132.
[6] Encyplopædia Britannica, 11. Ausgabe, 1911.
[7] Avrich, S. 131.
[8] Voltairine de Cleyre, "Ein Bericht über die Bewegung in Philadelphia", Free Society, 18.8.1901; bei Avrich, S. 132.
[9] Avrich, S. 133
[10] Encyplopædia Britannica, 11. Ausgabe, 1911.
[11] Emma Goldman, 1869-1940, Feministin und Anarcho-Kommunistin. Goldman und de Cleyre lernten einander 1893 kennen, nach beginnender Freundschaft erfolgte bald der Bruch, nach welchem sie einander in herzlicher Abneigung verbunden blieben. "Ich habe Emma Goldman und ihre Ansprachen nie gemocht; ich mag weder Marktschreierei noch Schimpfwörter" (Brief an ihre Mutter, 22.9.1901, bei Avrich, S. 135.) Emma Goldman notierte: "Ich bewunderte ihre Energie und ihren Fleiß, aber ich war verletzt und zurückgestoßen durch das, was mir eine unvernünftige und kleinliche Haltung mir gegenüber vorkam. Ich konnte sie nicht ausfindig machen, und wir hatten einander all die Jahre nicht geschrieben. Ihre furchtlose Haltung in der McKinley-Hysterie hat viel dazu beigetragen, meinen Respekt für sie zu heben, und ihr Brief in Free Society an Senator Hawley ... machte einen dauerhaften Eindruck auf mich." (Emma Goldman, Living My Life, S. 332) 1932 verfasste Emma Goldman eine Biografie Voltairine de Cleyres.
[12] Johann (John) Most, 1846-1906, Anarcho-Kommunist aus Augsburg, saß zwischen 1874 und 1878 für die SPD im Reichstag, 1878 Exil in London, seit 1882 in den USA.
[13] Avrich, S. 135.
[14] Avrich, S. 137.
[15] Benjamin R. Tucker, 1854-1939, Herausgeber der Zeitschrift "Liberty" (1881-1907), Hauptvertreter des individualistischen Anarchismus in den USA, dessen Anhängerin Voltairine de Cleyre zunächst gewesen ist: "...also begann ich einen Studienkurs der Prinzipien der Soziologie und des modernen Sozialismus und Anarchismus, wie sie in deren Zeitschriften präsentiert wurden. Es ist Benjamin Tuckers Liberty gewesen, die mich letztlich davon überzeugt hat, dass 'Freiheit nicht die Tochter, sondern die Mutter der Ordnung' ist. Und obwohl ich nicht länger an das besondere ökonomische Evangelium Tuckers glaube, hat sich für mich die Lehre des Anarchismus als solche, die ich damals angenommen habe, mit den Jahren verbreitert, vertieft und intensiviert." (Selected Works, S. 157) Tucker war wenig begeistert von dem, was er als Widersprüchlichkeit bei seiner einstigen Schülerin wahrnahm: "Fräulein de Cleyre glaubt an Nicht-Widerstand und ruft gleichzeitig das Volk zum Widerstand auf", schrieb er 1894 in Liberty (bei Avrich S. 146). Ihre gefühlvolle und leidenschaftliche Art entzog sich seinem Verständnis: "Gegen Ende ihres Lebens schien sie mir nicht mehr ganz geistig gesund zu sein - vermutlich als Folge von Unglück oder Mühsal. Wir waren von so verschiedenem Temperament, dass wir kaum als geistesverwandt gelten konnten. Doch nötigte sie mir Respekt ab." (Brief an Joseph Ishill, 25.11.1934, bei Avrich S. 146f.)
[16] Mother Earth, Jan. 1907, bei Avrich S. 140.
[17] Selected Works, S. 74.
[18] Avrich, S. 133ff.

Originaltext: ???


Creative Commons - Infos zu den hier veröffentlichten Texten / Diese Seite ausdrucken: Drucken



Email