Anarchistin ohne Adjektive. Zum 100. Todestag von Voltairine de Cleyre

Voltairine de Cleyre wurde 1866 in Michigan (USA) geboren. Obwohl die Eltern unter sehr ärmlichen Bedingungen lebten, konnten sie ihrer Tochter eine Schulausbildung in einer Klosterschule ermöglichen. Geprägt von den dort vorherrschenden Verhältnissen begann sie sich zunehmend in freidenkerischen und antiklerikalen Kreisen zu bewegen. Dabei wurde sie u.a. von den Schriften Henry D. Thoreaus beeinflusst und lernte schließlich 1887 den individualistischen Anarchismus in Gestalt von Benjamin Tucker kennen. Sie erweiterte jedoch schnell ihren Horizont und akzeptierte vielerlei verschiedene anarchistische Positionen nebeneinander. Christlich-pazifistisch, militant, mutualistische oder anarchokommunistische Positionen, kollektivistische oder individualistische. Allen sprach sie ihre Berechtigung zu, nebeneinander zu existieren. Sie selbst bezeichnete sich schlicht als Anarchistin ohne jegliches Beiwort und gilt somit als eine der bekanntesten Vertreterinnen des „Anarchismus ohne Adjektive“.

Anarchismus ohne Adjektive

In ihrem Aufsatz „Anarchismus“ von 1902 macht sie ihre Position dazu deutlich. Sie schreibt darin, dass es unerheblich und nicht notwendig ist, dass jemensch seinen*ihren Anarchismus auf ein bestimmtes Weltbild aufbaut. Der Anarchismus sei vielmehr eine Theorie der Beziehung der Menschen zueinander und weniger ein ökonomisches System mit einem detaillierten Produktions- und Verteilungsplan. Gleichwohl sei es auch Aufgabe der Anarchist*innen ökonomische Theorien und Praxen zu entwickeln. Allerdings sollte dabei nicht nur der Wohlstand der Menschen gewährleistet werden, sondern auch deren Individualität sowie deren „freies Spiel für den Geist der Veränderung“. Dem habe sich das ökonomische System unterzuordnen. Voltairine de Cleyre weist in diesem Zusammenhang auf die verschiedenen ökonomischen Schulen innerhalb des Anarchismus hin und bedauert, dass sich diese Strömungen bitter bekämpft und gegenseitig nicht als Anarchist*innen anerkannt haben. Sie selbst lehnte diese Engstirnigkeit ab und plädierte stattdessen dafür, mit den verschiedenen Ideen zu experimentieren, „solange nicht das Element des Zwangs hinzutritt und Personen in Gemeinschaften festhält, deren ökonomische Regeln sie ablehnen“. Noch genauer formuliert sie weiter, dass „jede in der Gesellschaft frei handelnde Gruppe von Personen jedes der vorgeschlagenen Systeme wählen kann und dabei ebenso gründlich Anarchisten sind wie jene, die ein anderes wählen“. Diejenigen, die engstirnig an der eigenen Wahrheit festhalten und keine Toleranz gegenüber dem anderen zulassen, bezeichnet Voltairine als Frömmler*innen und stellt sie mit Religionsfanatiker*innen gleich. Das gegenseitige Absprechen, Anarchist*innen zu sein vergleicht sie mit Exkommunikation und befindet, dass diejenigen „besser zur römischen Kirche passen“.

Voltairine de Cleyre und Emma Goldman

Ihre anarchistischen Positionen hat Voltairine de Cleyre in vielen Veröffentlichungen und Vorträgen vertreten, die sie bald überregional bekannt machten. Sie war jedoch keine gute Rednerin, wie sie selbst anerkannte und hielt sich demnach meist an ihre vorab verfassten Manuskripte. Dadurch fehlte ihren Vorträgen zwar die Spontaneität, sie konnte ihr Publikum aber mit gut strukturierten Argumenten und klarem Aufbau begeistern. Zwischen 1889 und 1910 lehrte sie in Philadelphia jüdischen Einwanderer*innen Englisch und verdiente dadurch ihren Unterhalt. Sie pflegte einen eher spärlichen Lebensstil und war immer darauf bedacht, selbst für sich aufzukommen und für ihre anarchistischen Tätigkeiten keine Honorare anzunehmen. Ihre Freundschaft zu Emma Goldman litt durch die unterschiedlichen Lebensauffassungen der beiden Frauen.

Voltairine de Cleyer befand Emma Goldmans lebensfrohe Art als Verbürgerlichung. Zudem mochte sie deren „Marktschreierei und derbe(n) Schimpfwörter“ nicht. Emma Goldman ihrerseits bezeichnete in ihren Erinnerungen Voltairines Kritik als „unvernünftige und kleinliche Haltung“. Trotz ihrer unterschiedlichen Lebensauffassungen waren sich beide in ihren anarchistischen Positionen oftmals sehr nahe und schätzten das Engagement der jeweils anderen. Emma Goldman bezeichnete Voltairine de Cleyre gar als „die talentierteste und begabteste Anarchistin, die Amerika jemals hervorgebracht hat“.

Das Attentat

Während der Anarchisten*innenhatz in den USA, die 1901 nach der Ermordung des Präsidenten McKinley zusehends schärfer wurde, hatte Voltairine, obwohl sie im Gegensatz zu vielen anderen Anarchist*innen nicht verhaftet wurde, schwer zu leiden. Als 1902 der Senator Joseph R. Hawley 1.000 Dollar für die Erschießung eines Anarchisten auslobte, bot sich Voltairine in einem offenen Brief als freiwilliges Opfer an. Er brauche nur zu ihr zu kommen und könne vor Zeugen auf sie schießen; sie werde sich nicht wehren.

Nachdem sie ihm dann die Gelegenheit zum Schießen gegeben hätte, so schreibt sie, werde sie „die Summe für die Verbreitung der Idee einer freien Gesellschaft spenden, in der es weder Attentäter noch Präsidenten, weder Bettler noch Senatoren gibt“. Ein Jahr später wurde tatsächlich auf Voltairine de Cleyre geschossen. Allerdings nicht von Senator Hawley sondern von einem ihrer Schüler, der scheinbar unter „geistiger Verwirrung“ litt. Die Kugel konnte nicht entfernt werden und machte ihr gesundheitlich schwer zu schaffen.

Die letzten Jahre

Ihre letzten Lebensjahre waren trotz ihres angeschlagenen gesundheitlichen Zustands und zunehmender Depression von großer literarischer Produktivität geprägt. Sie verfasste mehrere Aufsätze, in denen sie sich mit Ferrers Moderner Schule (escuela moderna) und freien Erziehungsmethoden sowie der mexikanischen Revolution beschäftigte. 1910 zog sie nach Chicago, um an Ferrer orientierten Schulen zu lehren. Zudem erwog sie zur Unterstützung der mexikanischen Revolution gar einen Umzug nach Kalifornien, wozu es jedoch nicht (mehr) kam. Sie starb am 20. Juni 1912 in Chicago.

Voltairine de Cleyres Bedeutung heute

Leider sind für den deutschsprachigen Raum kaum Veröffentlichungen von Voltairine de Cleyre vorhanden, was eine intensivere Auseinandersetzung mit ihren Texten erschwert. Sie leistete jedoch nicht zuletzt durch ihr Engagement für einen Anarchismus ohne Adjektive einen wichtigen Beitrag innerhalb der Bewegung. Sie hat die Fronten zwischen den verschiedenen anarchistischen Fraktionen aufgebrochen und mehr Toleranz für von der eigenen Linie abweichende Ansätze gefordert. Somit erteilte sie auch dem Dogma, im alleinigen Besitz der reinen Lehre und der Wahrheit zu sein, eine klare Absage. Voltairines Position eines Anarchismus ohne Adjektive hat daher angesichts nach wie vor stattfindender Grabenkämpfe mehr Beachtung verdient. Organisationen wie das Forum deutschsprachiger Anarchist*innen – FdA hat sie durch ihren pluralistischen Standpunkt philosophisch mitgeprägt.

Quellen:
Voltairine de Cleyre: Anarchismus, Bern, 2001
Emma Goldman: Gelebtes Leben, Hamburg, 2010

Online-Quellen:
www.Voltairinee.org
www.anarchismus.at/anarchistische-klassiker/Voltairinee-de-clyre

von Marcos Denegro (AFB)

Originaltext: Gai Dao Nr. 18, Zeitung der anarchistischen Föderation FdA- IFA (Juni 2012). Die Gai Dao ist im Downloadbereich oder auf der Homepage des Projekts jeweils als PDF downloadbar.


Creative Commons - Infos zu den hier veröffentlichten Texten / Diese Seite ausdrucken: Drucken



Email