Der Rebell - Gewalt und Gesetz (1886)
Eine der mächtigsten Stützen des modernen Raub- und Herrschafts-Systemes, ist der Gesetzlichkeitsdusel, welcher das unterdrückte Volk beherrscht.
Seit Begründung der Bourgeois-Herrschaft ist aus der Gesetzlichkeit ein Cultus, eine Religion gemacht worden, die sich in Bezug auf sittliche und moralische Verherung allen anderen Religionen würdig an die Seite stellen kann.
Die „civilisirten“ Völker unserer Zeit tanzen um die Gottheit „Gesetz“ wie unser barbarischen Urahnen um ihre Götzen. Alles Übel und alles Weh was die Völker erdulden, wird von den „schlechten“ Gesetzen, der der schlechten Handhabung der „guten“ Gesetze abgeleitet. Die „schlechten“ Gesetze sollen durch „Gute“ ersetzt und die „Guten“ besser gehandhabt werden. Das ist der Grundton aller modernen Reformmelodien.
Diese soziale Krankheit hat solche Dimensionen angenommen, daß selbst ernstlich revolutionäre Sozialisten, mit allem Eifer bestrebt sind ihre sozialen Verbesserungsideen zum „Gesetz“ zu erheben; ja noch mehr, viele glauben allen Ernstes, die Verwirklichung der sozialen Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, sei nach einem gewaltsammen Sturze des bestehenden Gesellschaftssystems, nur mittelst der Gesetzgebung möglich durch zuführen. –
Es ist daher wohl an der Zeit, daß wir uns Wesen und Ursprung der Gesetze etwas genauer betrachten.
Von Carrakteristischer Bedeutung vor allen Dingen ist die Thatsache, daß alle Völker immer erst dann anfingen Gesetze zu machen, als sie sich in zwei feindliche Klassen – Beherrscher und Beherrschte – theilen und die Ersteren bestrebt waren die ihnen nützlichen Gebräuche und Sitten zu verewigen. Das ist ja auch ganz natürlich. Solange eine Gemeinschaft von Menschen gleichberechtigt in sozialer Brüderlichkeit lebt, braucht sie keine Gesetze. Ihre gegenseitigen Beziehungen entspringen gemeinsamen Bedürfnissen und haben daher keine gegensätzlichen Interessen, welche durch Gesetze „geregelt“ zu werden brauchen. Gegensätzliche Interessen entspringen erst dann, wenn sich ein Theil über die Anderen die Herrschaft anmaßt und somit die Gleichberechtigung aufgehoben wird.
Thun wir einen Blick in die Entwicklungsgeschichte der Menschheit, so finden wir, daß dieselbe tausende und aber tausende von Jahren ohne alle geschriebenen Gesetze nicht nur bestand, sondern sich fort und fort in weit höcheren Maße entwickelte als es seit der Epoche der geschriebenen Gesetze der Fall ist.
Der Mensch als Gesellschaftsthier besitzt an sich eine Summe von Eigenschaften, wie Mitgefühl mit den Empfindungen seines Nebenmenschen, vergleichenden Sinneseindrücken von seiner Umgebung etc. etc. durch welche das gesellschaftliche Zusammenleben überhaupt nur möglich wurde und welche gleichzeitig die Triebkraft seiner stetigen Entwicklung bilden. Das gesellschaftliche Zusammenleben erzeugte in ihm wiederum das Bewusstsein gemeinsammer Interessen, welche die Banden der Gegenseitigkeit enger und enger knüpften, und so von Generation zu Generation als Sitten, Gewohnheiten und Gebräuche überliefert wurde; von Jedem als etwas Selbstverständliches anerkannt, bedürfen dieselben keiner speziellen Formulirung. Mit der manigfaltigeren Bethätigung erwachsen neue Bedürfniße, entstehen neue Sitten und Gewohnheiten, die Alten werden unwillkürlich verbessert oder verdrängt und die Menschheit würde sich ungleich höcher und edler entwickelt haben, hätten sie nicht vorgeschriebene Gesetze gekannt.
Allein, nebst den guten Gewohnheiten und Sitten, entsprangen im gesellschaftlichen Zusammenleben auch schlechte. Überlegene physische Stärke, Muth, Tapferkeit, Schlauheit und Inteligenz schwangen sich in den rohen Kämpfen ums Dasein über die Menge empor, welche sich, gleich den übrigen Gesellschaftsthieren, nach und nach daran gewöhnten den von der Natur bevorzugten Individuen blindlings zu folgen. Diese Gewohnheit erzeugt bei den so bevorzugten Individuen andere, der Menge fremde, Bedürfniße und Gewohnheiten in Form von Vorrechten und größeren Genüße, und damit das Bedürfnis diese Vorrechte zu verewigen. Was war da natürlicher, als daß die Schlaueren, Verschmitztern die, aus der totalen Unwissenheit über die Gesetze und Ursachen der elementaren Erscheinungen entsprungenen Gefühle der Furcht und der Verehrung der Menge, dazu ausnützte Vorrecht zu erringen, errungene zu erweitern und zu befestigen? – Die Anfangs vereinzelten Versuche, fanden durch den Erfolg von gleichgearteten Individuen Nachamung und wurden mit der Zeit anerkannte Sitte und Gewohnheit. Das waren die Keime der Klassenunterschiede, Pfaff und Anführer – Gläubige und Gehorchende, Herrscher und Beherrschte.
Da die Pfaffen erklärlicherweise einen größeren moralischen Einfluß auf die Menge besaßen als die Kampfesanführer oder Häuptlinge, fiel ihnen auch die Aufgabe zu, von der Menge die moralische Zuerkennung von Vorrechten und deren Erweiterung für die sich entwickelnde herschende Klasse zu erhalten. Und in der That finden wir in allen Ländern und Völkern die Vorrechte der herschenden Klassen „göttlichen“ Ursprunges. Wo immer die brutale Gewalt solche Vorrechte schuf oder einführte, bedurften dieselben zu ihrer Existenz des „göttlichen“ Segens der Pfaffen.
Es kann nicht unsere Aufgabe sein in diesem engen Raume die manigfaltigen Formen und Stufen des Gesetzes-Cultus zu skizziren; es genügt wohl nach dem obengesagten, nur noch auf die Thatsache verweisen, daß bevor man an andere Gesetze zum Schutze der herschenden Klasse und ihrer Vorrechte dachte, dieselben in allen Religionslehrern und sogenannten Geboten Gottes, (respkt. Götter,) enthalten waren und selbst noch heute sind. Ebenso wenig kümmern uns hier die Kämpfe der moralischen und physischen Gewalthaber (sogenannte geistige und weltlichen Macht) etwas, da dieselben nichts anderes als der Streit zweier Gauner um die Beute sind.
Was wir zeigen wollen ist, daß alle Gesetze sammt und sonders den Betrug zum Vater und die Gewalt zur Mutter haben und nicht Nothwendigkeit des gesellschaftlichen Lebens sind.
Es ist doch eine allgemein bekannte Thatsache daß alle sogenannten „Verbrechen“ ihre Ursache in den moralischen, geistigen sozialen Verhältnissen haben, ebenso, wie allen tiefer denkenden Soziologen anerkannt ist, daß alle Gesetze der Welt kein einziges „Verbrechen“ verhindern, eher solche schaffen und cultiviren. Denn das was von einer Gesellschaft als „Unrecht“ anerkannt ist, wird auch ohne Gesetze nicht geschehn. – Ausnahmen verhütet auch das Gesetz nicht – und das was als „gut“ oder „recht“ anerkannt ist, wird ohne Gesetze gethan, weil es nur durch die Ausübung als „gut“ erkannt wurde. Vor kaum 50 Jahren noch lebten vielleicht 80 % der Menschen in vollster Unkenntnis der Gesetze. Und heute sind es zum Mindesten die Hälfte noch keine Ahnung von den Gesetzen haben, während die andere Hälfte dieselben nur theilweise kennt. Denn Dank unserer Civilisation hat sich deren Zahl in allen Staaten soviel vermehrt daß sich der gelehrteste Jurist nicht alle im Gedächtnis zu behalten vermag, das beweist uns nun daß sich die fundamentalen Regeln gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht nach den geschriebenen Gesetzen richten oder vielleicht gar daraus entspringen, sondern unabhängig von „Gesetz“ durch das Zusammenleben entsprungen sind von den Individuen anerkannt und beobachtet werden.
Die fort und fort steigende Erkenntnis der Zusammengehörigkeit, der Interessen-Gemeinschaft, die sich daraus im gleichen Grade entwickelnde gegenseitige Achtung und Liebe, welche wiederum das einzelne Individuum veranlaßt seine Kräfte zum Wohle Aller zu weihn und sein Wohl im Wohle Aller zu suchen; das sind die einzig wahren Triebkräfte und Regulatoren des gesellschaftlichen Zusammenlebens! Nie und nimmer geschriebene „Gesetze“ und wären sie von Menschen-Göttern verfaßt!
Woher kommt nun der Zauber den das „Gesetz“ auf die „civilisirten“ Völker ausübt? – Wir wollen dies in Kürze erklären.
Vor allen Dingen haben es die herschenden Klassen mit besonderer Geschicklichkeit verstanden, alle die, durch das gesellschaftliche Zusammenleben entwickelten nützlichen und guten Sitten u. Gewohnheiten der Völker, in ihren „göttlichen“ und weltlichen Gesetzen mit den schädlichen, nur ihren Vorrechtern nutzenbringenden Geboten und Gewohnheiten zu vernichten. Könnten sie sich jedoch auf die brutale Gewalt allein verlassen, so war jede Laune jeder schurkische Wille Gesetz, wie im Mittelalter bis zur großen französischen Revolution.
Als 1879 diese Macht gebrochen, verlangte das französ. Volk „die Gleichheit alles dessen was Menschenantlitz trägt“. Allein die zur Herrschaft strebenden Bourgeoisie begriff, daß damit auch ihre Herrschaft unmöglich wurde, und verwandelte diesen Satz in: „Alle Bürger sind vor dem Gesetze gleich!“ Das arme unwissende Volk – welches noch lebhaft die Leiden und Qualen der absoluten Herrschaft des Königthums, des Adels und der Pfaffen empfand, welches nie an der Genugthuung erlittene Ungerechtigkeiten fand, als wenn es Lynch-Justiz an seinen Peinigern übte, um dafür auch selbst sein Leben durch Hänkershand zu opfern, dieses unglückliche Volk glaubt allen Ernstes in der „Gleichheit vor den Gesetzen“ die erstrebten allgemeinen Menschenrechte verwirklicht zu finden. Es übertrug seine Macht den Gesetzmachern! Das Prinzip der Herrschaft war gerettet. Die gesammte Unterdrückerbande der alten und neuen Welt stimmte in das Hosiana auf die „Gleichheit vor dem Gesetz“ ein. – Es war ja das Mittel gefunden die Völker noch knechten und ausbeuten zu können, und zwar: mit der Anerkennung der Völker selbst. Die Gesetzlichkeit, wurde herschende Religion, heilig, unantastbar für jeden, der nicht zur Kaste der Gesetzesauguren, zum Volke gehörte.
Vom Katheder und Kanzel, in Poesie und Prosa, Literatur und Kunst wird vor ihrer „Heilichkeit“ Gesetz, Weirauch gestreut. Fast jeder Revolutionär fängt in seinen Kriterium damit an, sich gegen den sogenannten „Mißbrauch“ der Gesetze aufzulehnen. Ahnungslos, daß die Gesetze überhaupt nur gemacht werden, um mißbraucht zu werden. Da es ja den herschenden Machthabern jeden Augenblick frei steht jeden Mißbrauch zu Gesetz zu erhaben.
Kaum ein Jahrhundert ist seitdem verflossen und welche unermäßliche Fülle von Elend, Schmach und Leiden, hat dieser Irrthum den Völkern gebracht! Welche riesige Summe von Verbrechen der grausigsten Art, welche scheußlichsten Grausamkeiten wurden verübt, welche Ströme von Blutes der Völker, wurden in dieser Zeit im Namen des „Gesetzes“ vergossen!! –
Die Ursache liegt nun aber nicht darin daß die bis jetzt bestandenen Gesetze „schlecht“ waren, sondern darin, weil das Volk im Vertrauen auf seine Gesetze und Gesetzesmacher, seine Macht aufgiebt, und nicht bereit ist jeden Augenblick seine Rechte mit Gewalt zu vertheidigen!
Und heute, nach diesen furchtbaren Erfahrungen eines Jahrhundert, sollten wir dasselbe Lied wieder von vorne anfangen?! –
Heute hat man noch die Stirne dem nach Freiheit lechzenden Volke die Zumuthung zu machen, die alten Götzentempel zu zerstören um an deren Stelle neue zu errichten! –
Nein! Und tausendmal nein! Die Parole eines jeden ernsten Revolutionärs kann nur sein: Vernichtung! Vollständige Vernichtung aller Gesetze und Gesetzemacher!!
Quelle: Aus: Der Rebell. Organ der Anarchisten deutscher Sprache. Nr. 16, Juni 1886.
Originaltext: http://anarchistischebibliothek.org/library/gewalt-und-gesetz