John Olday - An die Zagenden (1948)

Der grösste Feind der Menschheit ist die Angst. Angst vor dem Schmerz, dem Hunger, der Krankheit, dem Tod. Die Angst erniedrigt den Menschen zur Fügsamkeit und Feigheit. Nimm ihm die Furcht und er ist frei: Wo Ungewissheit herrscht, da ist Furcht. Wo Wissen, wo Klarheit das Unbekannte durchschaut, verliert es seine beklemmende Dämonie. Das bitterste Wissen ist segensreicher als der Balsam des Nichtwissens. Nimm dem Menschen den Schmerz, und er wird weich. Nimm ihm den Hunger und er wird träge. Der volle Magen war von jeher der Todfeind der Revolution. Je hohler der Bauch, je wütender das Grimmen, je qualvoller die Pein, desto röter die Glut des Hasses. Man hat zu viel geduldet, zu viel ertragen und zu wenig gehasst. Dennoch, was alle unsere aufrührerischen Reden nicht vermochten, das besorgen jetzt diejenigen, die den Hass am meisten fürchten, für uns. Die Revolutionäre können sich zur Ruhe setzen. Eine bessere Geissel als die Hungerpeitsche, einen besseren Lehrmeister des Hasses gibt es nicht! Was haben wir nicht alles versucht, um den Schlafmützigen die Augen zu öffnen und wie wenig hat es gefruchtet. Aber was alle unsere Erklärungen, Warnungen, Beschwörungen nicht zuwege brachten, das besorgt jetzt die Zeit an unserer Stelle. Die Schrecken und das Grauen, durch die die Menschheit sich peitschen liess, haben auch den Bequemen und Denkträgen die ganze Brutalität und den Wahnsinn der heutigen Ordnung und das Unvermögen aller seiner Verteidiger offenbar gemacht. Wozu noch die klassenlose Gesellschaft propagieren, Freunde? Ist sie nicht bereits im Beginn ihrer Verwirklichung? Bürger werden verproletarisiert, Proletarier verbürgern. Rang und Klassenunterschiede von ehedem verwischen sich immer mehr. Heute begreift ein Jeder, dass es nur noch zwei, sich gegenüberstehende, unvereinbare Klassen gibt: die Satten und die Hungrigen. -

Wir wollten die Abschaffung der Gesetze und man sagte uns, dass es ohne Gesetze nicht gehe. Wo sind heute die Gesetze, das Recht? Millionen leben ein unfreiwilliges asoziales Dasein. Millionen werden gezwungen, wollen sie ihr Leben erhalten, die sinnlos gewordenen Gesetze zu ignorieren. Ein einziges Gesetz funktioniert noch: das Gesetz der Selbsterhaltung! Alle anderen papierenen Erlasse, alles andere Recht hat sich aufgelöst und erweist sich als kraftloser Spuk. Wir haben die Expropriation propagiert und die Bürger schrien Zeter und Mordrio. Heute sind Millionen gezwungen sich zu erschleichen, was sie zur Fristung ihres Lebens benötigen; zu betteln, betrügen und zu stehlen, und wer sich noch von bürgerlichen Ehrbegriffen leiten lässt, den holen die Hunde! Was wir nicht vermochten mit all unserer Aufklärung, das ist heute vollbracht worden von denen, die von Würde, Sitte, Ruhe und Ordnung plapperten: die blinde Ehrfurcht vor den aufgeblasenen Götzen bürgerlicher Moral ist dahin. Der Generation, die heute im Chaos aufwächst, kann man nicht mehr mit faulem Zauber irgendwelcher überführter Ehrbegriffe kommen. Wir haben gesagt, dass es keine Sicherheit und kein Vaterland gäbe und man hat uns nicht glauben wollen. Besitz, Heimat, Familie,– daran hielt man fest, das liess man sich nicht rauben. Damit bestach sie der Staat, damit fing sie die Partei, die Kirche. Was wir ihnen nicht zu nehmen vermochten, die Engstirnigkeit, die kümmerliche Kleinbürgerseligkeit, das trügerische Gefühl der Geborgenheit im Besitz, es ist ihnen zerstört worden von denen, die am lautesten für die Erhaltung dieser Werte eintraten. Der Krieg zerstörte ihre Behausungen die sie Heim nannten; zerriss, zerfetzte die „heiligen Bande“ der Familie; zerriss, zerfetzte Eltern und Kinder. Der Friede kam und trieb die Spreu der Entwurzelten durch die Lande, liess sie in Elendsasylen verkümmern oder im Niemandsland verrecken.

Hunderttausende sind heute ohne Heimat, ohne Vaterland, verstossen und verdammt. Hunderttausende ehrbare Ehefrauen, Mädchen und Kinder mussten sich prostituieren für eine Brotkruste, eine Zigarette. Das Unvorstellbarste, Ehrenloseste verkehrte sich über Nacht zum Selbstverständlichsten, Alltäglichsten. Ehrlichkeit wurde zu selbstmörderischer Dummheit, Aufgabe der Würde zur Lebensbedingung. Da fiel die Vergoldung ab von den Moralgötzen des Staats und der Kirchen. Da kam die ganze innere Hohlheit so augenscheinlich und eindeutig zum Vorschein, dass jeder Versuch einer Aufrechterhaltung des Scheins zur Lächerlichkeit verdammt ist.

Grosser Bakunin!- wer hätte je erträumt, dass, was alle unsere Schriften, alle unsere Bemühungen, alle Leiden und Blutopfer unserer Bewegung nicht vermochten, würde schliesslich von der Konterrevolution erreicht werden: die vernihilisierung ganzer Generationen! Ein Millionenheer von Auswurf und Verschleiss! Die Saat, die man so gesät,- eines Tages wird sie aufgehen und- die Ernte wird unser sein! Eine Armee der Sozialen Revolution!

Alle Versuche, dieses bedrohliche Elendsheer durch systematisches Aushungern aus der Welt zu schaffen, wird sich als das Verhängnis beschleunigend auswirken. Je grösser die Anzahl der jetzt Zermürbten und Zugrundegehenden ist, desto tiefer und nachhaltiger wird die revolutionierende Wirkung auf die Überlebenden sein. Je härter die Erfahrungen jetzt, desto härter und unnachgibieger werden diejenigen, die daraus hervorgehen, an der Herbeiführung der Sozialen Revolution arbeiten.

Das Entsetzen, Grauen des Krieges, die jetzt erzeugte Bitterkeit, Groll und Hass, glaubt ihr, dass lässt sich so mirnichts dirnichts verwischen?

Ihr klagt über die Dummheit, die Müdigkeit überall. Freunde,- jeder, aber auch jeder Eindruck hat sich tief im Bewusstsein der Leidenden eingegraben. Die augenblickliche Stumpfheit, die Erstarrung, ist eine nur allzu natürliche Folgeerscheinung. Die erste Reaktion nach dem Empfang eines heftigen Schlages ist Benommenheit, Taubheit. Die Völker aber haben nicht einen, sondern eine ununterbrochene Reihe fürchterlicher Schläge erhalten. Wenn sich die Eindrücke bis zur Unerträglichkeit aufgestaut haben, dann wird es zu einem explosiven Ausdruck kommen. Wo Andere heute wieder Ruhe und Ordnung, Erleichterung und Wiederaufbau predigen, da erfüllt uns die heillose Verstrickung ins Chaos mit Hoffnung. Die Opfer des herrschenden Elends beklagen wir; beklagen sie umsomehr, je länger sie an der Illusion festhalten, dass dauernde Erleichterung oder gar eine Erlösung von den heutigen Systemen geboten werden kann. Wir haben ihnen die fürchterliche Kette von Krisen und Erschütterungen vorausgesagt und sie wollten uns nicht glauben. Die Kette der Leiden wird nicht abreissen, sondern sich endlos verlängern, solange sie noch hoffen. Das ist der Grund, warum wir alle halben Lösungen ablehnen und, die Fehlschläge der Staatsmänner mit dem Chaos fertig zu werden, nicht beklagen.

Wir, die verlorene Generation des ersten Weltkrieges, grüssen die verlorene Generation des zweiten, als unsere natürlichen Verbündete[n]. Sie, die nicht mitmachen wollen, die sich abseits stellen. Auch uns verschrie man als gefährliche Nihilisten. Wir haben unsere besten Kameraden verloren in blutig niedergeschlagenen Aufständen in der Republik, in den brutalen Verfolgungen des Dritten Reiches. Aber schon gesellen sich diejenigen der neuen Generation zu uns, die vom gleichen Impuls der Verneinung getrieben, ihre Sinne auf das Kommende gerichtet haben.

Erklären wir also offen: Wir sind unversöhnliche Gegner eines jeden Machtsystems. Wir sind Gegner all derer, die eine Macht beseitigen wollen um an ihre Stelle eine neue Macht zu setzen. Wir haben nichts gemeinsam mit denen, die, aus welcher Erwägung auch immer, bereit zu den geringsten Zugeständnissen sind. Wir sind die Feinde eines jeden Staates. Die Feinde aller Staatsbegünstiger und aller vom Staat Begünstigten. Wir sind Gegner aller Toleranzprediger und aller Kompromissgewillten. Erklären wir auch, dass wir Gegner des Kultes von der „armen, betörten Masse“ sind. Diese Masse besteht nur aus Menschen, von denen die meisten aus Schwäche, Trägheit und Feigheit, verkehrt angewandter Selbstsucht und Begriffsvernebelung – mitverantwortlich sind an dem Vorhandensein sozialer Ungerechtigkeit. Wir sind die Genossen eines Jeden, der wie wir, die restlose Beseitigung der Ausbeutung eines Menschen durch den anderen, die Aufhebung jeder Herrschaft eines über den anderen will. Wir sind Umstürzler und Insurgenten und Brandstifter! Mit dem Feuer der Empörung das in uns lodert wollen wir die Gemüter entzünden. Das ist unsere unmittelbarste und wichtigste Aufgabe.

Wenn wir überzeugt wären, dass am allgemeinen Elend eine Handvoll von Männern allein verantwortlich sind, dann würden wir nicht zögern, sie gewaltsam zu beseitigen. Jedoch wir wissen, dass die Triebkräfte, die diese Exponenten an die Oberfläche getrieben haben, nur allzu identisch sind mit den Trieben der Menge. Heute erfährt die Menschheit am eigenen Leibe die Folgen ihrer eigenen Denkweise und Haltung. Das Geschehen zu interpretieren, die Aussichtslosigkeit aller bisherigen Wege an Hand der augenscheinlichen Resultate zu belegen, die Illusionen aller Halblösungen zu zerstören,- das ist die Aufgabe aller Revolutionäre. Man beweise der Menge, dass sie ihr Elend selbst verschuldet hat. Man zeige ihr ihre Verantwortlichkeit. Nur das kann ihr das Selbstgefühl wiedergeben. Die Schlussfolgerung liegt doch auf der Hand. Wenn ich einsehe, dass ich tatsächlich mitverantwortlich bin am existierenden Elend, dann kann ich auch mitverantwortlich werden an der Herbeiführung einer radikalen Änderung. Immer nur einer Minderheit von Verführern und Mächtigen die ausschliessliche Verantwortung zuzuschieben, heisst den Irrglauben der Autorität stärken und das Gefühl der Ohnmacht in der Mehrheit vertiefen. Soweit die Hoffnungslosigkeit die gegenwärtige Ordnung betrifft, werden wir alles tun um sie zu vergrössern. Erst wenn sie mit dem Wagemut der Verzweiflung den Sprung ins Neue unternehmen, anstatt die gewisse, endlose Verkettung mit dem unglückseligen Alten weiter zu erdulden. Man nenne uns Utopisten, wenn man will. Uns scheint, dass diejenigen, die noch Rettungsmöglichkeiten im alten sehen, grössere Utopisten sind.

Was wir zu bieten haben? Nichts! Wir offerieren keine unfehlbaren sozialen Patentlösungen. Wir erbieten uns nicht, die Befreiung anderer auf uns zu nehmen. Wir verlangen nicht, dass man uns glauben und folgen soll. Wer sich uns zugesellt, dem werden Verleumdnungen, Verfolgung, Kerker und Tod sicher sein. Wer sich mit uns ausserhalb der Begriffe und Rechte dieser Ordnung stellt, den trifft ihre ganze Härte und Kälte. Für ihn gibt es keine Bequemlichkeit und keine Zuflucht, es sei denn in der Gemeinschaft seiner Kampfgefährten. Ihm wird keine andere Freiheit als die, die er in sich selber findet, kein anderer Lohn als die Brüderlichkeit seiner Genossen[ sein (steht nichts)].

Andere mögen Geduld predigen. Unsere Geduld zerbrach längst. Andere mögen sich mit Gegebenem begnügen. Wir lehren Ungenügsamkeit und das Nehmen. Wir lachen der sanftmütigen Friedensaposteln, die sich die Bitterkeit des Leidens mit selbstgefälligen Einbildungen geistiger Erhabenenheit versüssen. Wir bedauern die armseligen Don Quixoten, die sich im Dschungel der Dialektik verfangen und deren Glücksvermögen sich erschöpft in Triumpfen eitlen Selbstbetruges.

Während die meisten Menschen verflucht sind, von einer Enttäuschung in die andere gestossen zu werden und schliesslich ihre Sehnsüchte in die Rumpelkammer verstauen; während andere sich mit den Visieren künftiger Himmelreiche trösten, ist uns – inmitten einer Welt der Auflösungskämpfe, das Erlebnis der Gemeinschaft geworden, deren Realität und Innerlichkeit wuchs mit dem Wachsen der Härten und Verfolgungen. Während die Welt an der Menschlichkeit verzweifelt, ward uns echte und dauernde Brüderlichkeit. Inmitten einer Auseinandersetzung von Thesen und Antithesen, bei der Unzählige zerrieben worden sind, bildete unsere Fraternitie eine lebendige Synthese, eine Synthese, die vom ersten Tage ihrer Formulierung an nichts von ihrem fundamentalen Inhalt verloren, sondern von den geschichtlichen Ereignissen immer wieder erneut bekräftigt und bestätigt worden ist.

Genossen, – trotzalledem und alledem, wir haben keine Ursache zaghaft zu sein.

J[ohn]. O[lday].

Aus: Der Anarchist Nr. 2, April 1948. An neue[re] Rechtschreibung (sehr leicht) angepasst. (-ieren staat -iren, sonst wenig bis nichts...)

Originaltext: http://anarchistischebibliothek.org/library/john-olday-an-die-zagenden


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