Paul Goodman - Lernen in Freiheit (1968, Auszug)

Die Vorstellung, daß der junge Mensch erst einmal zwölf bis zwanzig Jahre lang "verarbeitet" werden muß, bevor er in die fortgeschrittene Industriegesellschaft paßt, ist entweder Irrtum oder Betrug. Alles was wir darüber wissen, spricht dafür, daß es keine Übereinstimmung zwischen den Schulleistungen und der Tüchtigkeit in irgendeinem der daraus hervorgehenden höheren Berufe gibt - in der Medizin, der Jurisprudenz, der Technik, der Publizistik, der Wirtschaft. Ja, neuere Untersuchungen haben gezeigt, daß auch für die bescheideneren verwaltenden und technischen Tätigkeiten wie für die industriellen Anlernberufe die Zahl der absolvierten Schuljahre und der Besitz von Abschlußzeugnissen keinen sachlichen Vorteil bringt. - Schließlich waren wir um 1900, als nur knapp 6 % aller Jugendlichen die High School durchliefen, kein Stamm von Wilden. Was auch immer die erklärte Absicht der Schule ist - faktisch hat sie heute in erster Linie Ordnungsfunktion zu erfüllen (…)

Ich bin überzeugt, daß wir Kinder ganz in der freien Wahl ihrer Tätigkeiten erziehen können, ohne sie planvoll zu "verarbeiten". Der Mensch lernt nichts mit Erfolg, ja er lernt überhaupt nichts, wenn es nicht seinen Bedürfnissen, seiner Neugier, seinen Wunsch Vorstellungen entgegenkommt - es sei denn, man verwechselt lernen mit Nachplappern (...)

Es ist einfach töricht, im voraus zu entscheiden, was ein Kind wissen soll, und dann zu versuchen, es zu motivieren, statt umgekehrt, ihm die Initiative zu überlassen und ihm die Auskünfte und
Hilfsmittel dafür zur Verfügung zu stellen, die es zu ihrem Auftrag braucht.

Und es ist einfach falsch zu behaupten, mit dieser Art von Freiheit könnten die Bedürfnisse der Gesellschaft nicht erfüllt werden - d.h. die Bedürfnisse, die sinnvollerweise einen Anspruch darauf haben. Im Gegenteil: Nur durch Freiheit kann man ein wirkliches Mitglied dieser Gesellschaft werden und nur durch Freiheit bekommt man eine wirkliche - nicht nur verbale - Vorstellung von der Welt. Frei wählen können heißt nicht, sich beliebig verhalten, sondern auf die Wirklichkeit antworten. Jugendliche wie Erwachsene leben in einer gegebenen Umwelt, in der die Sachen, die Ordnungen, die immer schon vor sich gehenden gesellschaftlichen Prozesse ihre Interessen wecken und die Richtung ihrer Bedürfnisse bestimmen. Wenn also die jungen Menschen ihren Neigungen nachgehen, ihre Gegenstände, ihre Zeiteinteilung, ihre Lehrer wählen und wenn die Lehrer nur das lehren, was ihnen selbst wichtig ist (etwas anderes wird ihnen ohnedies nicht gut gelingen), dann wird eben damit auf die Bedürfnisse der Gesellschaft geantwortet. Die Gesellschaft wird auf diese Weise mehr bewegte und bewegliche, mehr unabhängige und erfindungsbereite Menschen erhalten, und über kurz oder lang wird sie selber sogar vernünftiger werden und ihre eigenen Zwecke besser erfüllen.

(...) Da die Systemzwänge in der technischen Zivilisation sowohl universal wie rigoros sind, muß unsere Hauptanstrengung darauf gerichtet sein, die Jugendlichen vor Dirigismus zu bewahren, wenn denn Spontaneität und Eigeninitiative in dieser Welt nicht aussterben soll.

Die klösterlichen und akademischen Verfahren, die einst gut waren, um Nomaden zu zivilisieren, erzeugen heute - in einer Zeit hoher technischer Perfektion - nur Roboter. Die öffentliche Schule, die gut war, aus Einwanderern Bürger unserer damals noch offenen und ungeformten Gesellschaft zu machen, dient heute der Abrichtung der Individuen und der Verhärtung der Klassenunterschiede. Ich sehe jedenfalls keinen Grund, ein Kind bis zum Alter von zwölf Jahren formalisierten Gegenständen und einem vorbestimmten Lernpensum zu unterwerfen. Jede Erfahrung, die ein Kind macht, fördert es, wenn jemand da ist, der ihm hilft.

(...) Die richtigen Lehrer für diese Altersstufe sind demnach Menschen, die Kinder gern haben, die ihnen zuhören und zusehen können, die ihnen ihre vielen Fragen beantworten, denen es Spaß macht, mit ihnen durch die Stadt zu gehen und etwas zu entdecken, etwas nachzumachen, etwas auszuprobieren - Lehrer, die ihnen Geschichten erzählen, mit ihnen Lieder singen und Spiele spielen. Jeder Erwachsene, der es gut meint - gebildet oder ungebildet -, kann einem Achtjährigen unendlich viel beibringen. Die einzige Ausbildung, die er wirklich gebrauchen könnte, besteht in etwas Gruppentherapie und einem Kurs in Entwicklungspsychologie.

Wir erleben, wie Kleinkinder von alleine zu sprechen anfangen, wenn in ihrer Umwelt gesprochen wird - wo man zu ihnen spricht und sie in das Leben miteinbezieht. Wollten wir Kinder auf Grund unserer Theorien, Methoden und Zeitpläne das Sprechen beibringen - so wie wir sie Lesen und Schreiben lehren -, es gäbe so viele sprechgehemmte Kinder wie es heute lesegehemmte Kinder gibt.

(...) Man hat überdies nachgewiesen, daß alles, was in gegenwärtigen Lehrplänen für die achtjährige Grundschule steht, von einem normalen Zwölfjährigen innerhalb von vier Monaten gelernt werden kann. Ja, wenn man ihn nicht mit anderen Dingen belästigt hat, wird er das meiste bis dahin schon von allein gelernt haben.

Da wir in Gemeinschaften leben, in denen man sich nicht selbstverständlich um die Kinder kümmert, und weil man die Kinder vor ihren Familien retten muß, muß es für die Mehrzahl der Kinder irgendeine Form von "Schule" geben. Ich habe einmal den Vorschlag gemacht, in der Stadt New York Mini-Schulen einzurichten, in denen jeweils 28 Kinder und vier Erwachsene zusammenkommen: ein approbierter Lehrer, eine Hausfrau, die gut kocht, ein College-Student in den letzten Semestern und ein teenage drop-out. Eine solche Gruppe kann in jedem leerstehenden Laden, in jedem Gemeindehaus, in jeder Baracke zusammenkommen ; wichtiger noch: sie kann sich oft in der Stadt umherbewegen, was dadurch möglich ist, daß das Verhältnis von Kindern zu Erwachsenen sieben zu eins beträgt.

(...) Die Schule von A.S. Neill beweist, daß man den Schulbesuch freiwillig machen kann. Die Schule sollte nahezu am Zuhause liegen, damit die Kinder ihr leicht nach Hause entrinnen können und umgekehrt. Die Schule sollte durch öffentliche Gelder unterhalten, aber ganz von ihren Kindern, Lehrern und Eltern verwaltet werden.

Kommen die Kinder ins Jugendalter und ins Collegealter, dann gebietet der gegenwärtige Bildungswahn, daß sie weitere vier bis zehn Jahre im Unterricht festgehalten werden - man hält dies für die einzige Weise, in der man in dieser Welt erwachsen werden kann. Richtig wäre es dagegen, ihnen so viele verschiedene Wege zu eröffnen wie nur möglich, und eine Fülle von Gelegenheiten zu Rückzug, Wechsel und Ausstieg. (…)

Von den Jugendlichen, die sich einer schulmäßigen akademischen Ausbildungsweise unzugänglich zeigen, verstört und entmutigt man die meisten und entfremdet sich die besten, wenn man sie zum Schulbesuch zwingt. Bevormundet und wirtschaftlich abhängig, wie die jungen Leute sind, bleiben ihnen die sexuellen Erlebnisse, die Politik, die Abenteuer versagt, die ihnen angemessen wären. Da der vitale Jugendliche ohnedies auf diesen Erfahrungen besteht, erzeugen wir am Ende nur eine tiefe Kluft zwischen ihm und der bedrückenden Erwachsenenwelt, wir erzeugen eine jugendliche Subkultur und halten dadurch seine Entwicklung auf.

Die Schulen sind einfach nicht kompetent, all die Künste, Wissenschaften, Berufe und Fertigkeiten zu lehren, von denen das Schul-Establishment behauptet, daß sie sie lehren. In bezug auf einige Berufe - z.B. Sozialarbeit, die Architektur oder die Pädagogik - scheint es mir geradezu schädlich, sich Schulqualifikationen zuzulegen. Die Schule erweist sich auf dem Weg zu solchen Berufen als eine unnötige und abschreckende Hindernisbahn. Die meisten technischen Kenntnisse und Fertigkeiten muß man sich ohnehin in der Praxis im Büro oder in der Fabrik erwerben, die Arbeit dort verlangt meist, daß man mühsam wieder abstößt, was man sich ebenso mühsam für die Schulexamen angeeignet hat.

(...) Die Bedeutung der sogenannten "Functional Literacy" - einer auch nur funktionsbezogenen Fähigkeit zu lesen und zu schreiben - wird stark überschätzt; die Lerneinstellung ist sehr viel wichtiger als die tatsächliche Lesefertigkeit. Wer im Bereich der Kunst und der Geisteswissenschaften oder in den Naturwissenschaften selbständig schöpferisch ist, geht ohnedies fast immer seinen eigenen Weg und wird durch die Schule dabei meist nur behindert. Lebende Fremdsprachen lernt man am besten im Ausland, auf Reisen. Ja, es ist sinnlos, Jugendlichen, denen man keine Verantwortung und Erfahrung in der Gesellschaft eingeräumt hat, formalisierte Kurse in Sozialwissenschaften, Literaturkritik und Philosophie zu verabreichen. (…)

Ich weiß nicht, ob diese individuell geschneiderten Lösungen schwerer oder leichter zu verabreichen sind als die konfektionierten Lösungen, die in Wirklichkeit ja niemanden passen und immer größere Zahlen von Aufsässigen hervorbringt. (…)

An den Universitäten haben wir ähnliche Probleme. Wir stopfen die Studenten mit Wissen, das sie in dem Augenblick gar nicht haben wollen und das die meisten von ihnen nie gebrauchen werden. Aber indem wir nur diejenigen zulassen, die die entsprechenden Berechtigungsscheine oder Diplome haben, erschweren wir es älteren Leuten, zu dem Wissen zu gelangen, das sie suchen und brauchen. Es ist höchst paradox, daß, obwohl so viele Menschen zur Schule gehen, die Ausbildung für die akademischen Berufe in solchem Maße versagt - mit all den unheilvollen Folgen für die soziologische Verteilung unserer Bevölkerung, für das Leben in unseren Städten, für die politische Verfassung unserer Gesellschaft, für die Kommunikationsverhältnisse und sogar für die Entwicklung der Wissenschaft. Wie soll einer, der zwanzig Jahre lang anderer Leute Pensum widerwillig erfüllt hat, seinen Beruf mit Autonomie und Verantwortung gegenüber seinen Klienten und der Gesellschaft erfüllen? Durch den eigenen Werdegang und "Herstellungsprozeß" gebrochen, entarten die Berufsträger zu bloßem Berufspersonal. Die Berufsgruppen sind zu "pressure groups" geworden. Die Berufsordnung, die Zulassungs- und Überwachungsfunktionen haben sie in zunehmendem Maß dem Staat überlassen, der dafür nicht kompetent ist.

Bei der Erteilung von Berufsberechtigungen sollten wir nüchterner auf die tatsächlichen Funktionen achten, das Mandarinentum irrelevanter akademischer Grade fallenlassen und uns von der lächerlichen Manie befreien, mit der wir heute Diplome für jede nur denkbare praktische Fertigkeit und jedes kleine Gewerbe erteilen.

In den meisten gehobenen Berufen und Künsten gibt es wichtige theoretische Bereiche, die am besten in einer schulmäßigen Weise gelernt werden. Das natürliche Vorgehen wäre also, wenn diejenigen, die im Berufsleben stehen, zur Schule gingen und dort das lernten, von dem sie jetzt wissen, daß sie es brauchen. Die Rückkehr zum akademischen Studium sollte folglich denen erleichtert werden, die in dieser Weise dafür besonders motiviert sind.

Die Universitäten sind in erster Linie Ausbildungsstätten für höhere Berufe; die Lehrenden dieser Universitäten sollten folglich nicht in erster Linie reine "Akademiker" sein, sondern Menschen aus praktischen Berufen, die sich verlockt und verpflichtet fühlen, ihre Sachkenntnisse an die nächste Generation weiterzugeben, und sich zu dem Zweck zu einer Gelehrtenpolitik zusammenschließen - zu einer menschlichen und in die Zukunft geöffneten Unterweisung. Diese wird "menschlich" sein, weil die Disziplinen miteinander kommunizieren können, und "in die Zukunft geöffnet", weil die Jugendlichen in ihr von institutionellem Zwang frei und auf den Frageprozeß angewiesen sind. (...)

Alle Bereiche der Bildung und Ausbildung sind über die Bedürfnisse, die Wünsche, die freie Wahl, den Versuch zugänglich. Nichts bedarf des Zwanges oder der nur äußerlichen Motivation durch Preise und Drohungen.

Wie gesagt, ich weiß nicht, ob das hier umrissene Konzept mehr kosten würde als das gegenwärtige System, obwohl man sich kaum vorstellen kann, wofür man mehr Geld brauchte, als heute ausgegeben wird. Was aber sich gewiß einsparen ließe, ist die empörende Verschwendung von Jugendjahren, die man eingesperrt, dösend, mogelnd und voller Zerstörungswut verbringt - und der demütigende, beleidigende Mißbrauch von Lehrern. (…)

Aus: Paul Goodman: Erziehung - Zwangsjacke oder Freiheit. Zwei Aufsätze gegen die Schule, Hrsg.: Anarchistische Vereinigung Norddeutschland, Ems-Kopp Verlag, Meppen/Ems 1978, S. 27-35

Originaltext: Degen, Hans-Jürgen: „Tu was du willst“. Anarchismus – Grundlagentexte zur Theorie und Praxis. Verlag Schwarzer Nachtschatten 1987. Digitalisiert von www.anarchismus.at


Creative Commons - Infos zu den hier veröffentlichten Texten / Diese Seite ausdrucken: Drucken



Email