Colin Ward - Keine Schulen mehr (1970)

Letztlich ist die soziale Funktion der Erziehung, die Gesellschaft zu verewigen: es ist die sozialisierende Funktion. Die Gesellschaft garantiert ihre Zukunft, indem sie ihre Kinder nach ihrem eigenen Bild erzieht. In traditionellen Gesellschaften erzieht der Bauer seine Söhne zur Bodenkultivierung, der Mann mit Macht erzieht seine zur Machthabung, und der Priester unterweist sie alle in der Notwendigkeit des Priestertums. In der modernen Regierungsgesellschaft, wie Frank McKinnon es ausdrückt: "Das Erziehungssystem ist das größte Instrument im modernen Staate, um den Leuten zu sagen, was sie tun sollen. Es nimmt Fünfjährige auf und versucht, ihre geistige und viel von ihrer sozialen, physischen und moralischen Entwicklung für zwölf oder mehr der am stärksten formbildenden Jahre ihrer Leben zu lenken." (The Politics of Education. Londen 1961)

Um eine geschichtliche Parallele hierzu zu finden, müßte man bis zurück zum antiken Sparta gehen, mit dem prinzipiellen Unterschied, daß die einzige Erziehung, über die wir in der Antike hören, die der herrschenden Klasse ist. Spartanische Ausbildung war einfach Erziehung zu Infanteriekriegsführung und zur Unterweisung der Bürger in die Techniken der Unterdrückung der Sklavenklasse, der Heloten, die die tägliche Arbeit im Staate machten und die Bürger an Zahl weit übertrafen. In der modernen Welt müssen die Heloten auch eine Ausbildung erhalten, und das Äquivalent zum spartanischen Kriegsdienst ist der industrielle und technische Wettkampf zwischen den Nationen, der manchmal das Produkt von Krieg ist und manchmal seine Einleitung. Das Jahr, in dem Britanniens anfänglicher Vorsprung auf den Industrieweltmärkten zu schwinden begann, war das Jahr, in dem, nach Generationen von Gezänk wegen ihres religiösen Inhalts, die allgemeine Volksschulpflicht eingeführt wurde und jede bedeutende Entwicklung seit der Gesetzgebung von 1870 war nicht bloß eng mit der Erfahrung von ökonomischer Rivalität verbunden, sondern der von Krieg selbst. Die englischen Bildungsgesetze von 1902, 1918 und 1944 waren alle durch den Krieg entstanden, und jeder neue internationale Konflikt, handelte er um Rivalität, um Märkte oder um Militärtechniken, wurde der Anstoß für einen neuen Besorgnisausbruch unter den rivalisierenden Mächten über das Ausmaß und die Reichweite ihres Bildungssystems.

Die Vorstellung, daß Grundschulbildung frei, bindend und allgemein sein sollte ist sehr viel älter als die britische Gesetzgebung des 19. Jahrhunderts. Martin Luther appellierte "An die Ratsherren aller Städte in Deutschland, daß sie christliche Schulen einrichten und aufrecht erhalten", im calvinistischen Genf wurde die Schulpflicht 1536 begründet und Calvins schottischer Jünger Knox "pflanzte sowohl eine Schule wie auch eine Kirche in jeder Gemeinde". Im puritanischen Massachusetts wurde die freie verpflichtende Erziehung 1647 eingeführt. (…)

Die Schulpflicht ist geschichtlich nicht nur mit der Druckpresse, dem Aufkommen des Protestantismus und des Kapitalismus eng verbunden, sondern mit dem Wachsen der Idee des "nation State" selbst. (…)

Zeitgenössische Kritiker des Bündnisses zwischen nationaler Regierung und nationaler Erziehung würden (...) zustimmen und würden nachweisen, daß es die Natur öffentlicher Autorität ist, Institutionen zu betreiben, die von Zwang und Hierarchie geprägt sind, und deren letztliche Funktion die Verewigung sozialer Ungleichheit ist, und die Jugend mit einer Gehirnwäsche in die Hinnahme ihres besonderen Eckchens im organisierten System hineinzupressen.

Vor hundert Jahren charakterisierte Michael Bakunin im Buch "Gott und der Staat" "das Volk" als "die ewig Unmündigen, der Schüler, der zugestandenermaßen immer unfähig ist, seine Prüfungen zu bestehen, zum Wissen seines Lehrers aufzusteigen und sich von seiner Zucht zu befreien."

Bakunin zog den Vergleich zwischen dem Lehrerberuf und einer Priesterkaste, der heute von Everett Reimer und Ivan Illich gemacht wird, und er erklärte: "Gleiche Bedingungen, gleiche Ursachen schaffen immer die gleichen Folgen. Es wird dann mit den Lehrer der gleichen Schule genauso sein, göttlich inspiriert und konzessioniert durch den Staat. Sie müssen notwendigerweise, einige ohne es zu wissen, andere in voller Kenntnis der Ursachen, Lehrer der Lehre vom Opfer des Volkes für die Macht des Staates und für den Profit der privilegierten Klassen werden."

Müssen wir also, fragte er, von der Gesellschaft jede Vorschrift ausmerzen und alle Schulen abschaffen? Weit davon entfernt, antwortete er, aber er forderte Schulen, in denen das Prinzip der Autorität ausgemerzt ist: "Sie werden keine Schulen mehr sein; sie werden Volksakademien sein, in denen man weder Schüler noch Lehrer kennen wird, wo die Leute aus freien Stücken hinkommen, um, falls sie es brauchen, freie Unterweisungen zu bekommen und in denen sie, reich auf ihrem Fachgebiet, wiederum den Lehrenden viele Sachen beibringen werden, die ihnen die Kenntnisse, die ihnen fehlen, bringen sollen." (Gott und der Staat).

Trotz des Geredes über "Community schools" (Gemeindeschulen) gibt es tausend bürokratische Gründe, aus denen Bakunins "Volksakademien" bis heute nicht in die Praxis umgesetzt werden konnten und nur eine Vision der zukünftigen Umwandlung der Schule bleibt. Jedoch sagte Professor Harry Ree in einer Konferenz junger Lehrer folgendes: "Ich glaube, wir werden noch in Ihrem Leben das Ende der Schulen, wie wir sie kennen, sehen. Stattdessen wird es ein Gemeindezentrum geben, das seine Türen zwölf Stunden täglich geöffnet hat, sieben Tage die Woche, wo jeder ein und ausgehen kann - in der Bibliothek, Arbeitsgemeinschaften, Sportzentrum, Selbstbedienungsladen und Gaststätte. In hundert Jahren haben die Schulpflichtgesetze vielleicht den gleichen Weg genommen wie die Gesetze zur Anwesenheit in der Kirche." (The Teacher, 8. April 1972).

Heute, wo die Staatsgelder für die Ausbildung in reichen und armen Ländern immer gigantischer werden, würden wir einen weiteren Kritikpunkt der Rolle des Staates als Ausbilder in der ganzen Welt hinzufügen: die Beleidigung gegenüber der Idee von sozialer Gerechtigkeit. Reformer mit guten Vorsätzen haben sich ungeheure Mühe gemacht mit dem Versuch, das Erziehungssystem so zurecht zu rücken, daß es Chancengleichheit gewähren sollte, aber dies führte einfach zu einem theoretisch und illusorisch gleichen Start in einem Wettbewerb immer ungleicher zu werden. Je
größer die Geldsummen, die in die Erziehungsindustrie der Welt gesteckt werden, desto kleiner der Nutzen für das Volk am Boden der Erziehungs-, Berufs-, und Sozialhierarchie. Das allgemeine Erziehungssystem deckt sich wiederum als ein Weg, wie die Armen die Reichen subventionieren, auf. (…)

Wir können also daraus schließen, daß eine bedeutende Rolle des Staates im Erziehungssystem der Welt darin besteht, soziale und ökonomische Ungerechtigkeit zu verewigen. (...)

Die anarchistische Herangehensweise an Bildung beruht nicht auf der Verachtung des Lernens, sondern auf der Achtung des Lernenden. (…)

Die verheerende Kritik, die wir am organisierten System machen können ist, daß seine Auswirkungen durch und durch anti-erzieherisch sind. In Britannien, im Alter von fünf, können es die meisten Kinder kaum abwarten in die Schule zu kommen. Mit fünfzehn können sie es kaum abwarten rauszukommen. Am ehesten wird ein Veränderungshebel im organisierten System nicht durch Kritik oder Beispiel von außen kommen, sondern durch Druck von unten. Es hat immer einen Teil Schüler gegeben, die unwillig dem Unterricht beiwohnen, die die Autorität der Schule und ihre willkürlichen Vorschriften ablehnen und die wenig Wert auf die Bildungsprozesse legen, weil sie aus eigener Erfahrung wissen, daß es ein Hindernisrennen ist, in dem sie so oft die Verlierer sind, daß sie blöd wären, wenn sie am Wettbewerb teilnähmen. Das ist es, was sie in der Schule gelernt haben, und wenn diese Armee von "Ferner-liefen" - nicht mehr von Drohungen eingeschüchtert, nicht mehr Schöntuerei unterworfen, nicht mehr durch physische Gewalt in verdrossene Ergebung niedergeknüppelt - groß genug geworden ist, um die Schule am Funktionieren mit nur dem Anschein von Bedeutung oder Effektivität zu hindern, dann wird die Bildungsrevolution beginnen.

Auf der anderen Seite des Bildungsspektrums, der Universität, hat der Prozeß der Erneuerung durch Spaltung alte historische Vorfahren. Das vollkommenste anarchistische Modell einer Universität kommt aus Spanien. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts entließ die spanische Regierung, die damals wie heute durch die Kirche beherrscht wurde, einige leitende Universitätsprofessoren. Einige von ihnen fingen eine "freie" Schule für höhere Bildung an, das Institution Libre de Ensenanza, und um dieses bildete sich die sogenannte "Generation von '98", eine kleine Gruppe Intellektueller, die, ähnlich dem Wachstum der Arbeiterbewegung jener Zeit, danach trachteten, die erstickende Tätigkeit, Heuchelei und Korruption des spanischen Lebens zu diagnostizieren (...) Das Institution hatte einen sogar noch bemerkenswerteren Abkömmling, die Residencia de Estudiantes, 1910 von Alberto Jimenez gegründet (…)

Die einzigen Parallelen, die mir einfallen, sind das einstige Black Mountan College in den USA und der jährliche zweitägige Geschichtsworkshop am Ruskin College, Oxford (bezeichnenderweise nicht Teil der Universität), wo bei einem Kostenbeitrag von 50 Pence pro Person tausend Studenten und Lehrer zusammen kommen, um Originaluntersuchungen vorzustellen und zu diskutieren, in einer Atmosphäre wie der eines Popfestivals. Es ist ein Fest der Bildung, weit entfernt von der Welt der Vizekanzler und akademischen Ausschüsse, die eine nur auf Abschluß gerichtete Schule für die gelangweilten Anwärter der privilegierten Jobs der Meritokratie haben.

In der weltweiten Studentenrevolte der späten 60er Jahre kam von einer Universität nach der anderen die Stellungnahme, daß die Periode der revolutionären Selbstverwaltung eine echte bildende Erfahrung war, der die Studenten begegnet waren. Am Hornsey Kunstkolleg sagte ein Lehrbeauftragter: "Es ist die größte erzieherische Sache, die ich je gekannt habe" und ein anderer nannte es "eine Woge von Kreativität, von der man in den Jahrbüchern höherer Bildung noch nie gehört hat."

Welch köstliche, aber vorhersagbare Ironie, daß es die wahre Erziehung, Selbstbildung nur geben sollte, indem man die kostspielige akademische Hierarchie ausschloß oder ignorierte. Die Studentenrevolte war ein Mikrokosmos von Anarchie, spontaner selbstbestimmter Aktivität, die die Machtstruktur durch ein Netz autonomer Gruppen und Individuen ersetzte. Die Erfahrung, die die Studenten machten, war die des Gefühls der Befreiung, das vom eigenen Fällen der Entscheidung und des Übernehmens seiner eigenen Verantwortung her kommt.

Es ist eine Erfahrung, die wir weit über die privilegierte Welt höherer Bildung hinaustragen müssen, in die Fabrik, die Nachbarschaft, das Alltagsleben der Leute überall.

Aus: Colin Ward: Anarchismus in Aktion, Verlag Impuls, Bremen 1978, S. 148-163

Originaltext: Degen, Hans-Jürgen: „Tu was du willst“. Anarchismus – Grundlagentexte zur Theorie und Praxis. Verlag Schwarzer Nachtschatten 1987. Digitalisiert von www.anarchismus.at


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