Anarchosyndikalistischer Widerstand - Aufzeichnungen 2

Der Inhalt des nachfolgend abgedruckten Briefes eines Düsseldorfer Syndikalisten macht deutlich, wie gut der Informationsaustausch zwischen den Syndikalisten im faschistisch beherrschten Deutschland und den im Ausland (insbesondere Spanien) agierenden Emigranten ablief. Der Brief wurde im April 1936 in Düsseldorf geschrieben und gelangte per Bote an seine Empfänger, eine illegal arbeitende Gruppe in Wiesbaden. Die Verbitterung seines Verfassers über die Apathie der deutschen Arbeiterklasse gegenüber dem Naziregime wird verständlich vor dem Hintergrund des von ihm geschilderten Terrors gegen die wenigen, die sich auflehnten:


Liebe Wiesbadener Freunde!


Schweigen ist in dieser staatsterroristischen Zeitperiode keineswegs Passivität den uns grausamst bedrückenden Faktoren gegenüber, sondern bedeutet in jedem unseren eigenen Falle, taktisches Ausweichen dem Staatsspäher überhaupt, um die Summe der Opfer nicht ins Dimensionale steigen zu sehen. Einmal tritt immer die Gelegenheit ein - wie auch jetzt durch den Besuch eines Freundes - wesentliches aus der Zeit zu vermitteln.

Dieser Standpunkt sollte im allgemeinen erkenntnisreiches Gemeingut aller unserer Freunde sein, dann würde es nicht so leicht vorkommen, wie es hier unserem Genossen Karl Becker ergangen ist, dessen Post man eine Zeitlang unter Kontrolle stellte, bis er plötzlich im Oktober 1935 aus uns unbekannten Gründen verhaftet und gemeinsam mit dem korrespondierenden Genossen vergangene Woche (8. April) vor dem Sondergericht in Hamm zu langer Zuchthausstrafe verurteilt wurde. Genosse Becker erhielt dreiundeinhalb Jahre Zuchthaus, die übrigen fünf und siebenundeinhalb Jahre.

Die Kameraden des Genossen Becker waren dieser Situation nicht gewachsen und verfielen in geistige Umnachtung, an der sie jetzt noch in der Provinzialanstalt untergebracht sind. Frevelhaftes Beginnen, weitere Opfer für dieses landsknechtige deutsche Eunuchentum, so sich Arbeiterschaft nennt, über das schon Elisee Reclus im Jahre 1868 nach einer geographischen Bereisung der Nord- und Ostseegebiete vor der Geographischen Gesellschaft in Paris - von dieser befragt: ob die Möglichkeit freiheitlicher Entwicklung in Deutschland vorliege, eine treffende Charakterisierung des deutschen Menschen in folgender Prägung gab: "Der Deutsche", sagt Reclus, "erkennt wohl seine reaktionäre Umwelt der Bedrückung und lacht darüber, aber er gehorcht, denn er liebt die Knechtschaft". Nach 68 Jahren ist das Durchschnittsmilieu - abgesehen von kleinen Abweichungen der Zahlenfrequenz des freiheitlichen Elements - fast dasselbe geblieben wie Reclus es seiner Zeit geschaut.

Hitler, der prädessionierte gelbe Gewerkschafter, gab dem deutschen Arbeiter nach außen die symbolhafte gelbe Montur und zudem noch "Arbeit und Brot!" oder in Wahrheit Brosamen. Dieser rückgratloseste aller Weltproleten, bar jeder Persönlichkeitswürde, ausgesprochene Landsknechtnatur, drängt sich nach dem hingeworfenen Brosamen, - folgend der Parole: "Daß wir hier knechtig arbeiten dürfen, verdanken wir unserem Führer!" Widerlicher Servilismus, wie er zur Zeit der Potentaten niemals ausgeprägt war.

Von allen gesellschaftlichen Regelungen ist dieser Trott ausgeschlossen. Rechts und links werden die Besten seiner Klasse niedergemäht, indem sie auf der Guillotine enden, oder bei grausam langer Zuchthausstrafe zu Grunde gehen. Was kümmert es dieser Hundeseele, wenn der "Manchester Guardian" Anfang des Jahres einen langen Bericht über den größten Monsterprozeß Europas hier aus Elberfeld bringt, bei dem nicht weniger als 650 Proleten - sechshundertfünfzig - wegen Vorbereitung zum Hochverrat angeklagt sind. Von diesen 650 Mann sind neun Mann in der Untersuchungshaft bestialisch zu Tode geschlagen - der "Manchester Guardian" bringt die Namen dieser Erschlagenen ausführlich und weitere 25 Mann sind von entmenschten Folterknechten bestialisch geprügelt worden. Alle diese 650 Proleten sind von einem Jahr bis lebenslänglich verurteilt worden. Das Blatt schreibt: "Die Angeklagten verteidigen sich selbst korrekt und aufrecht, da die vom Staat gestellten Verteidiger wegen Gefährdung ihrer Juristenlaufbahn ohne jegliche Bedeutung sind. Trotz der im Ausland wiedergegebenen Versichertung der Naziregierung, die Verhandlungen seien öffentlich, ist hier und überall in ähnlichen Fällen die Öffentlichkeit strengstens ausgeschlossen."

Ich habe dieser Nachricht der englichen Zeitimg fast keinen Glauben schenken wollen und bin nach dort gefahren, habe aber die Angaben dieser Zeitung dort bei Freunden grausig bestätigt bekommen. Man könnt allwöchentlich eine Ergänzung dieses Leidensberichtes geben, da fast keine Woche vergeht, in der nicht in der Umgebung 5 - 10 - 25 Mann wegen der besagten Hochverratsdelikte abgeurteilt werden. Jedoch der deutsche Landsknecht hascht nach Brosamen und - denunziert seinen Klassenfreund!

Trotz allem läßt sich dieser moderne Nero seine 99 prozentige Landsknechtgefolgschaft durch einen Wahlgang als Bluff für das Ausland bestätigen. Wie mir von Freunden der Grenzgebiete berichtet wird, hat man dort, um nicht von den ausländischen Reportern auf frischer Tat ertappt zu werden, die übliche trationelle Wahl vor sich gehen lassen, dagegen hat man das übrige "Volk der Knechte" restlos terrorisiert. Die Betriebsappelle vor der Wahl endeten mit der kategorischen Aufforderung öffentlich das "Ja" zu bezeichnen, andernfalls der Betreffende am Montag nach der Wahl den Betrieb nicht zu betreten braucht. Besagt alles! - Daher auch der nachhaltige Erfolg hier zu Lande und außerhalb desselben, daß dem "Riesenerfo1g" ein Riesenkatzenjammer folgte, so, daß man sich schämt, auch nur ein Wort hierüber zu verlieren. Ein Gaudium mehr für die Außenwelt!

Etwas über Spanien: Daß unsere Freunde, die von der I.F.d.A. (1) und der C.N.T. sich an der letzten Wahl beteiligt haben, wird Euch wohl bekannt sein. Durch die rege Verbindung, die wir immer aufrecht erhalten - wir hatten sogar durch einen Zufall noch am Samstag vor Ostern die Gelegenheit, eine persönliche Aussprache mit dem Genossen Helmut Rüdiger in Barcelona zu haben; eine Kameradin war dort - bin ich in der Lage, die näheren Umstände zu umreißen, die zu der Zeitkoalition führten.

Die Tatsache, daß die Wählerfrequenz der C.N.T. mit der I.F.d.A. fast 45 % der gesamten spanischen Wählerschaft ausmacht, des weiteren durch die moralische Verantwortung, alle Mittel einzusetzen, die geeignet erschienen, die Reaktion, die nach dem Aufstand in Asturien wieder stark in Erscheinung getreten war, zu brechen, und damit die vielen Opfer des Aufstandes aus den Gefängnissen zu bekommen, ist es zwischen den beiden oben genannten Bewegungen und der zentralistischen Gewerkschaftsorganisation U.G.T. (2) in Verbindung mit der Sozialdemokratie Spaniens zu einer Vereinbarung gekommen. ... Nachdem die U.G.T. und die Sozialdemokraten diesen Forderungeu stattgegeben und eine gewisse Zurückrevidierung zu den Grundsätzen der alten I.A.A. (3) zugesprochen, setzten sich unsere Freunde für die Wahl ein, die auch dann das Euch bekannte Resultat zeitigte. ...

Seid Ihr über den Tod des Genossen Fritz Oerter, der vergangenes Jahr im September starb, unterrichtet? Unser Freund Muhr aus Dülken ist vor einigen Wochen aus dem Konzentrationslager entlassen worden. Der Freund Johann Steinacker aus Elberfeld verläßt am 6. Juli das Zuchthaus in Lüttringhausen, wo er zweieinhalb Jahre zubrachte. Er wird jetzt 70 Jahre.

Anläßlich des Jahrestages der Niederwerfung der bayrischen Räterepublik brachte der "Stürmer" Mitte Februar auch das Bild Gustav Landauers mit der zynischen Randglosse: Dieser Hochverräter hätte die gerechte Strafe der Landsknechtkolben getroffen. Das sind Landsknechturteile entmenschter Pressemameluken. - Drei Wochen darauf las ich ein Werk aus der städtischen Bibliothek, betitelt: "25 Jahre Schauspielhaus Düsseldorf". Unter anderem finde ich dort von einem Künstler und Menschen, H. Frank, einen Artikel eben über diesen, unseren Freund Gustav Landauer geschrieben, der mir so wertvoll erschien, daß ich ihn abschrieb, um denselben der Nachwelt zu erhalten. Dort ein Landsknechturteil und hier das Urteil eines Künstlers und Menschen - welch ein abgrundtiefer Kontrast! In allen unseren ausländischen literarischen Erzeugnissen ist dieser Auszug aus Landauers Leben erschienen. Für Euch liegt auch ein Exemplar bei.

Lieber August, wann irgend möglich, dann lasse auch die Freunde aus der Hellmund-Gneisenaustraße und Edmund in Deiner Nähe Einsicht in den Brief, sowohl wie den Artikel über G. Landauer, gewähren. Sorge Du dafür, daß der Brief nach Einsicht vernichtet wird.

An alle recht herzliche Grüße.

Tony

Fußnoten:
1.) Iberische Föderation der Anarchisten - Federacion Anarquista Ibérica (FAI)
2.) Union General de Trabajadores (Sozialistische Gewerkschaft Spaniens)
3.) Gemeint ist die 1. Internationale, an deren Bakuninistischen Flügel sich die spanische CNT orientierte.

Aus: Theissen / Walter / Wilhelms: Anarcho-Syndikalistischer Widerstand an Rhein und Ruhr. Zwölf Jahre hinter Stacheldraht und Gitter. Originaldokumente. Ems-Kopp-Verlag 1980. Digitalisiert von www.anarchismus.at


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