Anarchosyndikalismus – Geburtshelfer der Revolution

(Kapitel 32 des lesenswerten Buches: "Freiheit Pur" von Horst Stowasser, das leider vergriffen ist.)

"Man muß die Arbeiter nicht so sehr dazu auffordern,
die Arbeit niederzulegen, als vielmehr dazu,
sie unter eigener Regie fortzuführen."

Errico Malatesta

Im Dezember 1922 kamen in Berlin Delegierte aus einem Dutzend europäischer und amerikanischer Länder zusammen, um eine anarchistische Gewerkschaftsinternationale zu gründen. Sie vertraten knapp zwei Millionen organisierter Mitglieder. Zehn Jahre später zählte die Internationale Arbeiter-Assoziation mehr als doppelt soviele Anhänger in dreiundzwanzig Ländern. Nach gut weiteren zehn Jahren waren von dieser mächtigen Bewegung nur noch kümmerliche Reste vorhanden.

Die einundzwanzig Jahre zwischen den beiden Weltkriegen markieren eine erste große Blütezeit des Anarchismus. Die libertäre Bewegung hatte endgültig den Bannkreis der kleinen, isolierten Zirkel verlassen und war zu dem geworden, was man damals eine "Massenbewegung" nannte. Ihre Ideen wurden in manchen Ländern geradezu volkstümlich. Eine Zeit großer Erwartungen brach an, und tatsächlich sollte es in dieser Phase erstmals gelingen, die libertäre Utopie in einer modernen Massengesellschaft im großen Stil zum Funktionieren zu bringen. Die neue Formel, mit der dies gelang, hieß Anarchosyndikalismus. Mit diesem Wort verband sich in den zwanziger und dreißiger Jahren die Hoffnung einer ganzen Generation.

Am Ende aber stand der Sieg der Bajonette, und die Hoffnung endete erneut unter den Stiefeln der Militärs. Ein neuer Gegner war auf die Bühne der Geschichte getreten, an dem das anarchistische Experiment vorerst scheiterte: der Faschismus. Zwar war dessen Triumph von relativ kurzer Dauer und währte etwa in Deutschland nur zwölf Jahre, aber die verbrannte Erde, die er zurückließ, hinterließ auch eine politische Wüste, in der es für lange Zeit keinen Platz mehr für soziale Utopien zu geben schien. Die anarchistische Bewegung war zerschlagen, ihre Hoffnungen ins Bodenlose gefallen. Nach 1945 versank ihr reicher Schatz an Erfahrungen und Experimenten im Vergessen einer Gesellschaft, in der einzig der Sieger als Inhaber von Wahrheit und Werten auftrat.

Der Wille zur Veränderung

Zu Beginn der zwanziger Jahre hatten die Erfahrungen in Rußland gezeigt, daß die libertäre Selbstorganisation der Menschen kein Hirngespinst war. Sogar das Scheitern dieser Revolution hatte indirekt der anarchistischen Kritik am Kommunismus recht gegeben. Aus diesen Fehlern wollte man lernen, und die erste Lehre war, daß das naive Vertrauen in Lenins Phrasen von 1917 ein tödliches Vertrauen war. Als logische Konsequenz daraus brauchte man endlich einen eigenen, soliden und gangbaren Weg, auf dem man die Höhenflüge der schönen Utopie auf den rauhen Boden der Wirklichkeit holen könnte. Funktionsfähige Umsetzungsmodelle waren gefragt: Revolution ohne Avantgarde, Produktion ohne Kapitalisten, Ordnung ohne Diktatur. Nicht gerade wenig, und vor allem keine Strategie, bei der die großen Sprüche zählten. Gerade die kleinen Schritte würden hierbei wichtig sein. In gewissem Sinne Neuland für Anarchisten, die sich bisher eher in der Pose des radikalen Kritikers eingerichtet hatten.

Aber die Einsicht war ebenso groß wie der Wunsch, die Utopie endlich zu verwirklichen. Das Konzept hierzu war in Ansätzen schon vorhanden und wartete nur darauf, umgesetzt zu werden. So wurde das möglich, was am ersten Weihnachtstag des Jahres 1922 die frierenden Delegierten aus Mexiko, Spanien und Chile mit den kälteresistenten Genossen aus Rußland und Norwegen in Berlin an einen Tisch brachte. Als der Kongreß am 2. Januar 1925 auseinanderging, gab es eine weltweite libertäre Organisation mit einem gemeinsamen Programm und einer konkreten Strategie. Noch zehn Jahre zuvor hätte man das kaum für denkbar gehalten.

Es schien, als hätten sich die Anarchisten das zu Herzen genommen, was der alte Kropotkin ihnen kurz vor seinem Tode ins Stammbuch geschrieben hatte: daß es höchste Zeit sei, vom bloßen Gerede über die Soziale Revolution zur unmittelbaren Vorbereitung der konstruktiven Arbeit überzugehen.

Sozialpartnerschaft oder Revolution?

Unter Gewerkschaften versteht man gemeinhin die Interessenvertretung der Arbeiterschaft. In ihrem heutigen Selbstverständnis begreift sich eine moderne Gewerkschaft als "Sozialpartner", der in Verhandlungen mit der Interessenvertretung der Arbeitgeber versucht, bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen. In der Praxis läuft das auf ein Dienstleistungsunternehmen mit Vereinskasse hinaus, das die Löhne der jeweiligen Inflation anpaßt – angesiedelt irgendwo zwischen Behörde, Traditionsverband und Geselligkeitsverein. Ihre Philosophie besteht im Interessenausgleich. Ihr ganzer Stolz ist es, ein wichtiger Teil des Rechts-, Sozial- und Politiksystems zu sein – dafür haben Generationen von Gewerkschaftern gerungen, ganz besonders in Deutschland. Keine Frage: Gewerkschaften sind heute eine tragende Stütze im modernen Industriestaat.

Das war keineswegs schon immer so. Ursprünglich hatten Gewerkschaften mit dem Staat nichts am Hut. Er spuckte auf sie, und sie pfiffen auf ihn. Arbeiter hatten sich zusammengeschlossen, um gemeinsam dagegen zu kämpfen, daß es ihnen so dreckig ging. Es gab damals keine Gewerkschaft, die nicht als Endziel eine andere Gesellschaft angestrebt hätte. Alle wollten ein Leben ohne Kapitalisten, die meisten auch ohne Obrigkeit. Vom Verschwinden des Staates zu träumen, gehörte m der Gewerkschaftsbewegung, bevor sich die deutschen Sozialdemokraten ihrer annahmen, sozusagen zum guten Ton. Sich als Partner der Kapitalisten zu verstehen, hätte als unanständig gegolten, Teil des Staatssystems zu sein, als lächerlich. Erst nachdem Theorien und Theoretiker in den Arbeitervereinen den Ton angaben, wurden Gewerkschaften zum Objekt für Parteien und tagespolitische Interessen: eine vielversprechende Spielwiese für karrierebewußte Funktionäre und profilierungsfreudige Politiker. Die klügsten unter ihnen hatten in den Arbeitern längst die kommende soziale Kraft erkannt, ohne die politisch nichts mehr ginge; die cleveren hatten gerochen, daß man im Gewerkschaftsapparat steil aufsteigen und Geld machen konnte. Dazu aber war es nötig, daß die Gewerkschaften das System nicht mehr bedrohten – sie mußten ein Teil von ihm werden.

So entstand die Philosophie der Sozialpartnerschaft, so wurde aus den Gewerkschaften ein Teil der Ausbeutungsmaschine. Für die Anarchisten sind Gewerkschaften stets das geblieben, was sie ursprünglich sein sollten: eine Organisationsform zur Erreichung der freien und sozialen Gesellschaft. Mit der Herausbildung des Anarchosyndikalismus bekam dieser diffuse Wunsch eine geschlossene Theorie und eine gangbare Praxis.

Das syndikalistische Rezept

Ihr zufolge sollte die Gewerkschaft - französisch syndicat - eine doppelte Funktion bekommen. Zum einen bleibt sie ein Werkzeug, um die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen hier und heute konkret zu verbessern. Zum anderen ist sie eine Organisation, aus der sich Strukturen der Zukunft entwickeln sollen. Die Syndikate mußten demnach dazu taugen, das bestehende System zu zermürben, anzugreifen und zu kippen, gleichzeitig in ihrem Schöße aber die Alternativen heranreifen zu lassen, die an die Stelle der alten Ordnung treten sollten. Dieses Konzept war destruktiv und konstruktiv zugleich. Damit bot es sich als Lösung für das alte Dilemma des Anarchismus an, der zwischen Negation und Utopie oft keine gangbare Brücke finden konnte.

Daß der Kampf um alltägliche Verbesserungen nicht bittstellernd und devot geführt wurde, versteht sich bei Anarchisten fast von selbst. Ihr Syndikalismus verstand sich als selbstbewußt und kämpferisch und entwickelte einen ganzen Fächer verschiedener Methoden und Formen der Aktion. Angefangen von Betriebsversammlungen, Protest und Demonstrationen über Streiks, Blockaden, Boykott und Sabotage reichte dieses Spektrum bis hin zu direkten Aktionen, Generalstreik, Arbeiterbewaffnung und Volksaufstand. Eine Horrorvision für jeden DGB-Funktionär unserer Tage, eine Hoffnungsvision für Millionen Arbeiter der Zwischenkriegszeit. Die libertären Gewerkschaften waren deswegen aber keine Rabaukenhaufen, sondern überaus disziplinierte Arbeiterorganisationen, die durchweg auch das taten, was man ›seriöse Gewerkschaftsarbeit nennt: Da gab es Streiks um Arbeitsverbesserungen, Tarifabschlüsse, Sicherheit am Arbeitsplatz und soziale Absicherung gerade so wie ein stetiges Engagement in sozialen Bereichen und allgemeinen gesellschaftlichen Fragen. Zwei Dinge aber waren grundlegend anders: Erstens behielten die Syndikalisten ein völlig anderes Ziel im Auge: die Überwindung dieser Gesellschaft. Deswegen blieben sie bei diesen Aktionsformen nicht stehen, sondern verhielten sich latent subversiv. Wann immer die Gelegenheit günstig schien, griffen sie in den reichen Fundus ihrer empfindlicheren Kampfformen. Sie waren ständig bereit, vom Lohnstreik zum Aufstand zu schreiten. Kleine Schritte waren der Weg, nicht das Ziel. Zweitens verhandelten oder kämpften bei ihnen nicht die Gewerkschaften für die Arbeiter, sondern die Arbeiter bestimmten selbst und direkt. Sie waren die Gewerkschaft. Der Anarchosyndikalismus kannte keinen anonymen Apparat; Funktionäre, Bürokratie und Tarifmauschelei hinter verschlossenen Türen waren ihm fremd. Es entschieden ausschließlich die Betroffenen selbst - entweder als Vollversammlung der Belegschaft oder als gewerkschaftliche Basisgruppe. Eine Organisationsform also, in der die Entscheidungsfindung von unten nach oben lief und dadurch die Gewerkschaft zu einer Art Volkshochschule für den libertären Alltag machte.

Genau hier beginnt der konstruktive Teil des syndikalistischen Konzepts. Die libertären Syndikate verstanden sich als Keimzelle der neuen Gesellschaft, als ihr verkleinertes Abbild, in dem sich schon in der Gegenwart ansatzweise die Lebensformen der Zukunft entwickeln sollten. Insofern waren sie weit mehr als Berufsorganisationen: ein Vorgriff auf das Ziel, ein Stück vorwegenommener Utopie. Das war natürlich nur begrenzt möglich, denn innerhalb der Unfreiheit ist die vollkommene Simulation von Freiheit nicht denkbar. Dennoch erfüllte der Anarchosyndikalismus seine Funktion als ›soziales Laboratoriums indem er um die klassischen gewerkschaftlichen Aktivitäten herum eine eigene Welt entstehen ließ, die für viele Menschen zur sozialen Heimat wurde. Hier bildeten sich neue Formen des Zusammenlebens, der Kultur, der Wirtschaft und des sozialen Umgangs heraus, in der eine ganze Generation selbstbewußter Menschen lernte, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen: vom Lohnkampf über Erziehung, Bildung und Kultur bis hin zum täglichen Einkauf entstand hier eine Schule der Selbstverwaltung, in der auch die kniffligsten Fragen von Kommunikation und Organisation praktisch bewältigt wurden. In diesen Inseln der Freiheit wurden ›libertäre Grundtugenden‹ zu alltäglichen Handlungsmustern. So entwickelte sich das, was sich nach den Vorstellungen mancher Anarchisten am "Tag der Revolution" angeblich von selbst einstellen sollte: libertäres Verhalten.

Weit entfernt davon, sich von der Welt abzuschotten, wurde diese soziale Kultur zu einer Art virulenter Gegengesellschaft, die die hierarchische Normgesellschaft des Staates von innen her untergrub. Zugleich schuf sie in der Nachbarschaft, in Betrieben, Stadtteilen, Genossenschaften und Kulturgruppen ein Klima des Vertrauens. Anarchisten waren keine anonymen Bestien mehr, sondern Nachbarn und Kollegen, deren Wort etwas galt. Dies hat vermutlich mehr zum Verständnis und zur Verbreitung des Anarchismus beigetragen als Tonnen von Agitationsliteratur.

In erster Linie aber bereitete sich die syndikalistische Arbeiterschaft auf die Übernahme der Gesellschaft vor, insbesondere der Betriebe. Und das tat sie mit System. Nach einem Umsturz, dem man nach Kräften zuarbeitete, sollten die im gewerkschaftlichen Umfeld gewachsenen Strukturen dazu dienen, die Selbstverwaltung einer ganzen Gesellschaft in Gang zu setzen. Dem kam die Erfahrung in der landesweiten Vernetzung einer großen Gewerkschaft ebenso zugute, wie die internationalen Kontakte, die sich zunehmend entwickelten. Vor allem aber war es nötig, exakte Kenntnisse über den Fluß von Waren, Werten und Rohstoffen zu erlangen. Produktionsablauf, Kalkulation, Transport, Austausch - das ganze ABC der Betriebs- und Volkswirtschaft rückte ins Interesse der einfachen Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich vorgenommen hatten, die neue Gesellschaft zu errichten. Ohne den nötigen Durchblick durch die komplexen Zusammenhänge einer modernen Gesellschaft war es weder denkbar, freiheitliche Alternativen zu entwickeln, noch einen möglichst reibungslosen Übergang zu schaffen.

So erklärte das anarchosyndikalistische Konzept praktisch die vorrevolutionäre Phase zu einem Trainingslauf für die nachrevolutionäre Zeit. Während gleichzeitig soziale Verbesserungen erkämpft, die autoritäre Gesellschaft geschwächt und die notwendigen Erfahrungen gesammelt wurden, standen immer mehr fähige Menschen in den Startlöchern, bereit, jene große Umwandlung zu vollziehen, die aus einer Revolte erst eine Revolution macht. Man brauchte dann eigentlich nur noch auf eine günstige Gelegenheit zu warten, und die lieferte das System mit seinen tiefen Krisen in schöner Regelmäßigkeit. Es leuchtet ein, daß die politische Taktik der Anarchosyndikalisten darin bestand, diesen Krisen nachzuhelfen. Jede Situation eines staatlichen Machtvakuums konnte so zum Ausgangspunkt der sozialen Revolution werden.

Dieses Konzept war in sich schlüssig und genügte sich selbst. Die herkömmliche Gewerkschaft war ein Hilfswerkzeug politischer Parteien gewesen, nun wurde sie zu einem eigenständigen Faktor. Hieraus erklärt sich die strikte Abgrenzung der libertären Syndikate gegen politische Parteien, Wahlen und Parlamente - eine Haltung, die in etwas irreführender Weise "apolitisch" genannt wurde. Gemeint war damit, daß diese Gewerkschaften kein Instrument einer politischen Organisation sein wollten - auch keiner anarchistischen! -, sondern autonome Körperschaften der Werktätigen. Es versteht sich von selbst, daß die Mitgliedschaft kein Glaubensbekenntnis zum Anarchismus voraussetzte. Die Syndikate vertraten den Standpunkt einer Klasse, keine Ideologie. Ihre Strukturen, Aktionsformen und Ziele waren libertär, das genügte.

So einfach war die Grundidee des anarchosyndicalisme, der in Frankreich ausgebrütet und schon bald als anarcosindicalismo in Spanien verfeinert wurde.

Die Geburt eines Konzeptes

Natürlich ist dieses ›Rezept‹ nicht küchenfertig vom Himmel gefallen. Schon Proudhon und Bakunin müssen als gedankliche Urheber angesehen werden, und schon immer waren Anarchisten gewerkschaftlich organisiert. In der Arbeiterbewegung der romanischen Länder war der libertäre Standpunkt ohnehin prägender als der sozialdemokratische. Als die Sozialisten 1889 die von der deutschen Sozialdemokratie beherrschte Zweite Internationale aus der Taufe hoben, machte man den Anarchisten zunehmend Schwierigkeiten. Es kam zu ›Säuberungen‹ und schließlich wurden alle "Antiparlamentarischen" ausgeschlossen. In diesem Klima und im Bewußtsein der Sackgasse, in die die "Propaganda der Tat" geführt hatte, besann man sich in libertären Kreisen auf die Zielsetzung der Ersten Internationale. 1895 erschien in Les Temps Nouveaux ein Aufsatz, in dem Fernand Pelloutier bereits das Grundmuster eines Syndikalismus vorstellte, der zu einer "praktischen Schule des Anarchismus" werden sollte. Pierre Monatte entwickelte die Idee weiter und wies euphorisch auf die Perspektiven hin, die sich aus der geballten Kraft dieses Konzepts ergeben könnten. Emile Pouget insistierte* auf der Eigenständigkeit des Syndikalismus und entwickelte mit seiner Schrift Le Sabotage eine neue Form des militanten, passiven Widerstandes. Arnold Roller schließlich entwickelte eine Theorie des Sozialen Generalstreiks und steuerte den Begriff der "direkten Aktion" bei, die zu einer ungemein populären Aktionsform wurde. Selbst der schillernde Sozialphilosoph Georges Sorel, der sich zeitlebens als kämpferischer Marxist verstand, wurde zum Theoretiker des militanten Syndikalismus und verhalf der Idee vor dem Ersten Weltkrieg in den französischen Gewerkschaften zum Durchbruch. In Spanien, wo sich das neue Konzept bereits auf reiche Erfahrung stützen konnte, trugen die Schriften von Soledad Gustavo und Anselmo Lorenzo zu einer praktischen Ausrichtung bei.

In einem sehr kontroversen Diskussionsprozeß hielt die Idee einer libertären Gewerkschaftsstrategie nur langsam Einzug in die anarchistische Bewegung. Vor allem die Anhänger einer ›reinen Lehre‹ befürchteten, daß Gewerkschaft "niemals etwas anderes sein kann, als eine legalitäre* und konservative Bewegung", wie Errico Malatesta sich ausdrückte. Diese Kritik, die vor allem auf die Gefahren der Funktionärsbürokratie hinwies, war im Rückblick auf die gemachten Erfahrungen durchaus verständlich. Sie verkannte allerdings die Innovationskraft des Konzepts und zeichnete sich angesichts der Chancen, die in dieser Idee steckten, durch konservative Phantasielosigkeit aus. Vor allem aber waren die Kritiker vom puristischen Flügel selbst ratlos, denn ihnen mangelte es überhaupt an irgendeiner Strategie. "Sie verkrochen sich", wie Daniel Guerin schreibt, "in ihren geistigen Klöstern und verbarrikadierten sich in Elfenbeintürmen, um dort eine Ideologie zu reproduzieren, die zunehmend irrealer wurde". Es war nur eine Frage der Zeit, bis so kluge Köpfe wie Malatesta sich zu einer differenzierteren Sichtweise durchrangen, und so dem pragmatischeren Weg zum Durchbruch verhalfen. Die Gefahr der Bewegung, zur Sekte zu verkommen, war gebannt.

Um 1910 ist der neue Kurs allgemein akzeptiert und wird vielerorts mit Elan umgesetzt. Da die Entwicklungen und Voraussetzungen in den verschiedenen Ländern unterschiedlich waren, ergaben sich hierbei starke zeitliche Verschiebungen. In Frankreich etwa lag die Blüte des Syndikalismus sehr früh, während sie in Deutschland, den Niederlanden, Portugal und Italien erst nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte. In den USA und einigen Ländern Lateinamerikas prägte er die Gewerkschaftsbewegung ohne Unterbrechung von der Jahrhundertwende bis in die vierziger Jahre, wohingegen er in Schweden einen landestypischen Sonderweg beschritt, der bis heute fortdauert. In Spanien, wo der Anarchosyndikalismus 1956 schließlich zur praktischen Umsetzung gelangte, erfuhr das Konzept seine differenzierteste Modernisierung. Populäre Autoren wie Ricardo Mella, Eleuterio Quintanilla oder Isaac Puente trugen zu einer weiten Verbreitung der Ideen bei, für die eine überaus reiche Presse zur Verfügung stand. Zeitungen wie die Solidaridad Obrera oder das Kulturmagazin La Revista Bianca erreichten enorme Auflagenhöhen. Fähige Organisatoren wie Salvador Segui und Angel Pestana beschleunigten das Wachstum, Praktiker wie Juan Peiro und Buenaventura Durruti entwickelten neue Aktionsformen. Entscheidende Impulse zu einer inhaltlichen Modernisierung, die zum Teil auch in sehr kontroversen Auseinandersetzungen vorangetrieben wurde, trugen Theoretiker wie Orobon Fernandez und Diego Abad de Santilldn bei. Der Deutsche Rudolf Rocker schließlich profilierte sich zu einem der profundesten Denker des Syndikalismus, und noch in den sechziger Jahren arbeiteten Helmut Rüdiger und Evert Arvidsson an einer Anpassung der Idee an die Gegebenheiten des modernen Sozialstaates.

Die direkte Aktion

Eine Hinterlassenschart der kämpferischen Gewerkschaften, die alle Zeiten überdauert hat, ist die Taktik der direkten Aktion. Sie erfreut sich ungebrochener Beliebtheit und ist auch außerhalb anarchistischer Kreise heimisch geworden.

Wie bei allen genialen Ideen liegt auch hier der Trick in der Einfachheit: Ein Problem wird direkt angegangen, die angestrebte Lösung zielt direkt auf die Ursache. Wenn Menschen hungern, bittet man nicht seinen Abgeordneten um Hilfe, sondern man gibt ihnen zu essen und nimmt es denen, die genug davon besitzen. Sind die Löhne zu niedrig, hört man auf zu arbeiten bis der Lohn wieder stimmt, statt seinen Gewerkschaftssekretär aufzufordern, mit dem Arbeitgeberverband in Verhandlungen um einen Manteltarifvertrag zu treten. Gibt es keine Schulen, so hofft man nicht auf die Kirche, den Staat oder den Sieg der Fortschrittspartei bei den nächsten Wahlen, sondern gründet selbst welche. Ist der Arbeitstag zu lang, tritt man nicht einer Partei bei, der es dereinst im Parlament gelingen möge, einen Arbeitsgesetzentwurf einzubringen, sondern macht einfach früher Feierabend - überall und gleichzeitig. Solches Vorgehen hat etwas von der erfrischenden Direktheit kleiner Kinder und der Dickköpfigkeit von Menschen, die zu oft an der Nase herumgeführt wurden. Die anarchistischen Arbeiter zwischen Feuerland und Finnischem Meerbusen haben dieses Prinzip sehr geliebt und es mit viel Phantasie auf alle möglichen und unmöglichen Situationen angewandt - meist mit durchschlagendem Erfolg. Staat und Unternehmer haben es ebenso eindeutig gefürchtet. Die militantesten Anarchos machten daraus in den zwanziger und dreißiger Jahren sogar eine sehr direkte Methode der Geldbeschaffung. Fehlte es an finanziellen Mitteln zur Organisierung eines Streiks, zur Gründung einer Schule oder zur Unterstützung der Familien inhaftierter Genossen, eröffneten sie kein Spendenkonto, sondern holten es sich direkt von dort, wo es lag: von der Bank. Moralische Bedenken schienen dabei keine große Rolle gespielt zu haben, standen sie doch auf dem Standpunkt, daß das Geld der Kapitalisten ohnehin von den Arbeitern erwirtschaftet wurde. Und wo immer es ging, wurden die Gefangenen nicht durch Petitionen aus dem Gefängnis befreit, sondern eben - direkt.

Das ähnelt natürlich in gewisser Weise dem Denkmuster der "anarchistischen Expropriation" wie es etwa bei der Bonnot-Bande gepflegt wurde. Aber die Historiker sind sich über einen entscheidenden Unterschied einig: Die syndikalistischen Diebe waren treuherzig wie pedantische Buchhalter, und ihre "revolutionäre Ehre" gebot ihnen, nur für "die Sache" zu stehlen. Das spätere Massenidol Durruti, dessen ganzes Leben der Inszenierung einer acción directa glich, pflegte seiner Organisation stets Abrechnungen vorzulegen, die auf die Pesete genau stimmten. Gegenüber der Presse erklärte seine Mutter einmal, daß sie ihn jedesmal, wenn er heimlich bei ihr auftauchte, neu einkleiden mußte - weil er immer so abgerissen herumlief.

Bis heute wirkt die direkte Aktion als Scheidemittel der Geister. Die einen erhoffen vom Staat, er möge ihre maroden Betriebe subventionieren und die Arbeitsplätze erhalten, die anderen besetzen den Betrieb und führen ihn in Selbstverwaltung weiter. Die einen beten zu Gott, er möge Kriege verhindern und Frieden bringen, die anderen blockieren Rüstungstransporte oder sabotieren den Wallenexport. Die einen wählen eine bestimmte Partei, die verhindern möchte, daß Wohnraumspekulation betrieben, Atomkraftwerke gebaut und Wale ausgerottet werden, die anderen besetzen Häuser, legen Baustellen lahm oder attackieren die Walfänger mit dem eigenen Schiff.

Die direkte Aktion ist, wie aus diesen Beispielen ersichtlich, eine Form des Handelns - nicht mehr. Sie läßt sich nicht überall einsetzen und schon gar nicht aus Prinzip. Sie ist weder ein Konzept, noch ersetzt sie eine Bewegung oder eine Strategie. Und ohne eine angemessene Handlungsethik wird aus diesem Mittel der Befreiung nur allzu leicht ein Werkzeug des Terrors. Richtig dosiert aber ist sie fast unschlagbar.

Die Wahl zwischen direkter Aktion und indirekter Aktion ist immer auch die Wahl zwischen Selbstvertretung und Stellvertretung, zwischen selbst handeln und handeln lassen. Selbst und direkt agieren bedeutet, geradlinig aufs Ziel zuzugehen. Das stärkt das Vertrauen in die eigene Kraft und schafft überdies unverhohlene Sympathie, denn es macht Dinge nachvollziehbar und zieht die Lacher auf die Seite der Listigen. Das dürfte erklären, warum direkte Aktionen bei allen staatsbejahenden Strömungen wie Sozialismus, Kommunismus, Sozialdemokratie, Parteien, Kirchen und sonstigen Sekten so unbeliebt sind.

Zur Aktualität der Struktur

Vom Anarchosyndikalismus als Klassenbewegung ist heute nicht viel übriggeblieben. Das liegt in erster Linie daran, daß die Klassenbewegung überhaupt auf den Hund gekommen ist. Die Arbeiterklasse, von der sich viele fragen, ob es sie überhaupt noch gibt, ist mit Sicherheit nicht mehr der Motor sozialer Veränderung. Die große Zeit der Gewerkschaften ist vorbei. Der Wunsch nach gesellschaftlicher Umwälzung ergibt sich heute aus anderen Spannungsfeldern als ausgerechnet dem des Elends westlicher Industriearbeiter.

Deshalb versuchen modernere anarchistische Szenarien, das genial-einfache Konzept des Anarchosyndikalismus zu übertragen. Hierzu müssen sie seine Struktur von ihren historischen Bindungen lösen, denn sie ist ja keineswegs an die Form der Gewerkschaft oder die Klasse des Industrieproletariats gekoppelt. Gewiß machen auch heute noch einige Gruppen wackerer Anarchas und Anarchos in Nostalgie und halten das Banner des Proletariats hoch. Solche historisierenden Versuche erschöpfen sich aber für gewöhnlich in einem Syndikalismus ohne Gewerkschaften und einem Klassenkampf ohne Klasse. Selbst die wenigen noch funktionierenden echten Anarcho- Gewerkschaften sind sich bei allen Achtungserfolgen, die sie gelegentlich erringen, ihrer Marginalisierung* durchaus bewußt. Nur in Spanien und Schweden und gibt es heute libertäre Gewerkschaften, die diesen Namen verdienen.

Das Originelle am Anarchosyndikalismus aber war ja nicht, daß die Anarchisten vor hundert Jahren ihr Herz für die Gewerkschaften entdeckten, sondern daß sie einen Weg fanden, wie die Lücke zwischen Utopie und Realität zu schließen wäre. Das ganze schlüssige Zusammenspiel zwischen sofortiger Verbesserung und revolutionärer Strategie, zwischen Aufbau und Subversion, zwischen kleinen Schritten und großen Sprüngen ist das eigentlich Interessante an dieser Strategie - ihr Wesen, das auch jenseits des historischen Zusammenhanges noch heute seine Bedeutung hat. Es dürfte nach wie vor der einzig plausible Weg sein, wie eine libertäre Gesellschaft zu erreichen wäre. Ein Weg, der der großen Masse unpolitischer Menschen die Möglichkeit gäbe, die Veränderung auch herbeizuführen, deren Notwendigkeit sie möglicherweise spüren. Ein Weg, auf dem die Anarchisten ihre ungeliebte Funktion einer politischen Elite überwinden und das Risiko von Chaos, Diktatur, Krieg und Hungersnot bei der Geburt der freien Gesellschaft kalkulierbar machen könnten.

Literatur:

  • Max Nettlau: Anarchisten und Syndikalisten, Teil I (= Geschich. d. Anarchie, Bd V) Vaduz 1985, Topos, 551 S. /
  • Enrico Malatesta: Anarchismus- Syndikalismus Berlin 1978, Libertad, 40 S.
  • Emile Pouget: Der Syndikalismus Berlin o.J., Der Syndikalist, 16 S.
  • Arnold Roller: Die direkte Aktion Bremen o.J., Impuls, 85 S.
  • Arnold Roller: Der soziale Generalstreik Berlin o.J., 48 S.
  • Rudolf Rocker: Die Prinzipienerklärung des Syndikalismus Berlin 1924, Der Syndikalist, 20 S.
  • Bertrand Russell: Wege zur Freiheit – Sozialismus, Anarchismus, Syndikalismus Frankfurt/M. 1971, Suhrkamp, 173 S.
  • G. Yvetot: ABC des Syndikalismus Hamburg o.J. (1973?), MaD, 20 S.
  • Evert Arvidsson: Der freiheitliche Syndikalismus im Wohlfahrtsstaat Darmstadt 1960, Die Freie Gesellschaft, 51 S.
  • Ahto Uisk: Syndikalismus – eine Ideenskizze Berlin 198 5, Libertäres Forum, 37 S.
  • Helmut Rüdiger: Sozialismus in Freiheit (Aufsätze) Wetzlar 1976, Büchse der Pandora, 156 S.


Originaltext: http://www.free.de/schwarze-katze/texte/as17.html


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