Errico Malatesta - Syndikalismus und Anarchismus (1925)

(Pensiero e Volonta, 16. April 1925)

Die Beziehungen zwischen der Arbeiterbewegung und den fortschrittlichen Parteien sind ein altes und abgedroschenes Thema. Dennoch ist es aktuell und wird so lange aktuell sein, wie es auf der einen Seite Massen mit dringenden Bedürfnissen gibt, die von - bisweilen brennenden - doch stets unklaren und unbestimmten Bestrebungen nach einem besseren Leben erfüllt sind, und auf der anderen Seite Menschen und Parteien, die eine ganz bestimmte Vorstellung von einer wünschenswerten Zukunft haben, über geeignete Mittel verfügen, sie zu verwirklichen und sich um die Zustimmung der Massen bemühen, ohne deren Beteiligung ihre Pläne und Hoffnungen stets unverwirklichbare Utopien bleiben würden. Diese Frage ist jetzt umso wichtiger, als nach den Katastrophen der Kriegs- und Nachkriegszeit sich alle - und sei es auch nur geistig - auf die Wiederaufnahme der Aktivität vorbereiten, die dem Zusammenbruch der noch wütenden, doch bereits ins Wanken geratenen Gewaltherrschaften folgen muß.

Daher werde ich zu klären versuchen, welche Haltung die Anarchisten meiner Meinung nach gegenüber den Arbeiterorganisationen einnehmen müßten. Heute, so glaube ich, gibt es niemanden oder fast niemanden unter uns, des die Nützlichkeit und Notwendigkeit der Arbeiterorganisationen als Mittel des materiellen und moralischen Erhebung der Massen, als fruchtbares Feld der Propaganda und unerläßliche Kraft für die von uns angestrebte gesellschaftliche Umgestaltung leugnet. Es gibt niemanden mehr, der nicht verstünde wie wichtig die Organisation mehr als anderen gerade uns Anarchisten ist die wir glauben, daß die neue gesellschaftliche Organisation nicht mit Gewalt von einer neuen Regierung durchgesetzt werden darf und kann, sondern Ergebnis der freiwilligen Beteiligung aller sein muß. Im übrigen ist die Arbeiterbewegung heute ein mächtiger und universeller Faktor: ihn zu bekämpfen hieße sich zum Komplizen der Unterdrücker machen und ihn zu ignorieren hieße sich außerhalb des Lebens des Volkes stellen und zu ewiger Ohnmacht verurteilen.

Doch obwohl wir uns alle oder fast alle darin einig sind, daß es für die Anarchisten nützlich und notwendig ist, aktiv an der Arbeiterbewegung teilzunehmen, sie zu fördern und überhaupt zu initiieren, gehen unsere Ansichten über die Art und Weise, die Bedingungen und die Grenzen dieser Beteiligung oft auseinander.

Es gibt viele Genossen, die aus der Arbeiterbewegung und dem Anarchismus ein und dasselbe machen wollen: überall wo sie können, zum Beispiel in Spanien und Argentinien und zum Teil auch in Italien, Frankreich und Deutschland, versuchen sie, den Arbeiterorganisationen ein deutlich anarchistisches Programm zu geben. Sie bezeichnen sich als „Anarcho-Syndikalisten“ oder als „revolutionäre Syndikalisten“ gemeinsam mit anderen, die alles andere als anarchistisch sind.

Es ist also zweckmäßig klarzustellen, was man unter „Syndikalismus“ versteht. Wenn es sich um die gewünschte Zukunft handelt, wenn man also unter Syndikalismus die Form gesellschaftlicher Organisation versteht durch die die kapitalistische und staatliche Organisation ersetzt werden soll, dann ist er entweder das gleiche wie die Anarchie und daher ein Begriff mehr, der nur dazu dient die Ideen zu verwirren, oder aber er ist etwas anderes als die Anarchie und kann daher von den Anarchisten nicht akzeptiert werden. In der Tat gibt es unter den Zukunftsvorstellungen dieses oder jenes Syndikalisten auch rein anarchistische, doch gibt es auch Ideen, die unter anderem Namen und mit anderen Formen die autoritäre Struktur reproduzieren, die Ursache der Übel ist, die wir heute beklagen und daher nichts mit der Anarchie zu tun haben.

Aber ich möchte mich hier nicht mit dem Syndikalismus als gesellschaftlichem System befassen, denn dieses kann nicht bestimmend für die gegenwärtige Haltung der Anarchisten gegenüber der Arbeiterbewegung sein.

Hier geht es um die Arbeiterbewegung im kapitalistischen und staatlichen System, und der Begriff Syndikalismus umfaßt alle Arbeiterorganisationen, alle Gewerkschaften, deren Zweck es ist, der Unterdrückung durch die Unternehmer Widerstand entgegenzusetzen und die Ausbeutung der menschlichen Arbeit durch die Eigentümer der Rohstoffe und Arbeitswerkzeuge zu verringern oder abzuschaffen.

Dazu möchte ich sagen, daß diese Organisationen nicht anarchistisch sein können und daß man dies auch nicht verlangen sollte, denn wären sie anarchistisch, würden sie ihren Zweck verfehlen und nicht den Zielen dienen, die die an ihnen beteiligten Anarchisten sich gesetzt haben.

Die Gewerkschaft hat den Zweck, heute die gegenwärtigen Interessen der Arbeiter zu schützen und ihre Arbeitsbedingungen so weit wie möglich zu verbessern, solange man nicht in der Lage ist, die Revolution und mit ihr die jetzigen Lohnabhängigen zu freien Arbeitern zu machen, die sich frei zum Vorteil aller assoziieren.

Damit die Gewerkschaft ihren besonderen Zweck, das heißt Verteidigung der gegenwärtigen Interessen der Arbeiter und Verbesserung ihrer Situation erfüllen und gleichzeitig Mittel der Aufklärung und Agitationsfeld für eine zukünftige radikale Umgestaltung der Gesellschaft sein kann, muß sie alle Arbeiter in ihren Reihen sammeln, oder doch zumindest all die Arbeiter, die eine Verbesserung ihrer Lage anstreben und die man dazu bringen kann, in irgendeiner Form Widerstand gegenüber den Unternehmern zu leisten. Will man vielleicht warten, bis die Arbeiter zu Anarchisten geworden sind, bevor man sie auffordert sich zu organisieren und bevor man sie in die Organisation aufnimmt und auf diese Weise die natürliche Reihenfolge von Propaganda und psychologischer Entwicklung der Individuen umkehren, indem man die Widerstandsvereinigung erst dann schafft, wenn diese nicht mehr nötig ist, weil die Masse schon imstande wäre, die Revolution zu machen? In diesem Fall wäre die Gewerkschaft eine Kopie der anarchistischen Gruppierung und bliebe machtlos sowohl im Hinblick auf zu erzielende Verbesserungen als auch im Hinblick auf die Revolution. Oder aber will man das anarchistische Programm auf die Mitgliedskarte schreiben und sich mit einer formalen, unbewußten Zustimmung zufriedengeben und auf diese Weise Leute um sich sammeln, die den Organisatoren wie Schafe folgen oder bei der ersten Gelegenheit, bei der man sich ernsthaft als Anarchist erweisen müßte, zum Feind überlaufen?

Der Syndikalismus (ich meine den praktischen, nicht den theoretischen, den sich jeder nach seinen eigenen Vorstellungen zurechtformt) ist seinem Wesen nach reformistisch. Alles, was man sich von ihm erhoffen kann, ist, daß die Reformen, die er fordert und durchsetzt, der Aufklärung und Vorbereitung auf die Revolution dienen und den Weg für immer größere Forderungen offen lassen.

Jede Verschmelzung oder Verwechslung zwischen der anarchistischen und revolutionären Bewegung und der syndikalistischen Bewegung führt schließlich dazu, daß entweder die Gewerkschaft unfähig wird, ihren spezifischen Zweck zu erfüllen, oder daß der Geist des Anarchismus geschwächt, verfälscht, ausgelöscht wird.

Die Gewerkschaft kann mit einem sozialistischen, revolutionären, anarchistischen Programm entstehen und mit einem solchen sind die verschiedenen Arbeiterorganisationen im allgemeinen ja auch entstanden. Doch bleiben sie dem Programm treu, bis sie schwach und machtlos sind, das heißt bis sie nicht mehr aktionsfähige Organe, sondern nur noch Propagandavereinigungen sind, die von wenigen begeisterten und überzeugten Personen initiiert und gelenkt werden. In dem Maße jedoch, wie es ihnen gelingt, die Massen zu mobilisieren und die nötige Stärke zu erringen, um Verbesserungen zu fordern und durchzusetzen, wird das ursprüngliche Programm zu einer leeren Formel, auf die man nicht mehr achtet; die Taktik wird nebensächlichen Erfordernissen angepaßt und die Begeisterten der ersten Stunde passen sich entweder selber an oder müssen den „praktischen“ Leuten Platz machen, die sich mit der Gegenwart befassen, ohne sich um die Zukunft zu kümmern.

Sicherlich gibt es Genossen, die zwar in den vordersten Reihen der Gewerkschaftsbewegung stehen, aber trotzdem aufrichtige und begeisterte Anarchisten bleiben, wie es auch Zusammenschlüsse von Arbeitern gibt, die sich von anarchistischen Ideen leiten lassen. Und es wäre eine allzu leichte Kritik, wollte man die tausend Fälle herausstreichen, in denen diese Menschen und diese Gruppierungen in der alltäglichen Praxis in Widerspruch zu den anarchistischen Vorstellungen geraten. Harte Notwendigkeit? Einverstanden. Man kann keinen reinen Anarchismus praktizieren, wenn man gezwungen ist, mit Unternehmern und Behörden zu verhandeln; man kann nicht die Massen selbst handeln lassen, wenn diese Massen sich zu handeln weigern und nach Führern verlangen. Aber warum den Anarchismus mit etwas verwechseln, was er nicht ist, warum sollten wir als Anarchisten die Verantwortung für die Vergleiche und Arrangements übernehmen, die gerade deshalb erforderlich sind, weil die Masse nicht anarchistisch ist, nicht einmal dann, wenn sie einer Organisation angehört, die das anarchistische Programm in ihren Gründungsakt geschrieben hat?

Meiner Meinung nach dürfen die Anarchisten nicht anarchistische Gewerkschaften als Ziel vor Augen haben, sondern müssen in ihren Reihen als Individuen, Gruppen und föderierte Gruppen für die anarchistischen Ziele tätig werden. Ebenso wie es Forschungs- und Diskussionsgruppen, Gruppen für die schriftliche oder mündliche Propaganda in der Öffentlichkeit, genossenschaftliche Gruppen, Gruppen in den Fabriken, auf den Feldern, in den Kasernen, in den Schulen usw. usw. gibt oder geben sollte, sollten sich besondere Gruppen in den verschiedenen Organisationen bilden, die den Klassenkampf führen.

Das Ideal bestünde natürlich darin, daß alle Anarchisten wären und die Organisationen in anarchistischer Weise funktionieren würden: doch ist klar, daß man sich dann nicht mehr für den Kampf gegen die Unternehmer organisieren müßte, weil es ja keine Unternehmer mehr geben würde. Angesichts der herrschenden Umstände, angesichts des Entwicklungsgrades der Massen, in denen sie tätig sind, sollten die anarchistischen Gruppen nicht fordern, daß die Organisationen handeln, als wären sie anarchistisch, sondern zu erreichen suchen, daß diese sich der anarchistischen Taktik so weit wie möglich nähern. Wenn es für das Leben der Organisation und die Bedürfnisse und den Willen der Organisierten wirklich notwendig ist, Vergleiche abzuschließen, nachzugeben, unangenehme Kontakte mit der Autorität und den Unternehmern in Kauf zu nehmen, dann muß es eben geschehen, doch sei dies Sache der anderen und nicht der Anarchisten, deren Aufgabe darin besteht, auf die Unzulänglichkeit und Bedenklichkeit sämtlicher Verbesserungen hinzuweisen, die man im kapitalistischen System erreichen kann, und den Kampf zu immer radikaleren Lösungen hin voranzutreiben.

Die in den Gewerkschaften aktiven Anarchisten müssen dafür kämpfen, daß diese allen Arbeitern offen bleiben, welche Meinung sie auch vertreten, welcher Partei sie auch angehören mögen, unter der alleinigen Voraussetzung der Solidarität im Kampf gegen die Unternehmer. Sie müssen sich dem korporativen Geist und jeglichem Anspruch auf das Monopol der Organisation und der Arbeit widersetzen. Sie müssen verhindern, daß die Gewerkschaften von den Politikern zu wahlpolitischen oder anderen autoritären Zwecken ausgenutzt werden, sie müssen für direkte Aktion, Dezentralisierung, Autonomie, freie Initiative eintreten und sie praktizieren. Sie müssen sich darum bemühen, daß die organisierten Arbeiter lernen, direkt am Leben der Organisation teilzuhaben und keine Führer und ständige Funktionäre zu benötigen.

Kurz, sie müssen Anarchisten bleiben, stets mit den Anarchisten vertraut bleiben und sich vor Augen halten, daß die Arbeiterorganisation kein Zweck, sondern nur eines der Mittel ist, das - so wichtig es auch sein mag - der Vorbereitung der Anarchie dient.

Aus: Errico Malatesta - Gesammelte Schriften, Band 2; Karin Kramer Verlag Berlin, 1980

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