Rudolf Rocker - Der Kampf ums tägliche Brot
Revolutionen kommen selten in der „rechten Zeit“. In Perioden gesellschaftlicher Zersetzung begreift man zwar die Notwendigkeit einer gründlichen Umwälzung, die sich aus der ganzen Entwicklung der gesellschaftlichen Gegensätze folgerichtig ergeben muß, aber der Zeitpunkt des Zusammenbruchs bleibt äußerst unbestimmt. So kommt es, daß in der Phase, welche dem Ausbruch der revolutionären Ereignisse unmittelbar vorausgeht, die Dinge sich gewöhnlich so überstürzen, daß die Revolutionäre selber von den Begebenheiten überrascht werden und in der Regel auf nichts vorbereitet sind. Das ist auch die Ursache, warum sich jede Revolution in der ersten Phase ihres Entstehens so zögernd und tastend vorwärts bewegt und ihre Kräfte häufig in nutzlosen Kleinigkeiten verzettelt, anstatt rasch entschlossen die wichtigsten Hindernisse ihres endgültigen Triumphes aus dem Wege zu räumen und der schöpferischen Initiative neuer Ideen die Bahn zu ebnen.
Erst allmählich entwickelt sich bei den aufständigen Massen das Bewußtsein der Kraft, die ihnen innewohnt, und drängt sie zu radikaleren Forderungen und kühneren Handlungen. Hat nun die Revolution einen solchen Umfang angenommen, der sie in den Stand setzt, ihre ersten tastenden Versuche zu überwinden und zu einschneidenden Veränderungen des gesellschaftlichen Lebens zu schreiten, so werden ihre Errungenschaften ohne Zweifel größer sein und die Menschen ein gut Stück weiterführen, als wenn diese ersten Versuche von Anfang an gestört werden und dadurch eine weitere Entwicklung der schöpferischen Volksinstinkte unterbunden wird. Eine soziale Revolution aber, welche ungleich mehr als ein gewöhnlicher politischer Staatsstreich mit revolutionären Mitteln bedeutet, und die sich mit einer einfachen Namensänderung des parteipolitischen Aushängeschildes nicht begnügen kann, bedarf erst recht der Möglichkeiten für eine zielsichere Entfaltung ihrer schöpferischen Kräfte, da ihren Trägern von Anfang an eine grundlegende Veränderung aller gesellschaftlichen Einrichtungen, eine Erneuerung aller Formen des sozialen Lebens als Ziel vor Augen schwebt.
Es ist daher auch grundfalsch und ein verhängnisvoller Irrtum, wenn man in der Revolution lediglich den gewaltsamen Umsturz alter Gesellschaftsformen erblicken will und ausschließlich die rein destruktive Seite ihres Wirkens in Betracht zieht. Der zerstörende Charakter einer Revolution ist lediglich eine ihrer Begleiterscheinungen, aber er erschöpft keineswegs ihr innerstes Wesen. Denn nicht bloß in dem, was sie zerstört, sondern ungleich mehr in dem, was sie Neues schafft und zur Entwicklung bringt, liegt die eigentliche Bedeutung der Revolution. Es sind letzten Endes ihre schöpferischen Tendenzen und Errungenschaften, nach welchen man später die soziale und historische Bedeutung einer Revolution beurteilen wird.
Eine Revolution ist daher viel mehr und vielfach etwas ganz anderes wie eine gewöhnliche Revolte, obgleich auch diese von revolutionären Ideen getragen sein kann. Eine Revolution ist die Entfesselung aller bisher im Schoße der alten Gesellschaft wirkenden neuen Kräfte und Elemente, die eine Neuordnung des gesellschaftlichen Lebens erstreben, und die nun, da der Moment der Reife gekommen ist, die alten Formen sprengen, um sich ein neues Leben nach ihren eigenen Bedürfnissen zu formen, dem Kinde vergleichbar, das im letzten Monat der Schwangerschaft die Hülle sprengt, um ein selbständiges Dasein zu beginnen. Und eine weitere Charakteristik der Revolution besteht darin, daß diese Erneuerung der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse nicht von oben diktiert wird, sondern aus der direkten und unmittelbaren Aktion breiter Volksmassen emporblüht.
Aber diese Verjüngung des sozialen Lebens durch die Revolution ist nur möglich durch die ununterbrochene Wirksamkeit der revolutionären Kräfte im Schoße der alten Gesellschaft, durch ihren inneren Zusammenschluß und die mehr oder weniger planmäßige Art ihres Vorgehens. Durch ihre unermüdliche Agitation innerhalb der alten Gesellschaft, ihre zersetzende Kritik der alten Lebensformen und die Entwicklung ganz neuer moralischer Wertschätzungen, gelingt es den Revolutionären allmählich, eine neue geistige Atmosphäre zu schaffen, durch deren stete Ausbreitung das Prestige der alten Einrichtungen und ihrer Träger fortgesetzt geschwächt wird, bis es endlich gänzlich in die Brüche geht. Breitere Schichten der unterdrückten Massen begreifen allmählich die Notwendigkeit einer gründlichen Änderung der sozialen Lebensverhältnisse und erfassen instinktiv die Möglichkeit neuer gesellschaftlicher Formen, welche den Interessen der Allgemeinheit entsprechen. Und dieses zunächst rein instinktive Erfassen neuer Lebensmöglichkeiten entwickelt sich bei vielen nach und nach zum bestimmten Bewußtsein.
Ohne diese revolutionäre Erziehung der Massen wäre eine wirkliche Revolution überhaupt nicht möglich; sie bildet die erste Vorbedingung für die Möglichkeit der Revolution schlechthin. Aber ihre eigentliche und entscheidende Bedeutung bekommt die revolutionäre Agitation erst, wenn sie in den Alltagskämpfen um die tägliche Existenz ihren Ausdruck findet und sich sozusagen in praktische Aktion umsetzt. In den ununterbrochenen Kämpfen um die täglichen Notwendigkeiten des materiellen Lebens erstarken die Kräfte der Massen, entwickelt sich ihr Selbstbewußtsein, ihre Initiative, ihr soziales Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Kämpfe um wirtschaftliche und soziale Verbesserungen oder um größere politische Rechte und Freiheiten sind sozusagen die Vorpostengefechte der Revolution. Sie erwecken in den Massen die Instinkte des Widerstands und entwickeln das Gefühl ihrer menschlichen Würde. Je stärker diese Gefühle in den Massen vorhanden sind, je mehr ihre Hirne von den Ideen eines neuen gesellschaftlichen Lebens erfüllt sind, desto rascher schreiten wir der kommenden Revolution entgegen, desto größere Möglichkeiten sind uns gegeben für die endgültige Befreiung der Massen. Aus diesem Grunde dürfen wir die große Wichtigkeit der revolutionären Erziehung der Massen und ganz besonders die Bedeutung der alltäglichen Kämpfe im wirtschaftlichen und politischen Leben der Gesellschaft nie außer acht lassen, wenn wir der Revolution die Wege bereiten und eine bessere Zukunft vorbereiten wollen.
Wenn wir die Revolution in diesem Sinne auffassen und diesen Maßstab an die Novemberereignisse des Jahres 1918 anlegen, so können wir uns nicht verhehlen, daß jene Begebenheiten herzlich wenig mit einer wirklichen Revolution zu tun hatten. Die deutsche Novemberrevolution war nicht der elementare Ausbruch eines empörten Volkes, das mit fester Entschlossenheit an eine gründliche Änderung seiner bisherigen Lebensbedingungen herangeht; es war vielmehr der rettungslose Zusammenbruch eines Systems, das sich im Kriege vollständig abgewirtschaftet hatte und nun unter den siegreichen Waffen seiner militärischen Gegner zum Abdanken gezwungen war. Es war nicht der Wille eines erwachten Volkes, der hier zum Ausdruck kam, sondern das Machtgebot der alliierten Regierungen, welches die Zertrümmerung des kaiserlichen Regimes herbeiführte. In dieser Tatsache liegt eigentlich die ganze Tragödie der deutschen Revolution.
In der Tat, was konnte man von einer Revolution erwarten, wenn das Zentralorgan der Sozialdemokratie, die bisher den stärksten Einfluß auf die werktätigen Massen in Deutschland hatte, noch am Vorabend der revolutionären Novemberereignisse seinen Lesern sagen zu müssen glaubte, daß das deutsche Volk für eine Republik noch nicht reif sei. Gewiß gab es auch eine Anzahl entschlossener Revolutionäre unter der deutschen Arbeiterschaft, aber ihre Zahl war so gering, daß sie an der Lage der Dinge nichts ändern konnten.
Die deutsche Revolution war kein Ergebnis eines inneren Dranges, der jahrzehntelang in einem Volke brauste und gärte, bis er endlich die alten Formen zum Bersten brachte und sich zu selbständigem Leben durchrang. Sie war bloß das Endergebnis eines verlorenen Krieges, die letzte Rettungsplanke, die allein aus der zusammengebrochenen alten Herrlichkeit zum Frieden führen konnte. Es fehlte ihr darum der innere Schwung, die lebendige Initiative, der schöpferische Drang, die eine Bewegung erst zur Revolution machen. Es gab wohl kaum eine andere Revolution, welche so erschreckend arm an schöpferischen Gedanken war und sich fast ausschließlich mit schlechten Kopien alter Vorbilder begnügte, wie die deutsche Novemberrevolution 1918.
Allerdings gab es vor dem Kriege auch keine sozialistische Arbeiterbewegung, die in allen ihren theoretischen Voraussetzungen so hoffnungslos dogmatisch eingestellt und in ihrer praktischen Tätigkeit so wenig an die schöpferische Initiative der Massen appellierte wie die deutsche. Die ganze deutsche Sozialdemokratie war fast nichts anderes als eine riesige Wahlmaschine, deren Tätigkeit sich nahezu ausschließlich in der Vorbereitung und Durchführung der einzelnen Wahlgänge erschöpfte. So konnte es denn nicht ausbleiben, daß die breiten Massen der deutschen Arbeiterschaft, welche der Sozialdemokratie Heeresfolge leisteten, sich um das Wie einer sozialen Umwälzung überhaupt nicht kümmerten und alles Heil von oben erwarteten. In keinem anderen Lande war denn auch die Führergläubigkeit der Massen so stark entwickelt, wie in Deutschland. Die Gewerkschaften aber, die in ihrer Entwicklung vollständig von sozialdemokratischen Ideengängen beeinflußt waren, versandeten völlig im seichtesten Reformismus und bildeten lediglich noch Vermittlungsorgane zwischen Kapital und Arbeit, die jede revolutionäre Initiative weit von sich wiesen.
Niemals beschäftigte man sich in den Gewerkschaften, noch in den sozialistischen Parteiorganisationen mit der Frage der Übernahme der Produktion durch die wirtschaftlichen Verbände der Arbeiter. Niemals legte man den Arbeitern nahe, daß das Hauptaugenmerk der sozialistischen Erziehung sich auf die Entwicklung der administrativen Fähigkeiten in der Arbeiterklasse richten müsse, die sie allein in den Stand setzen können, die Reorganisation der Produktion und des Konsums auf sozialistischer Basis vorzubereiten und durchzuführen. In der ganzen gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Literatur Deutschlands vor dem Kriege gibt es keine einzige Broschüre, in welcher man diesen wichtigen Fragen nähergetreten wäre, um konstruktive Richtlinien zu entwerfen, die für die praktische Verwirklichung des Sozialismus von ausschlaggebender Bedeutung sind. Im Gegenteil, man verschrie alle diejenigen, welche die unbedingte Notwendigkeit einer solchen Betätigung erkannten, als unverbesserliche Utopisten, die vom „wissenschaftlichen Sozialismus“ keine blasse Ahnung hätten.
War es daher ein Wunder, wenn die sogenannte deutsche Revolution über hohle Schlagworte nicht hinauskam und besonders auf wirtschaftlichem Gebiete vollständig versagte? Die ganze geistige Einstellung, welche die deutsche Arbeiterschaft durch die Sozialdemokratie erfahren hatte, brachte es eben mit sich, daß sie den wirtschaftlichen und sozialen Problemen völlig ratlos gegenüberstand, als ihr die Revolution die Macht in die Hände spielte.
Als der Krieg militärisch zu Ende war und das alte System in sich zusammenstürzte, konnte es nicht ausbleiben, daß breite Massen deutscher Arbeiter sich von der Sozialdemokratie abwendeten, die während der ganzen Zeit des Krieges mit den Trägern des alten Systems durch dick und dünn gegangen war und in jedem kritischen Moment ihren ganzen Einfluß in die Wagschale warf, um das alte Regime am Leben zu erhalten. Wenn man heute Herrn Ebert und seinen Getreuen vorwirft, daß sie während des Krieges Landesverrat verübt hätten, so tut man ihnen bitteres Unrecht, und die Ankläger, die sich in ihren Beschuldigungen lediglich von politischen Augenblickserwägungen leiten lassen, wissen das selber am besten. Damals aber dachte man auf jener Seite nicht daran, solche Anklagen zu erheben, wußte man doch zu gut, daß sich das bedrohte Bürgertum nur an den Krücken der Sozialdemokratie wieder aufrichten konnte. In den Massen aber wurden viele an der Sozialdemokratie irre, deren Träger auch nach dem Kriege überall versagten, wo es galt, einer neuen Zukunft die Wege zu bahnen. Und da es leichter ist, ein „J'accusel“ (Ich klage an!) in die Welt zu schleudern, als geschehene Dinge richtig zu deuten und aus der gewonnenen Erkenntnis Nutzen für die Zukunft zu ziehen, so klagten die von Hunger und Entbehrungen aller Art zermürbten Massen die sozialdemokratischen Führer des Verrats an der Arbeiterbewegung an, ohne zu begreifen, daß die ganze Stellung der Partei zum Kriege durch ihre geistige Einstellung bedingt und schon im voraus gegeben war.
Sogar die geistigen Wortführer der Opposition, die sich während des Krieges innerhalb der alten Partei entwickelt hatte und sich später von ihr abspaltete, schienen nicht zu verstehen, daß es sich hier weniger um den Verrat einer bestimmten Führergruppe handelte, als um die schauerliche Auswirkung einer Methode, auf welche der Staatssozialismus seit Jahrzehnten die Massen einzustellen suchte, und die letzten Endes dazu führen mußte, daß die gewerkschaftliche und politische Arbeiterbewegung sich mehr und mehr als Organ und notwendiges Zubehör des nationalen Staates entwickelte.
Es begann nun die Zeit der Spaltungen innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung, die mit der Zeit einen geradezu krankhaften Charakter annahmen. Hatte man früher die Einheit der Partei zum unantastbaren Dogma erhoben, an dem nicht gerüttelt werden durfte, obwohl diese fiktive Einheit die inneren Gegensätze nur mühsam verkleistern konnte und lediglich den Zweck verfolgte, der Außenwelt den Schein der Geschlossenheit vorzutäuschen, so fiel man nun - wie das in solchen Situationen gewöhnlich der Fall ist - in das andere Extrem und rief um jeder Nichtigkeit willen immer neue Spaltungen hervor. So konnte es denn nicht ausbleiben, daß die Atmosphäre immer mehr vergiftet und die gesamte Arbeiterbewegung so zerklüftet und zerrissen wurde, bis ihre Feinde, welche die inneren Kämpfe der deutschen Arbeiterschaft sehr geschickt auszunutzen verstanden und ihre durch die Revolution zerstreuten Kräfte überraschend schnell reorganisieren konnten, ein leichtes Spiel mit ihr hatten.
Jedes miserable Schlagwort, hinter dem sich kein Funke von Geist verbarg, gab Anlaß zu neuen Spaltungen und heftigen Auseinandersetzungen. Jeder Regentag brachte neue Parolen, von denen eine immer blöder war als die andere. Besonders die Kommunistische Partei, deren Träger nie einen selbständigen Gedanken zu entwickeln verstanden und lediglich Mundstücke der Moskauer Exekutive waren und sind, hat sich in dieser Hinsicht auf eine Weise hervorgetan, die schlechterdings nicht mehr überboten werden kann. Würde man all die Parolen dieser jedes freiheitlichen Empfindens baren Richtung, von denen die eine der anderen stets ins Gesicht schlug, einmal chronologisch ordnen und aneinanderreihen, so käme ein politischer Heringssalat zustande, der einem den Glauben an den gesunden Menschenverstand gründlich verderben könnte.
Das Schlimmste war, daß durch diese endlosen Spaltungen sich vielfach ein ganz überspannter „Radikalismus“ entwickelte, der sich in sinnlosen Schlagworten förmlich überschlug und die vernünftigsten Ideen in grausame Zerrbilder verwandelte. So wurde jede an sich bedeutungsvolle Erkenntnis zur sinnlosen Karikatur, aus der man nur in den seltensten Fällen einen gesunden Kern herausfinden kann. Man gewöhnte sich daran, Ideen nicht auf ihren inneren Wert hin zu prüfen, sondern beurteilte dieselben lediglich nach der parteipolitischen Etikette ihres Ursprungs und verurteilte dieselben im vornhinein, wenn sie einem Lager entstammten, dem man Kampf geschworen hatte. Lagen aber die Dinge so, daß man notgedrungen nach einer bestimmten Maxime handeln mußte, so suchte und sucht man sich in der äußeren Aufmachung der Parolen gegenseitig geräuschvoll zu überbieten, je nach dem Grade des „Radikalismus“, den man angeblich vertritt. Man schlägt die tollsten Purzelbäume und gefällt sich in dem hysterischen Geschrei heulender Derwische, um ja nicht in den Verdacht zu kommen, ein „Gemäßigter“ zu sein. Und dieses blöde Possenspiel, das in Wirklichkeit nur eine Hanswurstiade ist, nennt man dann „revolutionäre“ Propaganda. Es ist deshalb auch nicht weiter verwunderlich, daß man in den Kreisen sogenannter „Radikaler“ zu Schlüssen gelangte, die jeder gesunden Auffassung der Dinge Hohn sprechen, und die letzten Endes, wenn auch ungewollt, nur der sozialen Reaktion Vorschub leisten müssen.
Eine der schlimmsten und verhängnisvollsten Erscheinungen innerhalb der radikal eingestellten Arbeiterbewegung besteht darin, daß man sich in manchen Kreisen daran gewöhnt hat, jeden Kampf für eine höhere Lebenshaltung oder für Verbesserungen wirtschaftlicher und politischer Natur aus angeblich prinzipiellen Gründen rundweg abzulehnen mit der Begründung, daß solche Versuche innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft total aussichtslos seien und die Arbeiter nur auf Abwege leiten könnten. Man spricht in jenen Kreisen stets von einem „Kampf um das Ganze“ und erblickt in jedem Eintreten für momentane und praktische Ziele ein von sozialreformistischen Erwägungen diktiertes Vorgehen, das nur dazu führen kann, in der Arbeiterschaft falsche Hoffnungen zu erwecken und sie ihrem revolutionären Endziel zu entfremden.
Diese verhängnisvolle Auffassung beruht auf zwei fundamentalen Irrtümern, die zwar schon längst als solche erkannt sind, die aber von Zeit zu Zeit immer wieder von neuem auftauchen und die noch ungeklärten Elemente in der Arbeiterbewegung häufig zu ganz falschen Schlußfolgerungen verleiten.
Die erste dieser Auffassungen geht von dem Standpunkt aus, daß man angebliche Verbesserungen innerhalb der heutigen Gesellschaft schon deshalb als konterrevolutionär prinzipiell ablehnen müsse, weil die sogenannten Arbeiterparteien solche Verbesserungen auf dem Wege der Gesetzgebung und parlamentarischer Reformen zugunsten der Arbeiter anstreben.
Der zweite Irrtum findet seine Wurzel in der falschen Vorstellung, daß eine Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse des Proletariats innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsordnung überhaupt nicht möglich sei, weil ja die allgemeine Lebenshaltung des Arbeiters sich schon deshalb stets gleichbleiben müsse, weil eine Steigerung der Löhne unvermeidlich zu einer Steigerung der Preise führe, andererseits der Kapitalist aber durch die Gesetze der Wirtschaft selbst gezwungen sei, den Arbeiter so zu entlohnen, daß er mit dem empfangenen Gehalt oder Lohn seine durchschnittlichen Lebensbedürfnisse bestreiten könne.
Zu diesen beiden Auffassungen gesellt sich gewöhnlich noch eine dritte, die nicht minder anfechtbar ist - der Glauben, daß durch ein Überhandnehmen des sozialen Elends der revolutionäre Geist der Arbeiter gestärkt und ihre Empörung gegen das bestehende System sich endlich in Taten umsetzen werde. Diese naive Auffassung verdient wohl kaum, daß man näher darauf eingeht. Die Geschichte und die praktischen Erfahrungen der letzten Jahre haben uns genugsam gezeigt, daß allzu großes Elend nie ein revolutionärer Faktor in unserem Sinne gewesen ist. Im Gegenteil, es stumpft die Menschen ab und zermürbt sie geistig und seelisch. Menschen, die auf die Dauer großem Elend und direktem Hunger ausgesetzt sind, werden dadurch nicht revolutionärer, sie degenerieren vielmehr und entwickeln die knechtseligsten Instinkte. Der Hunger wirkt gewöhnlich nur dann revolutionär, wenn er plötzlich kommt, z. B. infolge großer wirtschaftlicher Krisen, das heißt also, wenn die Erinnerung an eine bessere Lebenshaltung in den Menschen noch lebendig ist und zu naheliegenden Vergleichen herausfordert. Physischer Hunger treibt Menschen im besten Falle zur Verzweiflung, aber er ist nie imstande, jene schöpferischen Instinkte im Volke zu erwecken, die jeder Revolution unentbehrlich sind. Das ist auch die Ursache, weshalb alle Revolutionen, von denen uns die Vergangenheit Kunde gibt, nie zum Ausbruch kamen, wenn das Elend am schwersten auf den Menschen lastete, sondern stets in Perioden, wenn die allgemeinen Lebensverhältnisse sich bereits wieder etwas gebessert hatten und in den Menschen wieder neue Hoffnungen erwachten. Wie wenig außergewöhnliches Elend die Massen mit revolutionärem Geiste erfüllt und ihre Initiative zum Handeln anregt, das haben wir ja während der sogenannten Inflationsperiode am besten beobachten können. Die Arbeiter ließen sich in jener furchtbaren Zeit den Achtstundentag und fast alle anderen wirtschaftlichen Errungenschaften der Revolution von dem Unternehmertum widerstandslos entreißen, aus Furcht, sonst noch mehr leiden zu müssen.
Was nun die erste Behauptung anbetrifft, daß wir als Revolutionäre alle Versuche, innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft wirtschaftliche, soziale und politische Verbesserungen zu erringen, prinzipiell ablehnen müßten, weil es gerade diese Taktik gewesen, durch welche die parlamentarisch eingestellten Arbeiterparteien und Gewerkschaften die Arbeiter auf schiefe Wege geleitet und ihnen das Verständnis für ihre endgültige Befreiung genommen hätten, so läßt sich dazu nur sagen, daß eine solche Auffassung der Dinge von durchaus falschen Voraussetzungen ausgeht und Erscheinungen verwechselt, die man unter keinen Umständen miteinander verwechseln darf, wenn man den Sinn der Arbeiterbewegung nicht in direkten Unsinn umformen will.
Wir unterscheiden uns taktisch von den politischen Arbeiterparteien und den unter ihrem geistigen Einfluß stehenden Zentralverbänden keineswegs dadurch, weil diese schon heute Verbesserungen für die Arbeiter erstreben, die wir ablehnen, sondern lediglich dadurch, daß wir über die Mittel, durch welche solche Verbesserungen errungen werden, verschiedener Ansicht sind. Kein Mensch mit fünf gesunden Sinnen, und wäre er der größte Revolutionär vor dem Herrn, wird behaupten wollen, daß ihm die Lebenslage des Arbeiters vollständig gleichgültig ist, besonders nicht, wenn er selbst im Betriebe tätig ist. Kein Mensch, dessen Hirn nicht irgendwie defekt ist, wird zu behaupten wagen, daß es ihm nicht darauf ankomme, wenn er und seine Kameraden zehn und zwölf anstatt acht Stunden arbeiten müssen, wenn der Lohn, den sie empfangen, gerade langt, um sich von trockenem Brote und Kartoffeln nähren zu können, anstatt daß auch noch etwas übrigbleibt, um andere Bedürfnisse zu befriedigen. Was uns in dieser Hinsicht von den Anhängern der modernen Arbeiterparteien unterscheidet, ist nicht der Zweck, sondern die Methode.
Die Erfahrung hat uns gezeigt, daß Verbesserungen irgendwelcher Art nicht auf dem Wege der parlamentarischen Gesetzgebung zu erreichen sind, daß Regierungen und Parlamente sich niemals aus rein platonischen Gründen entschließen, den Massen irgendwelche Konzessionen zu machen. Parlamentarische Reformen kommen immer erst dann, wenn das dringende Bedürfnis für gewisse Verbesserungen breite Massen des Volkes erfaßt hat und sich in direkte und revolutionäre Aktionen umsetzt, bis die allgemeine Unzufriedenheit endlich einen solchen Grad erreicht, daß die Regierenden sich nunmehr entschließen müssen, den Forderungen des Volkes entgegenzukommen und die Unzufriedenheit durch gewisse Reformen zu beschwichtigen. Alle Reformen auf den verschiedensten Gebieten des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens sind auf diese Weise zustande gekommen. Entweder sah sich die Regierung gezwungen, den dringendsten Bedürfnissen des Volkes bis zu einem gewissen Grade Rechnung zu tragen, oder die Massen hatten sich durch ihre Aktionen außerhalb der Parlamente bereits selber gewisse Verbesserungen errungen, die nun nicht mehr rückgängig gemacht werden konnten, so daß den gesetzgebenden Körperschaften schließlich nichts anderes übrig blieb, als denselben den gesetzlichen Stempel aufzudrücken, sie zu sanktionieren.
So wäre das berühmte Zehnstundengesetz in England, von dem Marx sagte, daß es die Wiedergeburt des Proletariats bedeute, nie zustande gekommen, ohne die zahllosen, mit schweren Opfern verbundenen Kämpfe der englischen Arbeiterschaft, die sich in ihren Gewerkvereinen ein Werkzeug geschaffen hatte, um ihren Forderungen Geltung zu verschaffen. Erst als ganze Industrien und zahlreiche Gewerke den Zehnstundentag bereits errungen hatten, beeilte sich das englische Parlament, dieser gesellschaftlichen Reform den gesetzlichen Stempel aufzudrücken. Ähnlich liegen die Dinge mit allen anderen angeblich parlamentarischen Reformen, die für die breiten Massen wirklich eine Bedeutung hatten.
Aus eigener Initiative entschließen sich Regierungen und Parlamente nur in ganz seltenen Fällen zu gewissen Reformen, und wo dies wirklich bisher geschah, fanden diese angeblichen Verbesserungen keinen Widerhall und kein Verständnis im Volke, so daß sie nur tote Buchstaben blieben in dem großen Wust der Gesetze. So hatten die schüchternen Versuche des englischen Parlaments in der Frühperiode des Kapitalismus und der Großindustrie, als die Gesetzgeber, erschreckt durch die furchtbaren Ergebnisse der Fabrikausbeutung, die sich in einer immer mehr überhandnehmenden Degeneration der Arbeiterschaft kundgab, sich anschickten, durch Gesetze die ungeheuerliche Ausbeutung besonders der Proletarierkinder milder zu gestalten, gar keine Wirkung. Sie bestanden lediglich auf dem Papier, da sie einerseits dem stumpfsinnigen Egoismus der Arbeiter, welche damals noch auf einer sehr tiefen Entwicklungsstufe standen, kein Verständnis abnötigen konnten, und andererseits von den Unternehmern direkt sabotiert wurden.
Ähnlich ging es mit dem bekannten Gesetz, welches das italienische Parlament in der Mitte der 90er Jahre erlassen hatte, um den Frauen, die in den Schwefelgruben Siziliens arbeiten mußten, das Mitnehmen ihrer Kinder nach ihren Arbeitsstätten zu untersagen. Dieses Gesetz blieb ebenfalls ein toter Buchstabe, weil diese unglücklichen Frauen so schmählich entlohnt wurden, daß sie einfach gezwungen waren, dem Gesetz zuwiderzuhandeln. Erst viel später, als es gelungen war, die Arbeiterinnen zu organisieren und infolgedessen ihre Lebenshaltung wesentlich zu heben, begann das Übel zu verschwinden. Solche Beispiele könnte man in wahlloser Menge anführen. Die moderne Geschichte jedes Landes ist voll davon.
Aber sogar die gesetzliche Bestätigung einer gewissen Reform ist noch lange keine Garantie für ihren Bestand, solange ihre Errungenschaften den Massen nicht in Fleisch und Blut übergegangen sind und jeder Versuch des Unternehmertums, dieselbe wieder rückgängig zu machen oder auf eine kluge Weise zu umgehen, eine offene Empörung der Arbeiter zur Folge haben würde. So haben wir gesehen, daß die englischen Unternehmer trotz des im Jahre 1848 durchgeführten Zehnstundengesetzes bald darauf eine industrielle Krise ausnutzten, um die Arbeiter zu zwingen, wieder elf und sogar zwölf Stunden zu arbeiten. Als die Fabrikinspektoren sich anschickten, gegen einzelne Unternehmer gerichtlich vorzugehen, wurden die Angeklagten nicht bloß freigesprochen, die Regierung gab sogar den Inspektoren einen Wink, sich nicht „an den Buchstaben des Gesetzes zu halten“, so daß die Arbeiter, als die wirtschaftliche Konjunktur wieder besser wurde, noch einmal gezwungen waren, sich den Zehnstundentag aus eigener Kraft zu erkämpfen.
Aber wir haben ja während der letzten Jahre in Deutschland dieselbe Erfahrung machen müssen. Die spärlichen wirtschaftlichen Errungenschaften, welche die Novemberrevolution uns beschert hatte, unter denen der Achtstundentag die bedeutendste war, wurden der deutschen Arbeiterschaft von dem Unternehmertum fast restlos wieder entrissen, trotzdem der Achtstundentag gewissermaßen in der Gesetzgebung oder in der Konstitution der Republik gesetzlich „verankert“ war.
Verbesserungen werden also den Regierungen durch den Druck der Massen außerhalb der Parlamente direkt abgenötigt, und je stärker sich dieser Druck bemerkbar macht und den Regierern auf den Fingernägeln brennt, um so einschneidender werden ihre Reformen sein. Da aber der oberflächliche Beobachter, dessen Blick bloß auf die Äußerlichkeit der Dinge eingestellt ist, in der Regel nur die mit großem öffentlichen Aplomb parlamentarisch ins Werk gesetzten Reformen zu sehen vermag und ihm die inneren Zusammenhänge und tieferliegenden Gründe derselben gänzlich entgehen, so kann es nicht ausbleiben, daß er die Wirkung mit der Ursache der Erscheinungen verwechselt und aus diesem Grunde ein eifriger Befürworter der parlamentarischen Betätigung wird. Er sieht nur das Gesetz und vergißt ganz und gar die äußeren Ursachen, welche zu dem Zustandekommen desselben entscheidend beigetragen haben. So geht ihm die Erkenntnis für die eigentliche Bedeutung großer Massenaktionen nur schwer auf, besonders in Ländern wie Deutschland, wo sein Glaube an die große Wirksamkeit der parlamentarischen Tätigkeit durch eine stark entwickelte Arbeiterpartei in jeder Weise gefördert wird.
Aber in derselben Position befindet sich auch mancher angeblich radikal und revolutionär eingestellte Arbeiter, der geneigt ist, jede Verbesserung wirtschaftlicher oder politischer Natur innerhalb der heutigen Gesellschaft als zwecklos und irreführend abzulehnen, weil er sich eingeredet hat, daß der Kampf für dergleichen Dinge lediglich ein Monopol der politischen Arbeiterparteien sei. Auch er verwechselt Dinge verschiedener Art miteinander und verliert sich infolge seiner falschen Voraussetzungen in einer sinnlosen Phraseologie, die ihm den Mangel klarer Ideen und Gedankengänge ersetzen muß.
Wiederholen wir es noch einmal: Wir unterscheiden uns von den Anhängern parlamentarischer Methoden nicht dadurch, weil diese die Notwendigkeit wirtschaftlicher, sozialer und politischer Verbesserungen anerkennen und wir dieselben prinzipiell ablehnen und nur dann mittun wollen, wenn es einmal um die Abschaffung der Lohnsklaverei im allgemeinen gehen wird. Nein, auch wir anerkennen die Notwendigkeit beständiger Verbesserungen innerhalb der heutigen Gesellschaft, und unser sozialistisches Endziel wäre nicht mehr wie eine Schatzanweisung auf den Mond, wenn wir uns den fortgesetzten Kämpfen um diese Verbesserungen entziehen wollten. Aber wir unterscheiden uns von den anderen durch die Wahl der Mittel und durch den revolutionären Inhalt unserer Methoden. Wir sind der Meinung, daß jede Verbesserung in der Lebenshaltung des Arbeiters innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft ebenso wie die endgültige Befreiung des Proletariats nicht in den gesetzgebenden Körperschaften des modernen Klassenstaates durchgeführt werden können, sondern einzig und allein durch die direkte und revolutionäre Aktion der Arbeiterschaft außerhalb der Parlamente und ganz besonders durch den aktiven Kampf ihrer revolutionären Wirtschaftsorganisationen. Nicht auf dem Gebiete parlamentarischer Politik liegt die Stärke des modernen Lohnarbeiters, sondern auf dem Gebiete der Produktion, in seiner Eigenschaft als Produzent und Schöpfer gesellschaftlicher Werte.
Alle wirtschaftlichen Errungenschaften und Verbesserungen, welche die Arbeiter sich im Laufe der Jahrzehnte erstritten haben, haben sie nicht den Parlamenten, sondern ihren wirtschaftlichen Organisationen und den alltäglichen Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit zu verdanken. Die parlamentarische Betätigung hat nur dazu beigetragen, diese Errungenschaften zu verzögern und ihren Erfolg abzuschwächen. Denn wer auf die Hilfe von oben wartet, hat wenig Eile, sich in eigener Person für neue Rechte einzusetzen.
Wir haben gerade in Deutschland, wo die Arbeiterschaft von Anfang an der parlamentarischen Tätigkeit huldigte, so manches Schulbeispiel für die Richtigkeit dieses Erkennens. Ich erinnere nur an den großen Kampf in der Textilindustrie von Crimmitschau im Jahre 1904. Crimmitschau gilt als eines der ältesten Bollwerke der Sozialdemokratischen Partei, allein die wirtschaftliche Lage der Weberbevölkerung blieb stets die denkbar schlechteste. Im Jahre 1882 war es einem Teil der Arbeiter gelungen, den Elfstundentag zu erringen, während die große Mehrheit noch zwölf und dreizehn Stunden fronen mußte, bis es Mitte der 80er Jahre endlich gelang, den Elfstundentag auch auf andere Teile der Textilindustrie auszudehnen. Von damals an aber bis 1904 waren die Arbeiter nicht mehr imstande, ihre Arbeitszeit um eine Minute zu kürzen. Nicht nur das: ihre allgemeine Lebenslage wurde von Jahr zu Jahr erbärmlicher, und sie mußten die schamlose Ausbeutung eines herrenstolzen Unternehmertums willig über sich ergehen lassen, ohne sich auch nur zur Wehr setzen zu können. Denn obzwar sie bei allen Wahlen geschlossen für die Sozialdemokratie stimmten und, wenn ich nicht irre, sogar sozialdemokratische Vertreter im Kirchenrate sitzen hatten, lag aber ihre gewerkschaftliche Organisation sehr im argen.
So zahlte man den Webern bei der Einführung des mechanischen Webstuhls für ein sogenanntes „Band“ von sechs Leipziger Ellen (das alte Maß wurde auch später beibehalten) 1,20 Mark. Später aber setzte man den Arbeitspreis auf 1 Mark und endlich gar auf 90 Pfennig herab. Damit nicht genug, wendeten die Fabrikanten direkt betrügerische Mittel an, um die Arbeiter um einen Teil ihres schwer verdienten Lohnes zu prellen. Man verlängerte allmählich die „Bande“ von sechs auf sieben Ellen, so daß die Weber für jedes Stück Ware sieben bis acht Ellen zu weben hatten, für die sie keine Bezahlung erhielten.
Vergeblich unterschrieben fast alle Crimmitschauer Arbeiter die sozialdemokratische Petition für den Arbeiterschutzgesetzentwurf; vergebens wies man darauf hin, daß die überlange Arbeitszeit besonders bei den Frauen schwere Schädigungen der Organe verursache und die Kindersterblichkeit gerade in Crimmitschau außerordentlich groß sei. Alles Appellieren an die gesetzgebenden Körperschaften hatte keinen Erfolg, und da die Arbeiter nicht imstande waren, ihren Forderungen durch eine entsprechende gewerkschaftliche Organisation Nachdruck zu verschaffen, so blieb es die ganzen langen Jahre fast ausschließlich beim Petitionieren. Die Arbeiter blieben nach wie vor einem stockreaktionären Unternehmertum, das aus der Haut der Proleten buchstäblich Riemen schnitt, auf Gnade und Ungnade preisgegeben.
Als man endlich zwanzig Jahre später sich dazu entschloß, einen Versuch zu wagen, den Zehnstundentag einzuführen, hatte das Unternehmertum für diese so berechtigte Forderung nur ein kategorisches Nein übrig. Als darauf zirka 600 Arbeiter ihre Kündigung einreichten, beantworteten die Fabrikanten dies mit einer allgemeinen Aussperrung. So kam es, daß von einer Bevölkerung von 23.000 Seelen 9.000 feiern mußten. Aber während das Unternehmertum vor keinem Mittel zurückschreckte und durch einen rücksichtslosen Terrorismus die Empörung der gesamten Arbeiterschaft Deutschlands und im Auslande hervorrief, wagten die Arbeiter, die im Kampfe standen, überhaupt nicht, ihre Machtmittel zu entfalten und den Fabrikanten mit gleicher Münze heimzuzahlen. Die Gewerkschaften begnügten sich mit der Finanzierung der Ausgesperrten. Man begriff nicht, oder wollte nicht begreifen, daß gerade deshalb, weil man bisher den Generalstreik nur als Generalblödsinn hinzustellen beliebte, das Unternehmertum nur um so skrupelloser die Generalaussperrung gegen die Arbeiter ins Feld führen konnte, wußte man doch in jenen Kreisen nur zu gut, daß man von der anderen Seite nichts Ernstliches zu befürchten hatte.
So konnte es denn nicht ausbleiben, daß auch der Kampf von 1904 an der Unzulänglichkeit der gewerkschaftlichen Kampfmittel, die man in Anwendung brachte, für die Arbeiter verlorengehen mußte und mit einer vollständigen Niederlage der Weber sein Ende erreichte, obwohl in der Streikkasse noch erhebliche Mittel vorhanden waren. Der Streik wurde von den Gewerkschaftsführern einfach abgeblasen, wobei man die fadenscheinige Ausrede gebrauchte, daß es den Arbeitern nicht gleichgültig sein könne, wenn durch die Hartnäckigkeit des Unternehmertums ihre Vaterstadt ruiniert werde. Das Unternehmertum aber, das von solchen Skrupeln nicht geplagt wurde, fragte den Teufel nach dem Wohl und Wehe der Vaterstadt, sondern hatte nur ein Ziel vor Augen - den Arbeitern den Fuß in den Nacken zu setzen und jeden Widerstand erbarmungslos niederzuschlagen.
Niemals hätten die Fabrikanten gewagt, den Arbeitern solches zu bieten, wenn sie nicht überzeugt gewesen wären, daß sich die Gewerkschaftsoligarchie nie zu einer energischen Kampfführung aufraffen würde, und voraussichtlich alle Mittel anwenden werde, um eine Übertragung des Kampfes auf andere Industriegebiete zu verhindern. Die Arbeiter aber, die sich seit langem daran gewöhnt hatten, in den Ratschlägen ihrer Führer die Hand der Vorsehung zu erblicken, fügten sich widerstandslos diesem Beschluß, der sie zu jener schmählichen Kapitulation bewegte. Hier sah man so recht deutlich die Folgen einer Erziehung, welche den Arbeitern vorspiegelt, daß ihnen nur Heil von oben erwachsen könne und infolgedessen schon im vornherein jeden echten Kampfeswillen unter ihnen zermürbt und systematisch untergräbt. Solche Beispiele ließen sich leider noch viele anführen, trotzdem wird der Kampf der Weber von Crimmitschau sogar in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung ein Kapitel für sich bleiben, da er uns diese Wahrheit mit geradezu klassischer Deutlichkeit vor Augen führte und sogar weit über die Grenzen Deutschlands hinaus die Arbeiterschaft zu ernsten Betrachtungen anregte.
Was nun jene andere Behauptung anbetrifft, derzufolge eine Verbesserung der proletarischen Lebenslage innerhalb der heutigen Gesellschaft überhaupt nicht möglich sei, weil jede Lohnerhöhung unwiderruflich eine Steigerung der Preise nach sich ziehen müsse, das Unternehmertum aber andererseits gezwungen sei, den Arbeitern so viel in Gestalt von Löhnen auszuzahlen, als dieselben zur Befriedigung ihrer durchschnittlichen Lebensbedürfnisse unbedingt notwendig haben, so steht auch diese Voraussetzung mit den Erfahrungen der praktischen Wirklichkeit im schreiendsten Widerspruch.
In der Wirklichkeit ist diese Auffassung, die heute wieder in sogenannten „radikalen“ Kreisen eine Rolle spielt, nicht mehr und nicht weniger als eine teilweise Wiederauferstehung der alten, durch die Tatsachen des Lebens längst widerlegten Theorie vom „ehernen Lohngesetz“, das Lassalle und seinen Anhängern als unumstößliche Wahrheit vor Augen schwebte. Im „Offenen Antwortschreiben“ definierte Lassalle dieses angebliche ökonomische Gesetz in folgender Weise:
„Das eherne ökonomische Gesetz, welches unter den heutigen Verhältnissen unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage nach Arbeit den Arbeitslohn bestimmt, ist dieses: daß der durchschnittliche Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt reduziert bleibt, der in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderlich ist. Dies ist der Punkt, um welchen der wirkliche Tageslohn in Pendelschwingungen jederzeit herumgravitiert, ohne sich jemals lange weder über denselben erheben, noch unter denselben hinunterfallen zu können. Er kann sich nicht dauernd über diesen Durchschnitt erheben - denn sonst entstünde durch die leichtere, bessere Lage der Arbeiter eine Vermehrung der Arbeiterehen und der Arbeiterfortpflanzung, eine Vermehrung der Arbeiterbevölkerung und somit des Angebots von Händen, welche den Arbeitslohn wieder auf und unter den früheren Stand herabdrücken würden. Der Arbeitslohn kann auch nicht dauernd tief unter diesen notwendigen Lebensunterhalt fallen, denn dann entstehen Auswanderungen, Ehelosigkeit, Enthaltung von der Kinderzeugung und endlich eine durch Elend erzeugte Verminderung der Arbeiterzahl, welche somit das Angebot von Arbeiterhänden noch verringert und den Arbeitslohn daher wieder auf den früheren Stand zurückbringt. Der wirkliche durchschnittliche Arbeitslohn besteht somit in der Bewegung, ständig um jenen seinen Schwerpunkt, in den er fortdauernd zurücksinken muß, herumzukreisen, bald etwas über demselben (Periode der Prosperität in allen einzelnen Arbeitszweigen), bald etwas unter ihm zu stehen (Periode des mehr oder weniger allgemeinen Notstandes und der Krisen). Die Beschränkung des durchschnittlichen Arbeitslohnes auf die in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderliche Lebensnotdurft - das ist, ich wiederhole es Ihnen, das eherne und grausame Gesetz, welches den Arbeitslohn unter den heutigen Verhältnissen beherrscht. Dieses Gesetz kann von niemand bestritten werden. Ich könnte Ihnen für dasselbe ebenso viele Gewährsmänner anführen, als es große und berühmte Namen in der nationalökonomischen Wissenschaft gibt, und zwar aus der liberalen Schule selbst, denn gerade die liberale ökonomische Schule ist es, welche selbst dieses Gesetz entdeckt und nachgewiesen hat.“
Man begreift, daß Lassalle bei dieser Auffassung kein Freund der gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiter sein konnte, ja daß er in derselben sogar ein direktes Hindernis für die gedeihliche Entwicklung der von ihm gegründeten neuen Partei erblickte. Und in der Tat, wenn man der Überzeugung ist, daß die Frage des Arbeitslohnes und der proletarischen Lebenshaltung durch ein unabänderliches ökonomisches Gesetz bestimmt wird, das sich ganz von selber auswirkt, ohne der Hilfe der Menschen zu bedürfen, welchen Zweck haben dann die Gewerkschaften, welchen Zweck hat dann jeder Kampf der Arbeiter für eine Besserung ihrer wirtschaftlichen Lage?
Es war daher nur begreiflich, wenn Lassalle den Streiks jede Bedeutung absprach und 1862, als die Berliner Buchdrucker das preußische Ministerium um die Verleihung des Koalitionsrechts angingen, um Lohnbewegungen führen zu können, sogar so weit ging, jede Beteiligung des „Allgemeinen Arbeitervereins“ an diesen Bestrebungen schroff abzulehnen mit der Begründung, daß das Koalitionsrecht den Arbeitern keinen Vorteil bringen könne. Und es war nur folgerichtig, wenn die Lassalleaner zunächst den Gewerkschaften vollständig feindlich gegenüberstanden und noch 1872 auf Tölckes Antrag die Auflösung der beistehenden Gewerkschaften, die unter ihrem Einflusse standen, beschlossen hatten.
Und doch mußte sich jeder vorurteilsfreie Beobachter, der sich nicht von vornherein durch willkürliche Voraussetzungen den Ausblick verbaut hatte, sagen, daß es mit der Richtigkeit dieses angeblich „ehernen“ Gesetzes nicht weit her war. Die Tatsache allein, daß die Arbeiter fortwährend gezwungen sind, als kollektive Macht in die Gestaltung der sogenannten Lohnverhältnisse einzugreifen, um sich bessere Arbeitspreise und geringere Arbeitszeit zu erringen, ist an und für sich schon ein Beweis dafür, daß das sogenannte eiserne Lohngesetz nicht mit der Unabänderlichkeit eines ökonomischen Faktums arbeitet, sondern daß ihm die Menschen stets ins Handwerk pfuschen müssen.
Der Arbeiter streikt schließlich nicht zu seinem Vergnügen. Im Gegenteil, in den weitaus meisten Fällen ist jeder Streik für ihn verbunden mit einer ganzen Reihe materieller Entbehrungen und unvorhergesehener Konsequenzen, die ihm den Entschluß zum Kampf wahrlich nicht leicht machen. Jeder, der an den Wirtschaftskämpfen der Arbeiter je teilgenommen hat, weiß aus eigener Erfahrung, wieviel Energie, Agitation und Aufklärung seitens der zielklaren Minderheit nötig sind, um die Mehrheit zum Kampfe zu bewegen. Und diese ganze unermüdliche Arbeit und die noch mühseligere des Organisierens wäre ganz und gar überflüssig, wenn wir es wirklich mit der Auswirkung eines eisernen Gesetzes zu tun hätten, demgegenüber jedes Eingreifen des Menschen schlechterdings vergeblich wäre. In Wirklichkeit ist es mit diesem sogenannten „ehernen Lohngesetz“ ebenso bestellt, wie mit soviel anderen „ökonomischen Gesetzen“, die lediglich der Einbildungskraft der Menschen entsprungen sind, und deren ganze Wirksamkeit lediglich darin besteht, daß sie die Aktionskraft derjenigen lähmen, die ihnen Glauben schenken.
Ebenso wie die wirtschaftlichen Kampforganisationen der Arbeiter, sind auch die täglichen Lohnkämpfe ein Ergebnis der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die von bestimmten Notwendigkeiten diktiert werden, und die der breiten Masse der Arbeiter so unentbehrlich sind, daß sie in einem Abgrund von Elend versinken würde, wenn sie je auf dieselben verzichten wollte, solange sie unter das Joch der Lohnsklaverei gezwungen wird. Wer das bis heute noch nicht begriffen hat, der hat wirklich keine Ursache, sich mit seinem angeblichen „Radikalismus“ zu brüsten, denn er ist trotz seines Revolutionarismus nicht mehr wie ein harmloser Pfahlbürger, dem der tiefere Sinn der Arbeiterbewegung bis heute verborgen geblieben ist.
Gewiß kann durch Lohnkämpfe die soziale Frage nicht gelöst werden, aber sie sind der beste Anschauungsunterricht, um die Arbeiter mit dem Wesen der sozialen Frage und dem Problem ihrer Befreiung aus wirtschaftlicher und sozialer Sklaverei bekannt zu machen, und für den Endkampf heranzubilden. Es mag auch als richtig gelten, daß der Arbeiter, solange er gezwungen ist, Hirn und Hände einem Unternehmer zu verkaufen, mit anderen Worten, solange er Lohnsklave ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, welche nur die allgemeine Regel bestätigen, nie mehr verdienen wird, wie er zur Bestreitung seiner notwendigen Lebensbedürfnisse nötig hat. Aber diese Lebensbedürfnisse sind nicht gleich, sie sind vielmehr einem steten Wechsel unterworfen und wachsen proportional mit den Ansprüchen, welche der Arbeiter an das Leben stellt.
Wer wird z.B. zu behaupten wagen, daß die Lebenshaltung des Proletariers aus der frühkapitalistischen Periode dieselbe war wie die des heutigen Arbeiters? Der moderne Proletarier hat außer den rein materiellen Ansprüchen seiner Lebenshaltung noch eine ganze Reihe kultureller Bedürfnisse, von denen sein Vorgänger vor hundert Jahren sogar nicht träumte. Um diese Bedürfnisse befriedigen zu können, mußte er fortgesetzt im Kampfe stehen, um sich die Mittel für eine Hebung seiner physischen und geistigen Lebenslage zu erringen. Und es waren und sind gerade diese Kämpfe, welche der modernen Arbeiterbewegung ihr besonderes Gepräge geben, das sie von allen anderen Bewegungen früherer Zeiten unterscheidet.
Man sage uns nicht, daß man von einer Hebung der proletarischen Lebenslage nicht sprechen könne, da sogar der Sklave des Altertums und der Zunftgeselle vergangener Jahrhunderte sich, rein wirtschaftlich betrachtet, vielfach besser gestanden hätten wie der heutige Lohnarbeiter, daß deren wirtschaftliche Existenz viel mehr gesichert war und man folglich nur eine Verschlechterung der proletarischen Lebenslage heute konstatieren müsse. Will man wirkliche Vergleiche ziehen und feststellen, ob eine Steigerung oder Senkung in der allgemeinen Lebenshaltung stattgefunden hat, so ist dies nur möglich, wenn man die Vergleiche auf eine bestimmte gesellschaftliche Periode begrenzt und nicht Dinge zusammenmischt, bei deren Zustandekommen ganz verschiedene Vorbedingungen mitgewirkt haben. So läßt sich ein Urteil über die Ergebnisse der fortgesetzten Kämpfe des modernen Industrieproletariats nur dann bilden, wenn wir die Vergleiche nur im Rahmen des modernen kapitalistischen Systems anstellen, da jeder andere Vergleich zu unvermeidlichen Trugschlüssen führen muß.
Und nun lese man einmal die düsteren Beschreibungen über die allgemeinen Lebensbedingungen der Arbeiterschaft in der frühkapitalistischen Periode, wie sie in den Berichten der englischen Fabrikinspektoren, die Marx in seinem „Kapital“ so glücklich zu verwerten wußte, niedergelegt sind. Oder man nehme Bücher zur Hand wie Burets „Vom Elend der arbeitenden Klassen in England und Frankreich“ (De la misere des classes laborieuses en Angleterre et en France), dem Friedrich Engels bei der Abfassung seines Erstlingswerks: „Die Lage der arbeitenden Klassen in England“ soviel zu verdanken hatte, und man wird das fürchterliche Elend der proletarischen Bevölkerung jener Zeit erst richtig verstehen lernen. Wenn der Engländer Arthur Young in der bekannten Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich vor dem Ausbruch der großen Revolution erklärte, daß man breite Teile der französischen Landbevölkerung nur mit Tieren vergleichen könne, denen infolge ihres ungeheuerlichen Elends alles Menschliche abhanden gekommen sei, so dürfte dieselbe Bezeichnung für breite Massen des Industrieproletariats in den Anfangsperioden der kapitalistischen Entwicklung wohl kaum übertrieben sein.
Die ungeheuere Mehrheit der Arbeiter lebte in elenden Löchern und mußte vierzehn und fünfzehn Stunden den Tag fronen im Bagno der Industrie, wo durch keinerlei hygienische Vorrichtungen dem Leben und der Gesundheit der Ausgebeuteten Rechnung getragen wurde. Und dies für einen Lohn, der nicht einmal ausreichte, um nur die allerprimitivsten Bedürfnisse des Lebens befriedigen zu können. Wenn der Arbeiter jener Zeiten am Ende der Woche so viel erübrigen konnte, um sich in einem Fuselrausch für einige Stunden das Himmelreich zu erkaufen, so war damit das Höchste erreicht, was er überhaupt erreichen konnte. Und man lese erst, was zeitgenössische Autoren über die sittliche Verkommenheit und den geistigen Tiefstand jener Unglücklichen zu berichten wissen. Die Haare stehen einem zu Berge, wenn man diese Beschreibungen liest, die heute fast unglaublich erscheinen. Und diese furchtbare Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft beschränkte sich nicht bloß auf die Männer und Frauen des Proletariats, sie zog auch die proletarischen Kinder in ihren verderblichen Kreis und förderte die Sterblichkeit derselben bis zu einem Grade, daß Richard Carlile und andere mit Recht von einer grauenhaften Wiederholung des bethlehemitischen Kindermordes in größerem Maßstabe sprechen durften.
Und wie in England, so war der Zustand überall, wo der Kapitalismus sich zum System entwickelte. Jahrzehnte vergingen, ehe die Arbeiter mit Hilfe ihrer wirtschaftlichen Organisationen überhaupt imstande waren, eine allmähliche Hebung ihrer allgemeinen Lebenshaltung zu erzielen. Die kleinste Verbesserung mußte dem Unternehmertum im steten Kampfe entrissen werden. Kein Gesetz, keine Regierung kam den Proleten zu Hilfe, sie mußten sich jeden Fußbreit Boden ihrer Rechte selbst erkämpfen, wobei sie ungeheuerliche Opfer zu bringen hatten. Sogar dort, wo die gesetzgebenden Versammlungen oder Regierungsorgane sich durch den Druck von draußen gezwungen sahen, gewissen Verbesserungen ihre gesetzliche Sanktion zu geben, durften sich die Arbeiter dieser Errungenschaften noch nicht ungestört erfreuen, denn bei der geringsten Gelegenheit machte ihnen das beutehungrige Unternehmertum diese Verbesserungen wieder streitig, sogar dann, wenn die Regierung denselben den Stempel des Gesetzes aufgedrückt hatte.
Gewiß ist der Arbeiter auch heute noch allen Krisen und Wechselfällen des kapitalistischen Systems unterworfen, und das soziale Elend ist noch immer eine der charakteristischsten Erscheinungen der bestehenden Gesellschaft. Das wird eben so lange der Fall sein, wie das fluchwürdige System der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen seine Existenz noch fristen kann. Trotzdem aber wäre es falsch, wenn man behaupten wollte, daß die Lebenshaltung des heutigen Arbeiters noch immer dieselbe sei, wie die seines Vorgängers in der Anfangsperiode des Kapitalismus. Nur sinnloser Sophismus könnte eine solche Behauptung zu rechtfertigen versuchen.
Ja, es ist ein Unterschied, ob ein Mensch acht und neun Stunden anstatt dreizehn und vierzehn Stunden täglich fronen muß. Ja, es ist ein Unterschied, ob ich gerade so viel verdiene, um die allerdringendsten Bedürfnisse meiner materiellen Existenz befriedigen zu können, oder ob mir auch noch etwas übrigbleibt, um mir eine gewisse Ausbildung meines geistigen und sittlichen Menschen zu ermöglichen. Der Arbeiter von heute stellt nicht bloß höhere materielle Ansprüche an das Leben, er hat auch eine ganze Menge von Bedürfnissen, die seinem Vorgänger absolut unbekannt waren. In weiten Kreisen der Arbeiter weiß man heute den Wert und Besitz eines guten Buches zu schätzen. Man hat das Bedürfnis, von Zeit zu Zeit ein Theater oder ein Konzert zu besuchen oder sich an anderen kulturellen Errungenschaften zu erfreuen. Diese Bedürfnisse sind heute schon Millionen von Proletariern in Fleisch und Blut übergegangen und erheischen kategorisch eine Befriedigung. Es ist daher nur folgerichtig, wenn der Arbeiter sich mit seinesgleichen zusammenschließt, um sich die materiellen Möglichkeiten für diese Befriedigung zu verschaffen. Dieser fortgesetzte Kampf für die Befriedigung höherer Lebensansprüche bildet eine der wichtigsten Seiten der modernen Arbeiterbewegung. Wäre dies nicht der Fall, so hätte die ganze Bewegung, hätten all die zahllosen Kämpfe der Arbeiter gegen das Unternehmertum für die Verbesserung ihrer Lebenslage überhaupt keinen Zweck gehabt. Nur ein Tor oder ein Mensch, der dem Leben völlig weltfremd gegenübersteht, dürfte dies zu behaupten wagen.
Hier kommen wir zu der allgemeinen kulturellen Bedeutung der Arbeiterorganisationen und ihrer steten Kämpfe gegen die Träger der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Der wirtschaftliche Zusammenschluß der Produzenten ist dem Proletarier nicht bloß eine Waffe für die Erringung besserer materieller Lebensbedingungen, er wird ihm in der selben Zeit zur praktischen Schule und Erziehungsstätte, wo ihm Belehrung und Aufklärung im reichsten Maße gespendet werden. Die praktischen Erfahrungen und Ergebnisse seiner täglichen Kämpfe finden in der Organisation der Arbeiter ihren geistigen Niederschlag, vertiefen seine innere Erkenntnis und erweitern seine geistige Perspektive. Durch diese fortgesetzte geistige Verarbeitung der gewonnenen Lebenserfahrungen entwickeln sich in den Einzelnen neue Bedürfnisse und Anregungen auf den verschiedensten Gebieten des geistigen Lebens. Auf diese Weise erwachen bei Millionen von Arbeitern Wünsche höherer Art, für die der Proletarier vergangener Perioden nicht das kleinste Verständnis hatte. Und gerade in dieser Entwicklung der Dinge liegt eine der größten Errungenschaften der proletarischen Kämpfe gegen die Klasse der Kapitalisten. Aber auch diese Errungenschaften, die nicht hoch genug zu werten sind, haben die Arbeiter ihrer eigenen Initiative zu verdanken und dem organisatorischen Zusammenschluß mit ihresgleichen. Durch die Initiative der besitzenden Klassen und Kasten hätten sie wohl niemals eine Bereicherung ihres geistigen Lebensinhalts erfahren.
Man wende nicht etwa ein, daß es bei der reichen geistigen Kultur des bürgerlichen Zeitalters ganz unvermeidlich war, daß ein Teil dieser Kulturwerte auch den Arbeitern zugute kommen mußte, ganz unabhängig von der Existenz und dem inspirierenden Einfluß der Arbeiterorganisationen. In der Tat hat man solche Behauptungen aufgestellt. Aber jede Periode hatte ja schließlich ihre besondere geistige Kultur, womit jedoch noch lange nicht bewiesen ist, daß schon die bloße Existenz einer solchen es mit sich bringen müsse, daß auch die unteren Schichten der Gesellschaft sich ihrer bis zu einem gewissen Grade erfreuen dürfen. Wer könnte z. B. behaupten, daß die geistige und künstlerische Kultur des Rokokozeitalters den unteren Schichten der Bevölkerung - in diesem Falle den breiten Massen der leibeigenen Bauern - irgendwie zugute gekommen wäre?
Eine gewisse geistige Kultur und das Bedürfnis für kulturelle Genüsse des Lebens ist immer erst dann möglich, wenn sich ein Volk, oder besser gesagt, eine Gesellschaftsklasse, eine gewisse materielle Lebenshaltung errungen hat, welche sie zur Betätigung geistiger und kultureller Bedürfnisse befähigt. Ohne diese Voraussetzung ist eine geistige Betätigung höherer Art überhaupt ausgeschlossen. Menschen, die fortgesetzt im tiefsten Elend zu versinken drohen, und die nicht einmal so viel aufbringen können, um den allernotwendigsten Ansprüchen des materiellen Lebens auch nur halbwegs zu genügen, haben in der Regel kein Interesse für Kulturwerte geistiger Art. Deshalb konnte auch bei den Proleten der Frühzeit des Kapitalismus von solchen Bedürfnissen keine Rede sein, die sich erst entwickeln konnten, nachdem die Arbeiter im Laufe der Jahrzehnte sich von den Unternehmern eine Hebung ihrer materiellen Lebenslage ertrotzt hatten. Damit war erst die Vorbedingung gegeben, auf Grund derer eine Entfaltung geistiger und allgemein kultureller Bedürfnisse unter der Arbeiterschaft überhaupt möglich wurde.
Das Unternehmertum hat diese geistigen Bestrebungen der Arbeiter nicht gefördert. Im Gegenteil, es hat dieselben stets mit scheelsüchtigen und mißtrauischen Augen verfolgt und kein Mittel unversucht gelassen, sie zu hintertreiben. Bis zum heutigen Tage läßt der Kapitalist keine Gelegenheit ungenützt vorübergehen, die ihm die Möglichkeit gibt, die Lebenshaltung des Arbeiters auf ein tieferes Niveau herabzudrücken, und er fragt den Teufel danach, wenn durch diese brutale Wahrnehmung seiner habsüchtigen Interessen die Bildungsbestrebungen der Arbeiter gehemmt oder ganz ausgeschaltet werden. Für die Kapitalisten als Klasse gilt noch immer das Wort des spanischen Ministers Juan Bravo Murillo: „Wir benötigen in Spanien keine denkfähigen Leute; was wir brauchen, das sind Arbeitstiere.“
Es ist also unbestreitbar, daß sich die Arbeiter im steten Kampfe mit dem Unternehmertum bessere Lebensbedingungen errungen haben, die sich nicht bloß auf eine Hebung ihrer rein materiellen Lebenshaltung beschränkten, sondern auch ihre Bedürfnisse für geistige und allgemein kulturelle Werte wesentlich gefördert und entwickelt haben. Nun könnte man allerdings einwenden, daß diese winzigen Errungenschaften ganz nichtssagend und bedeutungslos seien im Vergleich mit dem sozialistischen Endziel der revolutionären Arbeiterbewegung. Tatsächlich gibt es eine ganze Anzahl sogenannter „Radikaler“, die, von einem solchen Standpunkt ausgehend, jeden Versuch für eine Hebung der proletarischen Lebenslage innerhalb der heutigen Gesellschaft als hoffnungslos und „reformistisch“ ablehnen und nur von einem Kampfe „um das Ganze“ sprechen, wobei es notwendigerweise stets beim Sprechen bleiben muß.
Wenn man die Dinge rein abstrakt nimmt und die reale Wirklichkeit ganz außer acht läßt, so scheint es allerdings, daß alle Kämpfe der Arbeiter um praktische Verbesserungen zwecklos seien. In der Tat, welchen Wert haben all diese Verbesserungen, welche die Arbeiter im steten und zähen Kampfe der Jahrzehnte den Kapitalisten entrissen haben, wenn man sie vergleicht mit dem Ideal einer sozialistischen Zukunft? Allein solch rein abstrakte Betrachtung der Dinge hat schon viel Unheil angerichtet. Man verliert dabei allzusehr die harte Wirklichkeit des Lebens aus den Augen und ersetzt den festen Willen, Änderungen zu ertrotzen, durch fromme Wünsche und sophistische Schaumschlägereien, hinter denen sich kein klarer Gedanke verbirgt. Mag man, von der Vogelperspektive des „reinen Prinzips“ aus gesehen, die praktischen Errungenschaften der proletarischen Kämpfe noch so sehr verkleinern und als bedeutungslos abtun, für den einzelnen Proletarier bedeuten sie nichtsdestoweniger unendlich viel.
Fragt doch einmal den Proleten selber, den Mann, der sich in harter Fron tagtäglich im Betrieb, im Schacht, auf dem Felde oder am Hochofen abmühen muß, um die kärglichen Mittel für des Lebens Notdurft zu gewinnen, fragt ihn einmal, was diese winzigen Verbesserungen für ihn und seine Familie zu bedeuten haben. Versucht ihm doch einmal klarzumachen, daß es im Grunde genommen nichts zu bedeuten habe, ob er acht oder zwölf Stunden schuftet, da er ja in dem einen und in dem anderen Falle doch nur Lohnsklave bleibe.
Oder erklärt einmal der Frau aus dem Volke, die mit dem Lohn, den ihr der Mann am Sonnabend nach Hause bringt, die Bedürfnisse der Familie bestreiten muß, erklärt ihr, daß es an und für sich bedeutungslos sei, ob der Lohn so bemessen, daß sie damit nur trocknes Brot und Kartoffeln einhandeln kann, wie wir es ja in der Inflationsperiode erlebt haben und leider auch heute noch tagtäglich erleben müssen, oder so, daß es zur Bestreitung anderer Bedürfnisse auch noch langt. Erklärt ihr, daß ihr diese Dinge ganz gleich sein könnten, da ja dadurch der Bestand der kapitalistischen Gesellschaft nicht in Frage gestellt werde. Versucht einmal, ihr dieses klarzumachen, und diese einfache Frau aus dem Volke wird ob eurer Weisheit bloß die Achseln zucken und euch für hirnverbrannte Narren halten.
Diese kleinen Verbesserungen oder Verschlechterungen in der proletarischen Lebenshaltung haben für die einzelne Arbeiterfamilie eine ganz eminente Bedeutung, und man muß tatsächlich blind sein, wenn man sich dieser Tatsache verschließen will. Denn schließlich lebt der Arbeiter - auch der radikalste Sozialist und Revolutionär - doch in der heutigen Gesellschaft, deren Bannkreis er sich nicht entziehen kann. Seine tägliche Arbeit bildet für ihn den wesentlichen Inhalt seines Lebens, die materielle Basis seiner individuellen und gesellschaftlichen Existenz, durch welche jede andere Betätigung, die er ausübt, mehr oder weniger bestimmt wird. Aus diesem Grunde kann er an Dingen nicht gleichgültig vorübergehen, die aufs engste mit seiner persönlichen Existenz verbunden sind.
Wer den Arbeitern stets nur von dem großen Endziel zu erzählen weiß und ihnen im übrigen einzureden versucht, daß jede Verbesserung innerhalb der heutigen Gesellschaft für sie zwecklos, ja unmöglich ist, der handelt ungeachtet seines angeblichen „Radikalismus“ nicht anders wie die Pfaffen, die den Hungrigen das Himmelreich versprechen, damit sie sich leichter über die Hölle ihres irdischen Daseins hinwegtäuschen. Was anderes ist denn die stete Anpreisung auch des schönsten Ideals, wenn man darüber die naheliegenden Aufgaben des täglichen Kampfes vergißt und dem Arbeiter die Überzeugung beizubringen sucht, daß dieser Kampf für ihn keinen Wert hat?
Will man sich davon überzeugen, daß es wohl einen Unterschied in der Lebenshaltung des Proletariers gibt, so ist es übrigens gar nicht nötig, die Proleten der frühkapitalistischen Periode als Beispiel heran; zuziehen. Es genügt vollständig, die Erfahrungen der deutschen Arbeiterschaft während der letzten Jahre etwas näher ins Auge zu fassen und dieselben mit ihrer Lebenshaltung vor dem Kriege zu vergleichen. Man könnte mit diesem Material ganze Bücher ausfüllen, aber einige Beispiele genügen für unseren Zweck vollständig.
So ist vor einigen Monaten von Fritz Reuter eine Schrift erschienen, welche die Exportmöglichkeiten der deutschen Maschinenindustrie behandelt. In diesem Werkchen befindet sich auch eine statistische Lohntabelle, in welcher die Löhne, die während der letzten Jahre in der englischen und deutschen Metallindustrie gezahlt wurden, zum Vergleich herangezogen werden. Hinter diesen trockenen Zahlen verbirgt sich die ganze beispiellose Tragödie der deutschen Arbeiterklasse nach dem Kriege. Vor dem Kriege betrug der Minimallohn des deutschen Metallarbeiters ungefähr 70 Pfennig die Stunde, während es der englische Metallarbeiter auf 83 Pfennig Stundenlohn brachte, mithin ungefähr 20% mehr verdiente wie sein Berufskollege in Deutschland.
Wie sich dieses Verhältnis später gestaltet hat, davon möge die folgende Tabelle Zeugnis ablegen:
1922 | Deutschland | England | ||
In Goldpf. p. Stunde | In Proz. des Vorkriegslohns | In Goldpf. p. Stunde | In Proz. des Vorkriegslohns | |
30. Januar | 25 | 37 | 137 | 165 |
6. März | 18,4 | 26 | 139 | 168 |
l.Mai | 29,15 | 41,5 | 136 | 164 |
31. Juli | 17,73 | 25,4 | 138 | 166 |
23. Oktober | 11,2 | 16 | 133 | 169 |
20. November | 9,5 | 13,55 | 136 | 164 |
4. Dezember | 13,5 | 19,6 | 139 | 168 |
1923 | ||||
29. Januar | 8,2 | 11,7 | 141 | 170 |
5. März | 25,5 | 36,5 | 141 | 170 |
14. Mai | 14 | 20 | 134 | 161,5 |
4. Juni | 9,6 | 13,7 | 131 | 158 |
2. Juli | 22,86 | 32,7 | 132 | 159 |
24. September | 52,63 | 75,2 | 134 | 161,5 |
1. Oktober | 35,7 | 51 | 135 | 163 |
5. November | 52 | 74,3 | 134 | 161,5 |
31. Dezember | 48 | 68,5 | 131 | 158 |
|
|
| ||
1924 |
|
| ||
14. Januar | 48 | 68,5 | 131 | 15 |
Während der Lohn des englischen Metallarbeiters vor dem Kriege ungefähr 20 Prozent höher stand wie der seines deutschen Berufsgenossen, verdient er heute nahezu das Dreifache. Während der Inflationsperiode aber verdiente er oft zehnmal und fünfzehnmal soviel als der deutsche Metallarbeiter. Und nun behaupte einer, daß es keine wesentlichen Unterschiede in der Lebenshaltung des Proletariers gebe!
In der Kohlenindustrie ist der Unterschied nicht ganz so kraß, immerhin noch alarmierend genug. Nach der letzten statistischen Berechnung beträgt der Minimallohn des englischen Bergmanns bei einer Schicht von sieben Stunden etwas weniger wie elf Schilling täglich. Das ist ungefähr doppelt soviel, als der deutsche Bergmann an Lohn erhält. Ähnlich ist das Verhältnis in vielen anderen Industrien. Die allgemeine Lebenshaltung des deutschen Arbeiters hat sich also unzweifelhaft in einem erschreckenden Maße verschlechtert. Zieht man dabei noch in Betracht, daß die Preise der notwendigsten Lebensmittel die Vorkriegspreise um vieles übersteigen, Gebrauchsgegenstände des täglichen Bedarfs, wie Kleider, Schuhe, Wäsche usw., aber fast unerschwinglich geworden sind, so wird das Bild von der Lebenslage des deutschen Arbeiters nur noch trostloser. Macht man sich nun noch klar, daß das deutsche Volkseinkommen durch Steuern, Abgaben und Zölle mit 46% pro Kopf der Bevölkerung belastet ist, während die Belastung in Frankreich nur 22% und in England nur 18% beträgt, die besitzenden Klassen aber kein Mittel unversucht lassen, um von dieser Belastung soviel als irgend möglich ist, auf die Schultern des werktätigen Volkes in Deutschland abzuwälzen, so begreift man erst richtig den Leidensweg der deutschen Arbeiterklasse seit der Beendigung des Krieges.
Sogar die verspäteten Verfechter des Lassalleschen Lohngesetzes dürften bei einigermaßen gutem Willen daraus ersehen, daß die Frage der Lebenshaltung für die Arbeiterschaft nicht so unwesentlich ist, wie sie glauben, und daß jenes angebliche „Gesetz“ jeder tieferen Begründung ermangelt.
Vergessen wir dabei nicht, daß diese ungeheuerliche Senkung der proletarischen Lebenshaltung zu einer Zeit vor sich ging, als die deutsche Schwerindustrie unter Führung von Stinnes fabelhafte Gewinne einheimste und unsere Großagrarier das deutsche Volk „bei vollen Scheunen langsam verhungern“ ließen. In derselben Zeit aber suchte sozialdemokratische Führerweisheit und zentralverbändlerische Abgeklärtheit dem Arbeiter einzureden, daß man nach einem verlorenen Kriege mit Lohnforderungen zurückhalten müsse, wenn man das deutsche Wirtschaftsleben nicht völlig ruinieren wolle. Und die Arbeiter waren töricht genug, diesen Einflüsterungen stattzugeben, während Unternehmer, Agrarier und Börsenspekulanten sich die Taschen füllten. Diese Herren wurden nicht von dergleichen Skrupel geplagt; sie dachten gar nicht daran, sich angesichts des verlorenen Krieges mit kleineren Profiten zu begnügen, sondern rafften zusammen, was nur zu ergattern war, während die breite Masse der werktätigen Bevölkerung sich kaum noch mit trockenem Brote und Kartoffeln nähren konnte. Keinem dieser Schmarotzer kam es auch nur für eine Minute in den Sinn, daß ihre ungezügelte Gefräßigkeit ein ganzes Volk rettungslos dem Verderben preisgab.
Tatsache ist, daß ein großer Teil der heutigen Preise, die in gar keinem Verhältnis zu den durchschnittlichen Arbeitslöhnen stehen, sich überhaupt nicht durch wirtschaftliche Ursachen, sondern nur psychologisch erklären lassen. In normalen Zeiten begnügt sich der Unternehmer und Kaufmann mit einem gewissen Profit, dessen Höhe zum großen Teile durch die gegenseitige Konkurrenz reguliert wird. Auf diese Weise entwickelt sich sogar eine gewisse Ethik unter Geschäftsleuten, die ein sogenanntes anständiges Geschäft von direktem Wucher wohl zu trennen weiß. Aber in der Zeit nach dem Kriege und besonders in der sogenannten Inflationsperiode gingen alle ethischen Begriffe und jeder natürliche Maßstab in die Brüche. Das laissez faire, laissez aller der Besitzenden verlor sich ins Uferlose. Jeder Unternehmer, jeder Kaufmann wurde in derselben Zeit Spekulant, Spekulant auf das grenzenlose Elend seines eigenen Volkes, und ergatterte Profite, von denen er früher nicht einmal zu träumen wagte. Raffke wurde Trumpf in Deutschland, der Schieber nahm den Platz des Geschäftsmannes vergangener Jahre ein. Kein Wunder, daß es vielen dieser Herren heute schwerfällt, sich in der Periode sogenannter Stabilität wieder zurechtzufinden. Die Preise legen dafür beredtes Zeugnis ab.
Was nun die Behauptung anbetrifft, daß jede Steigerung der Löhne unwiderruflich eine Steigerung der Preise nach sich ziehen müsse und daß der Kapitalist das, was er mit einer Hand dem Produzenten mehr zahle, dem Konsumenten wieder mit der anderen Hand aus der Tasche stehle - eine Behauptung, mit der man heute wieder eifrig hausieren geht in sogenannten „radikalen“ Kreisen - so ist sie ebenso irrig wie das „eherne Lohngesetz“. Es war kein Geringerer als Marx in eigener Person, den viele unserer „Radikalen“ stets im Munde führen, welcher das Unzulängliche und Falsche dieser Behauptung überzeugend nachgewiesen hat. In seinem bekannten Vortrag im Generalrat der Internationale (1865) zerpflückte er die Ausführungen des Owenisten Weston, der jenen Standpunkt vertrat, so gründlich, daß von denselben überhaupt nichts mehr übrigblieb.
In der Tat, jene Behauptung könnte erst dann einen gewissen Anspruch auf Wahrscheinlichkeit machen, wenn man, wie Marx sagt, beweisen könnte: 1. „daß die Menge der nationalen Produktion etwas Feststehendes ist, eine gleichbleibende Menge oder Größe, wie der Mathematiker sagen würde; 2. daß der Betrag der wirklichen Löhne, d. h. der Löhne, gemessen an der Menge der Gebrauchsgegenstände, die mit ihnen gekauft werden können, ein feststehender Betrag, eine gleichbleibende Größe ist.“
In diesem Falle könnte man die Behauptung wenigstens noch verständlich finden. Nun wissen wir aber, daß die allgemeine Produktion sich fortgesetzt steigert und daß dadurch dem Unternehmer allein schon die Möglichkeit geboten ist, Lohnerhöhungen wieder auszugleichen, ohne daß er gezwungen wäre, zu einer Steigerung der Preise seine Zuflucht zu nehmen.
Wäre es wirklich eine ökonomische Tatsache, daß eine Steigerung der Löhne notwendigerweise eine Steigerung der Preise zur Folge habe, so wäre auf Grund dieser Tatsache eine Veränderung der proletarischen Lebenshaltung in der Tat unmöglich. In diesem Falle müßte aber der moderne Arbeiter noch immer unter denselben Verhältnissen leben, wie sein Vorgänger in der frühkapitalistischen Periode. Und da, wie bereits ausgeführt wurde, eine Entwicklung geistiger und sittlicher Bedürfnisse erst stattfinden kann, wenn sie durch die materielle Lebenshaltung ermöglicht wird, so müßten all diese Erscheinungen, die wir heute auf Schritt und Tritt innerhalb der Arbeiterbewegung wahrnehmen können, einfach auf optischen Täuschungen beruhen. Dann wären allerdings all die unzähligen Kämpfe der Arbeiterschaft gegen das Unternehmertum, um eine Besserung ihrer Lebenslage zu erzielen, rein für die Katz gewesen. Dann wären aber auch alle Versuche des Unternehmertums, die Löhne der Arbeiter bei jeder sich bietenden Gelegenheit herabzusetzen, ebenso belang- und zwecklos gewesen, da sie ja an dem Stand der Dinge nicht das Geringste ändern konnten. So viel Scharfsinn aber muß man dem Unternehmertum schon zutrauen, daß es nicht zwecklos Dinge provoziert, auf die die Arbeiter bei der ersten besten Gelegenheit wieder reagieren müssen und die mithin zu einer ortgesetzten Erschütterung des Wirtschaftslebens führen, an welcher der Kapitalist absolut kein Interesse haben kann. Ein solches Vorgehen wäre nicht bloß töricht, es wäre der hellste Wahnsinn.
Es ist überhaupt absurd, anzunehmen, daß der Kapitalist zu jeder Zeit imstande wäre, eine Erhöhung der Preise vornehmen zu können, sobald das Lohnverhältnis sich etwas zugunsten der Arbeiter verschoben hat. Bei der Bestimmung der Preise spielen eben noch ganz andere Faktoren eine Rolle, und auch der Kapitalist kann in dieser Hinsicht nicht einfach seinem Willen folgen, sondern ist vielmehr an gewisse Bedingungen gebunden, die er nicht willkürlich ändern kann, und die ihm in vielen Fällen direkt von der Konkurrenz aufgezwungen werden. Wäre das nicht der Fall, dann wäre, wie Marx sehr richtig sagt: „das Auf und Ab, die unaufhörliche Veränderung der Marktpreise ein unlösbares Rätsel“.
Es würde zu weit führen, den Beziehungen zwischen Lohn und Preis hier in allen Einzelheiten nachzuspüren, da ja der Zweck dieser Schrift ein ganz anderer ist. Wer sich dafür interessiert, der lese das Schriftchen von Marx (Karl Marx: Lohn, Preis und Profit), welches diese Frage in erschöpfender Weise behandelt. Die ganze Behauptung, daß die Erhöhung der Löhne, zwangsläufig eine Erhöhung der Preise zur Folge haben müsse, ist nicht mehr wie eine Mystifikation, wie so viele andere ökonomische „Gesetze“, die nur dazu beigetragen haben, Verwirrung unter den Arbeitern anzurichten und sie auf Irrwege zu führen.
Wohl ist es möglich, daß Lohnerhöhungen eine Steigerung der Preise nach sich ziehen können, aber auch das Gegenteil kann eintreten, wie Marx in einer Reihe von Beispielen treffend nachgewiesen hat, wo Lohnerhöhungen und eine Senkung der Preise gleichzeitig eintraten. Daß aber auch das Umgekehrte der Fall sein kann, haben wir ja zu unserem eigenen Schaden während der letzten Jahre hier genugsam erfahren müssen. Denn obwohl die Löhne in Deutschland sogar rein zahlengemäß noch lange nicht die Höhe der Vorkriegszeit erreicht haben, verhält es sich bei den Preisen gerade umgekehrt. Wäre aber die Behauptung richtig, daß eine Steigerung der Löhne automatisch eine Steigerung der Preise zur Folge habe, dann müßte nach derselben Logik nach einer Senkung der Arbeitslöhne auch eine Senkung der Preise eintreten. Der gegenwärtige Zustand in Deutschland ist der beste Beweis, daß dies nicht der Fall ist.
Nein, alle sogenannten eisernen „Gesetze“ sind nicht imstande, den täglichen Kämpfen der Arbeiterschaft, dem Kampf ums tägliche Brot, auch nur ein Jota ihrer Bedeutung zu nehmen. Sie geben der Arbeiterbewegung ihren eigentlichen Charakter und sind mit ihrem innersten Wesen aufs innigste verwachsen. Allein diese Kämpfe haben nicht bloß eine unmittelbar praktische Bedeutung, sie bilden auch die notwendige Voraussetzung für die endgültige Befreiung des Proletariats vom Joche der Lohnknechtschaft und jeder anderen Form der Ausbeutung. Obwohl in der Gegenwart und in der praktischen Wirklichkeit des Lebens wurzelnd, tragen sie nichtsdestoweniger die Keime eines künftigen Werdens in sich, aus denen der Menschheit eine bessere Zukunft erstehen wird. Denn alles Neue und Kommende entspringt der unmittelbaren Wirklichkeit des lebendigen Seins. Nicht aus den luftleeren Räumen abstrakter Vorstellungen wird uns eine neue Welt geboren werden, aus den Kämpfen ums tägliche Brot wird sie emporwachsen, aus dem ununterbrochenen harten Ringen, das die Not und Sorge der Stunde erheischt, und das allen bitteren Notwendigkeiten Rechnung zu tragen weiß. Im fortgesetzten Kampfe gegen das Alte und Bestehende formt sich das Neue und reift seiner Vollendung entgegen. Wer die Errungenschaft der Stunde nicht zu schätzen weiß, wird nie imstande sein, sich selber und seinen Mitmenschen eine bessere Zukunft zu erkämpfen.
Aus den täglichen Kämpfen der Arbeiter gegen das Unternehmertum und seine Verbündeten geht ihnen allmählich der tiefere Sinn dieser Kämpfe auf. Zunächst verfolgen dieselben nur den unmittelbaren Zweck, die allgemeine Lage des Produzenten innerhalb der heutigen Gesellschaft besser zu gestalten, bis sie den Arbeitern nach und nach die Wurzel des Übels enthüllen - das Lohnsystem, die kapitalistische Monopolwirtschaft. Zur Erringung dieser Erkenntnis bieten die Kämpfe des Alltags einen besseren Anschauungsunterricht wie die schönsten theoretischen Abhandlungen. Nichts kann den Geist und die Psyche des Arbeiters so stark beeinflussen, als dieser andauernde Kampf ums tägliche Brot, nichts macht ihn so empfänglich für die Gedankengänge des Sozialismus wie jenes fortwährende Ringen um des Lebens Notdurft.
Und darin liegt letzten Endes die große soziale Bedeutung dieser Kämpfe, die auch dann bestehen bleibt, wenn die Arbeiter des öfteren als die Geschlagenen aus ihnen hervorgehen und ihre Energien scheinbar nutzlos vergeudet haben. Auch solche Niederlagen sind ungemein lehrreich und entwickeln in den Köpfen der Arbeiter mit unerbittlicher Logik das Verständnis für bessere und wirksamere Methoden des Kampfes, auch dann, wenn die erhaltene Schlappe sie zunächst mutlos macht und ihre Kampfesstimmung arg herabsetzt.
Wie die leibeigenen Bauern zur Zeit der Feudalherrschaft durch zahllose Revolten und größere Insurrektionen, die zunächst nur den Zweck verfolgten, den Feudalherren gewisse Zugeständnisse zu entreißen und eine Besserung ihrer traurigen Lebenslage zu erzielen, gerade durch diese fortgesetzten Aufstände der großen Revolution den Weg ebneten und die Abschaffung der feudalen Rechte vorbereiteten, so bilden die zahllosen Arbeiterkämpfe ums tägliche Brot im Schoße der kapitalistischen Gesellschaft sozusagen die Einleitung für die kommende soziale Revolution, aus der uns der Sozialismus erwachsen wird. Ohne die ununterbrochenen Revolten der Bauernschaft - Taine berichtet, daß von 1781 bis zur Erstürmung der Bastille über fünfhundert solcher Revolten fast in allen Teilen Frankreichs stattgefunden haben - hätte sich der Gedanke über die Verderblichkeit des ganzen Systems der Hörigkeit und des Feudalismus in den Köpfen der Massen nie eingenistet. Dieser Gedanke mußte erst aus den fortgesetzten Kämpfen der Bauern langsam heranreifen und allmählich Form und Gestalt annehmen, bis er endlich mit unwiderstehlicher Gewalt zur Abschaffung der Leibeigenschaft und der sogenannten Feudalrechte führte.
Ebenso verhält es sich mit den wirtschaftlichen und sozialen Kämpfen der modernen Arbeiterschaft. Es wäre total falsch, wenn man dieselben lediglich auf ihren materiellen Ursprung hin und nach ihren praktischen Ergebnissen einschätzen wollte und ihre tiefe psychologische Bedeutung für die Aufrüttelung der Massen und die Erweiterung ihres geistigen Horizonts vollständig verkennen würde. Nur durch die täglichen Auseinandersetzungen zwischen Arbeiter und Unternehmertum konnte der Gedanke des Sozialismus, der in den Köpfen einzelner Denker zum Leben erwachte, erst Fleisch und Blut bekommen und jenen besonderen Charakter annehmen, der ihn zu einer Bewegung der Massen machte, zum Träger eines neuen sozialen Kulturideals.
Ideen allein schaffen noch keine Bewegung, sind sie doch selber nur ein Ergebnis konkreter Lebensverhältnisse, der geistige Niederschlag bestimmter materieller Bedingungen. Bewegungen entstehen aus den unmittelbaren und praktischen Notwendigkeiten des Lebens und sind nie das Ergebnis rein abstrakter Vorstellung. Aber sie bekommen erst ihre unwiderstehliche Kraft und innere Siegesgewißheit, wenn sie von einer großen Idee befruchtet werden, die ihnen Inhalt und Seele gibt. Nur in diesem Sinne läßt sich das Verhältnis der revolutionären Arbeiterbewegung zum Sozialismus verstehen und richtig würdigen. Ist dies aber der Fall, so geht daraus sonnenklar hervor, daß revolutionäre Sozialisten aller Schattierungen dem Kampf ums tägliche Brot, welcher ja den ganzen Inhalt der gesamten Arbeiterbewegung bildet, nicht weltfremd gegenüberstehen können, sondern gerade in diesem Kampfe die unvermeidliche Vorbedingung für die endliche Verwirklichung des freiheitlichen Sozialismus erblicken müssen. Gerade ihre Aufgabe muß es sein, an den Alltagskämpfen der Arbeiterschaft aktiv teilzunehmen, alle Mittel anzuwenden, dieselben tiefgründiger und umfangreicher zu gestalten und den Massen den inneren Zusammenhang ihrer Forderungen mit dem großen Endziel der Bewegung immer wieder vor Augen zu halten.
Wer da glaubt, daß er für diese Arbeit zu gut ist oder sich um dieselbe zu drücken sucht, unter dem nichtigen Vorwand, daß jede Hebung der proletarischen Lebenshaltung innerhalb der heutigen Gesellschaftsordnung unmöglich sei und nur die Arbeiter von ihrem eigentlichen Ziele ablenke, der mag sich nicht wundern, wenn er bei den Proleten kein Verständnis findet oder, wenn ihm gesagt wird, daß man seinen Rat entbehren könne. Die Tatsache allein, daß er den inneren Zusammenhang zwischen dem Kampf ums tägliche Brot und dem sozialistischen Endziel der Bewegung nicht begriffen hat, ist ein Beweis dafür, daß ihm der Wesensinhalt sowohl des Sozialismus als auch der Arbeiterbewegung bis dato ein Buch mit sieben Siegeln geblieben ist. Mag er sich immerhin seines „Radikalismus“ freuen, im Grunde genommen ist er nicht mehr wie einer jener billigen Mondscheinphilosophen, die jenseits von Raum und Zeit schweben und für die bittere Notdurft des Lebens kein Verständnis aufbringen.
Solche Leute hat uns die Novemberrevolution eine ganze Menge beschert, die vorübergehend kurze Gastrollen in unserer eigenen und in verwandten Bewegungen gespielt haben und hie und da noch spielen. Meist sind es weiche, zwitterhafte Geschöpfe, die stets wie ein Rohr im Winde schwanken und nie richtig wissen, wo sie eigentlich hingehören. Sie haben von allen Parteien und Richtungen etwas genascht, kennen aber stets nur die Fassade der Dinge, da ihnen Energie fehlt, in die Tiefe zu schürfen und das Innerste einer Bewegung kennenzulernen. Da sie gelernt haben, ihre Weisheit mit dem nötigen Pathos an den Mann zu bringen und unreife Geister mit einem Gallimathias hohler und bombastischer Schlagworte besoffen zu machen, so hält sie der Unverstand Einzelner oft für „starke Männer“ und leistet ihnen vorübergehend Heeresfolge, bis die unvermeidliche Enttäuschung einsetzt, die in der Regel nicht lange auf sich warten läßt. Meistenteils haben sie die ganze Farbenskala aller Entwicklungsmöglichkeiten der sozialen Bewegung mit dem Fahrrad durchlaufen, waren Unabhängige, Kommunisten, Rätebündler usw., bis man sie eines Tages als „Buddhisten“ oder in dem angenehmen Kreise von Geistersehern, Tischklopfern usw. wiederfindet. Von dort geht die Reise gewöhnlich durch den Häusserbund, wo der eine oder der andere eines Tages entdecken mag, daß er selber das Zeug zum modernen Christus in sich trägt und mit der subalternen Rolle des Apostels nicht mehr zufrieden ist. Andere landen schließlich in einem stillen Winkel, wo sie in stiller Seligkeit und mit Wonnegrunzen die Schönheit ihres eigenen Nabels bewundern. Wir wollen sie nicht stören in dieser lieblichen Beschäftigung und hoffen nur, daß sie auch uns fürderhin ungeschoren lassen.
Für das kämpfende Proletariat aber bleibt der alte Grundsatz bestehen: „Nur im Kampfe findest du dein Recht!“ Aus dem Kampfe ums tägliche Brot entwickelt sich das Gefühl der Zusammengehörigkeit, die proletarische Solidarität, das Bewußtsein der menschlichen Würde. Nur auf diesen Pfeilern wird die Brücke gebaut werden, welche die Arbeiterschaft aus der Hölle des sozialen Elends und der industriellen Leibeigenschaft in das Neuland der sozialistischen Zukunft führen wird.
Der Kampf ums tägliche Brot spielt sich nicht bloß auf Wirtschaftlichem Gebiete ab, er greift auch tief in die Sphäre des politischen und sozialen Lebens ein, und seine äußeren Formen sind zum großen Teil durch den jeweiligen politischen Zustand eines Landes direkt bedingt. Wir berühren hier ein Gebiet, über welches vielfach noch dieselben Unklarheiten verbreitet sind, wie in den Fragen des wirtschaftlichen Kampfes für eine bessere Lebenshaltung des Arbeiters. Und es ist auch hier wieder derselbe mißgeleitete und bis zum Zerrbild entstellte „Radikalismus“, welcher für diese Unklarheiten verantwortlich ist. Auch hier begegnen wir uns wieder mit jener vollständigen Verkennung gegebener Tatsachen, durch welche fortgesetzt Dinge miteinander verwechselt werden, die man, will man sich den klaren Blick nicht trüben lassen, unter keinen Umständen miteinander verwechseln darf.
Weil wir den Standpunkt vertreten, daß die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen auf das innigste verwachsen ist mit der Beherrschung des Menschen durch den Menschen, daß folglich zusammen mit dem Monopol der Ausbeutung auch das Monopol der Macht aus dem Leben der Gesellschaft verschwinden muß, haben manche gefolgert, daß die besonderen politischen Formen eines Landes für die Arbeiterschaft und ihre Kämpfe keinerlei Interesse haben. Wozu sich um die Formen des Staates kümmern, wenn man sich über sein eigentliches Wesen und die Mission, die er erfüllt, einig ist? Solche Behauptungen hört man nicht selten. Wenn man des öfteren gezwungen ist, den Meinungen zu lauschen, die von „Überradikalen“ in öffentlichen Versammlungen vertreten werden oder in gewissen Blättern zum Ausdruck kommen, so stehen einem die Haare manchmal zu Berge, und man fragt sich vergebens, wie so etwas möglich ist. Es ist daher schon angebracht, daß wir uns auch mit dieser Frage etwas näher beschäftigen, um so mehr, als sie mit den Dingen, die wir bisher behandelt haben, eng verbunden ist.
Im Gegensatz zu den verschiedenen staatssozialistischen Richtungen von der Sozialdemokratie bis zum Bolschewismus und allem, was dazwischen liegt, vertreten wir den Standpunkt, daß der Sozialismus nicht von oben herab durch irgendeine gesetzgebende Körperschaft oder Regierungsdiktatur dekretiert werden kann, sondern daß er sich vielmehr aus dem Schoße des Volkes organisch entwickeln muß, wobei ihm die revolutionäre Aktion der Massen Geburtshilfe leisten muß. Wir sind der Meinung, daß jedes staatliche System mit der jeweiligen Form der wirtschaftlichen Ausbeutung der breiten Massen durch privilegierte Minderheiten innerlich aufs engste verwachsen ist, und daß seine besonderen politischen Formen an dieser Tatsache selbst nichts ändern können, da ja der Staat nie etwas anderes gewesen ist, noch sein kann, als der Gewaltapparat der besitzenden Klassen, der Verteidiger der wirtschaftlichen Monopole und der Klassengegensätze innerhalb des gesellschaftlichen Verbandes. Mag er nun unter monarchistischer Flagge segeln oder das Banner der Republik entfalten, nie wird er dieser seiner Mission untreu werden können, die ja in seinem innersten Wesen begründet ist.
Wir sind daher der Auffassung, daß zusammen mit dem System der Ausbeutung auch das System der Herrschaft fallen muß, und daß jeder Versuch in der Richtung zum Sozialismus unwiderruflich zum Scheitern verdammt ist, wenn die Initiatoren eines solchen Versuches den politischen Herrschaftsapparat aufrechterhalten und in Funktion belassen. Das Experiment der Bolschewisten in Rußland hat uns in dieser Hinsicht eine Lehre gegeben, die auch den Blindesten überzeugen müßte, wenn er nicht von vornherein die Absicht hat, sich nicht überzeugen zu lassen und jede Belehrung aus parteipolitischen oder anderen Gründen ablehnt.
Jede neue Wirtschaftsordnung fordert kategorisch eine neue Form der politischen Organisation, innerhalb derer sie sich auswirken und in natürlicher Weise entwickeln kann. Aus diesem Grunde muß es eine der ersten Aufgaben des Sozialismus und der Sozialisten sein, das bestehende Staatssystem durch eine neue Form der politischen Organisation zu ersetzen, in welcher das Regieren der Menschen dem Verwalten der Dinge weichen muß.
Von diesem Standpunkt ausgehend, erblicken wir in der Eroberung der politischen Macht keine Vorbedingung für die Verwirklichung des Sozialismus - eine Auffassung, wie sie von den Arbeiterparteien der verschiedenen Länder noch bis heute vertreten wird - unsere ganze Aufmerksamkeit ist vielmehr darauf gerichtet, jede politische Macht und Herrschaftseinrichtung aus dem gesellschaftlichen Leben auszuschalten, weil dieselbe unvermeidlich zu neuen Formen der Ausbeutung führen müßte.
Wir begnügen uns indessen keineswegs mit dem Zukunftsideal einer herrschaftslosen Gesellschaft, unsere Bestrebungen sind auch schon heute darauf eingestellt, die Wirkungssphäre des Staates, wo immer sich eine Gelegenheit dazu bietet, zu beschränken und seinen Einfluß auf die verschiedenen Zweige des gesellschaftlichen Lebens nach Kräften einzudämmen. Es ist gerade diese Taktik, welche uns in erster Linie von den Methoden der sogenannten Arbeiterparteien unterscheidet, deren ganze Bestrebungen darauf gerichtet sind, den Wirkungskreis der staatlichen Macht fortgesetzt zu erweitern und dieselbe auch im weitesten Maße auf das Wirtschaftsleben auszudehnen, wodurch einer Periode des Staatskapitalismus der Weg geebnet wird, der seinem ganzen Wesen nach nur das Gegenteil von dem sein kann, was der Sozialismus eigentlich erstrebt.
Diese Auffassung besagt aber keineswegs, daß die bestehenden politischen Formen eines Landes für uns gar keine oder nur nebensächliche Bedeutung haben. Gerade wir dürfen die allerletzten sein, welche die Arbeiter zu dem Wahn verführen wollen, daß ihnen die jeweilige Regierungsform gleichgültig sein kann und es für sie kein Unterschied ist, ob sie gezwungen sind, in einem zaristisch oder faschistisch regierten Staate leben zu müssen, oder ob sie sich gewisser politischer Rechte und Freiheiten erfreuen können, die ihnen sowohl für ihre täglichen Kämpfe gegen das Unternehmertum, als auch für jede Art der Propaganda, welche ihre soziale Befreiung zum Ziele hat, von allergrößter Wichtigkeit sind.
Fragt doch einmal unsere syndikalistischen und anarchistischen Genossen in Italien und Spanien, fragt doch die organisierte Arbeiterschaft jener Länder, ob ihnen die Diktatur eines Mussolini oder eines Primo de Rivera in der Tat so ganz gleichgültig ist. Nur wer von den ungeheuerlichen Verfolgungen, welchen unsere Kameraden in jenen Ländern, besonders aber in Spanien während der letzten Jahre unterworfen sind, keinen blassen Schimmer hat, könnte etwas Ähnliches behaupten. In Spanien befindet sich die anarcho-syndikalistische Arbeiterschaft seit 1920 in einem unerbittlichen und furchtbaren Kampfe gegen die reaktionären Mächte des Staates und des Unternehmertums, der periodenweise den Charakter einer förmlichen Vendetta angenommen hatte und dem Hunderte unserer Kameraden zum Opfer gefallen sind. Wenn wir heute trotz alledem ein Erlahmen der Reaktion in Spanien wahrnehmen können, so ist dies sicher nicht zum wenigsten dem heldenmutigen Kampfe unserer spanischen Arbeitsbrüder zu danken, die auch unter den schwersten Verfolgungen nie den Mut verloren haben.
Auch wir Revolutionäre und freiheitliche Sozialisten leben ja schließlich nicht auf dem Monde, sondern in einer Gesellschaft, die wir zwar bekämpfen, deren unmittelbaren Einflüssen wirtschaftlicher, politischer und sozialer Natur wir uns aber vorläufig nicht entziehen können. Wir können daher nicht Dinge ignorieren, die uns fortgesetzt auf den Fingernägeln brennen und die, wenn wir schon mit ihnen nichts zu schaffen haben möchten, sich aber mit uns zu schaffen machen, ob es uns angenehm ist oder nicht.
Wenn man daher behauptet, daß ja die verschiedenen Formen der staatlichen Macht an dem Wesen und der Existenz des Staates selbst nichts ändern könnten, und daß folglich die Frage, wer uns regiert und wie wir regiert werden, eine ganz untergeordnete Rolle spiele, so ist das ungefähr dasselbe, als wenn man den Standpunkt vertritt, daß es für die Arbeiter ganz gleich sei, ob sie acht oder zwölf Stunden arbeiten, ob ihre Entlohnung den Ansprüchen ihrer Lebensbedürfnisse angemessen ist oder nicht, da ja durch solche Kleinigkeiten an dem Bestehen der kapitalistischen Gesellschaft nichts geändert werde. Wir haben bereits in dem ersten Abschnitt dieser Abhandlung gezeigt, daß diese Auffassung der Dinge bedenklich hinkt und zu den Verderblichsten Schlußfolgerungen führen muß.
Nein, ebensowenig wie die Frage seiner Lebenshaltung innerhalb der heutigen Gesellschaft dem Arbeiter gleichgültig sein kann, ebensowenig kann es ihm gleichgültig sein, welche Formen die politische Gestaltung seines Landes annimmt. Sowohl für seine unmittelbaren Bedürfnisse als auch für seine endgültige Befreiung aus wirtschaftlicher, politischer und sozialer Sklaverei benötigt der Arbeiter die denkbar größten politischen Freiheiten, die er sich gegebenenfalls erkämpfen muß, dort, wo sie ihm versagt werden, und die er mit aller Energie verteidigen muß, dort, wo die Reaktion Anstalten trifft, ihm dieselben zu entreißen. Man kann solche Dinge, die mit der gedeihlichen Entwicklung der Arbeiterbewegung aufs innigste verknüpft sind, nicht ignorieren oder mit ein paar leeren Phrasen abtun.
Wie in so vielen anderen Fällen, so geht man auch in der Beurteilung dieser Frage vielfach von ganz irrigen Voraussetzungen aus und kann sich dann schließlich nicht wundern, wenn man zu solch ungereimten und verhängnisvollen Schlußfolgerungen kommt. Die meisten unserer Überradikalen messen politischen Rechten und Freiheiten innerhalb der heutigen Gesellschaftsordnung schon deshalb keinen Wert bei, weil dieselben in einer staatlichen Verfassung niedergelegt sind. Sie stoßen sich an der gesetzlichen Form, ohne sich auch nur einmal die Frage zu stellen, welche Kräfte am Werk gewesen sind, um die „Verankerung“ gewisser Rechte und Freiheiten in der Verfassung überhaupt zuwege zu bringen.
In der Wirklichkeit ist diese Einstellung ja nicht neu. Sie war besonders unter den russischen Revolutionären ziemlich weit verbreitet und führte nicht selten zu den sonderbarsten Auffassungen. So faßte ein Teil unserer anarchistischen Genossen in Rußland im Jahre 1905 auf einer besonderen Konferenz den Beschluß, daß, falls Rußland sich infolge der damaligen Revolution in einen konstitutionellen Staat verwandeln werde, die Anarchisten unter keinen Umständen von gesetzlich garantierten Rechten und Freiheiten Gebrauch machen dürften, um die Arbeiter vor falschen Hoffnungen zu bewahren. Man beschloß daher, daß die Propaganda auch weiterhin und unter allen Umständen ihren geheimen Charakter beibehalten und die anarchistischen Blätter nach wie vor unterirdisch hergestellt werden sollten. Es wäre töricht, solche Beschlüsse allzu tragisch zu nehmen, und wir sind überzeugt, daß, wäre die Revolution von 1905 wirklich erfolgreich gewesen und Rußland in der Tat ein konstitutioneller Staat geworden, so würde sich auch jener Teil der Anarchisten seinen Beschluß noch zweimal überlegt haben. Immerhin verdienen solche Dinge schon etwas Aufmerksamkeit, denn sie zeigen uns, wie grausam auch die beste und schönste Idee mißverstanden werden kann, und zu welch hirnverbrannten Schlüssen man oft gelangen muß, wenn man der Entstehung gewisser Einrichtungen in der Gesellschaft jede Aufmerksamkeit versagt. Es ist übrigens bezeichnend, daß eine ganze Anzahl jener „Überradikalen“ sich später dem Bolschewismus angeschlossen hat und heute mehr oder weniger einflußreiche Mitglieder der Kommunistischen Partei Rußlands sind.
Später entwickelte sich unter den russischen Revolutionären die Richtung der sogenannten „Machajewzes“, deren Anhänger nicht nur jedes sozialistische Gesellschaftsideal als religiöse Schwärmerei behandelten und Sozialdemokraten, Anarchisten und Syndikalisten alle in einen Topf warfen, sondern die auch den Standpunkt vertraten, daß jede öffentlich betriebene Propaganda und revolutionäre Tätigkeit der Arbeiter zu verwerfen sei, weil sie nur zu einer fruchtlosen Vergeudung der Kräfte führten. Von dieser Überzeugung ausgehend, redeten sie einer großen internationalen Verschwörung der Arbeiter das Wort, die sich nie mit Fragen der Zukunft, sondern ausschließlich mit den unmittelbaren Forderungen des Alltags befassen sollte. Und zwar sollten die Arbeiter alle Mittel des ökonomischen Terrors in Anwendung bringen, um ihren praktischen Forderungen Geltung zu verschaffen.
Man konnte das Auftauchen solcher Richtungen in Rußland zur Not noch verstehen. In einem Lande, dessen Bevölkerung nie vorher politische Freiheiten irgendwelcher Art genossen hatte, sind solche Auffassungen immerhin verständlich. Daß man sich aber auch außerhalb Rußlands über diese Dinge noch nicht vollständig klar geworden ist, ist in der Tat bedauerlich.
Man mag über Verschwörungen und geheime Bewegungen denken, wie man will, eines ist sicher, daß sie niemals zu Trägern großer Massenbewegungen werden können. Es gibt Zeiten, wo die Gründung geheimer Organisationen für die Arbeiter nicht zu umgehen ist. Wenn eine brutale, ungezügelte Reaktion die Entfaltung jeder öffentlichen Tätigkeit unterbindet und durch Ausnahmegesetze oder mit der Hilfe diktatorischer Gewaltmittel jedes freie Wort zu ersticken droht, dann bleibt den aktiven Elementen einer revolutionären Bewegung kein anderer Ausweg, als der Gewalt zu trotzen und zu konspirativen Verbindungen ihre Zuflucht zu nehmen. Dabei aber darf man niemals vergessen, daß diese Form der Bewegung nicht normal ist und ihr durch äußere Verhältnisse aufgezwungen wurde. In diesem Falle muß die Bewegung ihr ganzes Augenmerk darauf lenken, diese Verhältnisse bei der ersten Gelegenheit zu Fall zu bringen, damit sie wieder imstande ist, ihren natürlichen Charakter anzunehmen. Alle wirklich sozialen Bewegungen mit weitgesteckten Zielen bedürfen eben der breitesten Öffentlichkeit, um die Massen zu erfassen und in ihrem Sinne beeinflussen zu können, was eine Geheimbewegung nie zustande bringt. Schon von diesem Standpunkt aus gesehen erscheinen uns alle politischen Rechte und Freiheiten, welche sich im Laufe der Jahrzehnte in den verschiedenen Ländern durchgesetzt haben, in einem ganz anderen Lichte.
Alle politischen Rechte, welche wir heute in mehr oder weniger beschränktem Maße genießen, haben die Völker nicht dem guten Willen oder der Gunst ihrer Regierungen zu danken. Im Gegenteil, die Regierungen haben alle Mittel, die ihnen nur zur Verfügung standen, angewendet, um das Zustandekommen solcher Rechte zu unterbinden und illusorisch zu machen. Große Massenbewegungen, ja ganze Revolutionen sind notwendig gewesen, um den herrschenden Klassen und Gewalten diese Rechte zu entreißen, zu denen sie sich freiwillig nimmer mehr entschlossen hätten. Ungeheuere Opfer waren nötig, um solche Rechte zu erkämpfen, die uns heute als etwas ganz Selbstverständliches erscheinen.
an studiere doch einmal die Geschichte der letzten hundertfünfzig Jahre, um zu verstehen, welch unerbittliche Kämpfe notwendig gewesen sind, um jeden Zollbreit eines gewissen Rechtes den Klauen des Despotismus zu entreißen. Wieviel Ströme Blutes mußten erst vergossen werden, wieviel Märtyrertum war erforderlich, wieviel Verfolgungen haben in jedem Lande stattgefunden im Laufe langer Jahrzehnte, um einen mehr oder weniger freien Ausdruck der Meinung in Wort und Schrift zu ermöglichen! Lest doch einmal die Geschichte der Zensur, dieser verhaßten und fluchwürdigen Einrichtung, welche der geistigen Entwicklung Europas so lange an der Gurgel saß und teilweise noch immer sitzt! Wieviel ungeheuere Opfer und revolutionäre Erhebungen waren nötig, um jenem Monstrum in ununterbrochenen Zusammenstößen allmählich den Boden abzugraben!
Und welch mühevolle und opferreiche Kämpfe mußten die Arbeiter fast in jedem Lande bestehen, um sich das Koalitionsrecht zu erringen, die Freiheit, sich mit ihresgleichen zu organisieren, um dem Unternehmertum eine geschlossene Front entgegensetzen zu können. Wir machen heute von diesen Rechten Gebrauch, aber die wenigsten geben sich Rechenschaft darüber ab, was dieselben die Arbeiterschaft gekostet haben. Wenn wir imstande waren, alle Opfer an Gut, Blut, Leben und Freiheit, welche die Arbeiter der verschiedenen Länder der Eroberung dieser Rechte bringen mußten, nur kurz wiederzugeben, so würde vor unseren Augen ein Bild entstehen, von dem wir uns jetzt sogar keine blasse Vorstellung machen können.
Wie mußte zum Beispiel die englische Arbeiterklasse ringen und streiten, um sich das öffentliche Recht ihrer Organisation zu ertrotzen. Die berüchtigten Gesetze von 1799 - 1800 hatten es den Arbeitern unmöglich gemacht, öffentliche Verbindungen einzugehen, um ihre wirtschaftlichen Interessen gegen die unbegrenzte Habsucht des Unternehmertums zu verteidigen. So mußten sie sich denn in geheimen Körperschaften zusammenfinden, um den Kampf ums tägliche Brot zu führen und ihren Forderungen Geltung zu verschaffen. Aber wie groß war die Zahl derer, die in die Schlingen der Gesetze gerieten und auf administrativem Wege, das heißt, ohne Prozeß und öffentliche Gerichtsverhandlung, nach den Strafkolonien Australiens deportiert wurden, um niemals die Heimat wiederzusehen! Jede Zuwiderhandlung gegen den Buchstaben des Gesetzes wurde mit geradezu ungeheuerlichen Strafen geahndet. Und sogar nachdem im Jahre 1824 die sogenannten Trades Unions gesetzlich anerkannt wurden, hörten diese furchtbaren Verfolgungen noch lange nicht auf. Gewissenlose Richter, die in der offenkundigsten und zynischsten Weise die brutalsten Klasseninteressen des Unternehmertums wahrnahmen, verhängten über unbotmäßige Arbeiter Hunderte von Jahren Zuchthaus, und es vergingen noch Jahrzehnte, bis ein einigermaßen erträglicher Zustand eintrat. Doch mußten die Arbeiter stets auf ihrer Hut sein, um sich gegen neue Angriffe zu schützen, die sich bis in die letzte Zeit hinein fortsetzten.
Und mußte nicht die französische Arbeiterschaft ähnliche Opfer bringen, um sich ihr Organisationsrecht zu erringen? Sogar der „revolutionäre Konvent“ versagte ihnen dieses Recht und bedrohte jedes Zuwiderhandeln mit dem Tode. Erst die Februarrevolution des Jahres 1848 verschaffte der französischen Arbeiterklasse das Koalitionsrecht, das in jener berühmten von Louis Blanc entworfenen Erklärung der Provisorischen Regierung folgenden Ausdruck fand: „Die Provisorische Regierung der Republik verpflichtet sich, die Existenz des Arbeiters durch die Arbeit zu garantieren. Sie verpflichtet sich, allen Bürgern Arbeit zu verschaffen. Sie erkennt an, daß alle Arbeiter sich untereinander verbinden müssen, um den Ertrag ihrer Arbeit zu genießen."
Allein die Arbeiter durften sich dieses Rechtes nicht lange erfreuen, denn als nach dem furchtbaren Aderlaß der Junischlacht Louis Bonaparte Präsident der Republik wurde, gingen diese Errungenschaften bald wieder zugrunde, und die ersten Ansätze der rasch entstandenen Arbeiterorganisationen fielen jenem infamen Gesetz zum Opfer, das die Zahl der Mitglieder einer Organisation auf zwanzig beschränkte und jede Verbindung unter den einzelnen Organisationen untersagte. Damit war der Zustand vor 1848 wiederhergestellt. Im Jahre 1864 anerkannte die kaiserliche Regierung zwar sehr gegen ihren Willen das Recht der Arbeiter, zu streiken, aber sie erlaubte ihnen nicht, Gewerkvereine zu gründen, ohne die das Streikrecht wenig Bedeutung hatte. Allein die Arbeiter, welche der Regierung das Streikrecht entrissen hatten, indem sie einfach auf das Verbot der Arbeitsniederlegung keine Rücksicht mehr nahmen, so daß die Regierung vor eine fertige Tatsache gestellt wurde, die sich nicht mehr rückgängig machen ließ, ertrotzten sich auch das Organisationsrecht, indem sie einfach trotz dem Gesetz gewerkschaftliche Verbindungen ins Leben riefen, ungeachtet aller Verfolgungen. Nach der Niederlage der Pariser Kommune, von 1871 bis 1878, suchte die republikanische Regierung diese Verbindungen mit allen Mitteln zu unterdrücken, aber sogar die schlimmsten Verfolgungen waren nicht mehr imstande, die Arbeiter dem Buchstaben des Gesetzes zu unterwerfen, bis man endlich im Jahre 1886 das Organisationsrecht gesetzlich anerkennen mußte, wobei man den einzelnen Organisationen noch immer genug Beschränkungen auferlegte. Ohne diese fortwährenden Kämpfe der Arbeiterschaft um ihr Vereinigungsrecht gäbe es in der französischen Republik noch heute kein Koalitionsrecht. Erst nachdem die Arbeiter das Parlament vor vollendete Tatsachen gestellt hatten, sah sich die Regierung genötigt, der neuen Lage Rechnung zu tragen und die Gewerkschaften gesetzlich zu sanktionieren.
Und welch harte und blutige Kämpfe hatte die spanische Arbeiterschaft zu bestehen, ehe sie den Gewalthabern ihres Landes das Organisationsrecht abtrotzte. In der Provinz Katalonien bestanden schon seit 1840 gewerkschaftliche Organisationen, besonders in der Textilindustrie, die von dem Weber Munts gegründet wurden. Die Regierung setzte diesen Vereinigungen zunächst keinen Widerstand entgegen, aber nach einigen Jahren unterdrückte sie plötzlich die Organisationen der Arbeiter mit militärischer Gewalt. Die Arbeiter vereinigten sich nun in geheimen Verbänden, die immer größere Verbreitung fanden, bis im Jahre 1855 der General Zapatero, ein finsterer Reaktionär unseligen Angedenkens, die drakonischsten Maßregeln in Anwendung brachte, um die geheimen Verbindungen der Arbeiter, deren Stärke er allerdings nicht kannte, im Keime zu ersticken. Nun beschlossen die Arbeiter einen Generalstreik, und am 2. Juni 1855 verließen 50.000 Proleten die Betriebe. Von Barcelona verbreitete sich die Bewegung fast über ganz Katalonien. In Sans, Igualada und Vieh kam es zu blutigen Zusammenstoßen, die den Charakter eines bewaffneten Aufstandes annahmen. In Barcelona hatten die Arbeiter die Worte „Associación ó Muerte!" (Vereinigung oder den Tod!) auf ihre Fahne geschrieben.
Die Lage wurde für die Regierung sehr kritisch, um so mehr als in den baskischen Provinzen um dieselbe Zeit ein neuer Aufstand der Karlisten ausgebrochen war. Der Gouverneur von Barcelona wandte sich endlich in einem bewegten Aufruf an die Arbeiter und beschwor sie, den Streik aufzugeben, da die Regierung alles tun werde, ihre gerechten Forderungen zu erfüllen. Darauf brachen die Arbeiter am neunten Tage den Streik ab, aber die Versprechungen, die man ihnen gegeben hatte, wurden in schnöder Weise gebrochen und ganz Katalonien mit Militär überschwemmt. Eine Anzahl Arbeiter wurde erschossen, Hunderte in die Gefängnisse geworfen oder nach den Philippinen verbannt.
Aber die Aufstände wiederholten sich, bis sich die Regierung im Laufe der Jahre doch entschließen mußte, den Forderungen der Arbeiter nachzugeben, was zunächst unter allen möglichen Vorbehalten geschah, wobei die Arbeiter sich buchstäblich Stück für Stück ihrer Rechte erkämpfen mußten. Und sogar dann, als den Proletariern das Koalitionsrecht schon gesetzlich garantiert war, wurde es ihnen des öfteren durch Ausnahmegesetze und Proklamation der Militärdiktatur wieder entrissen, so daß sie stets von neuem in die Schranken treten mußten, um sich Recht zu verschaffen.
Es würde zu weit führen, wenn wir hier alle Kämpfe registrieren wollten, welche die Arbeiter auch in anderen Ländern führen mußten, um sich bestimmte politische Rechte zu erobern, die ihnen als Grundlage ihrer Organisationen dienen mußten. Alle diese Rechte und Freiheiten mußten den herrschenden Klassen in endlosen Kämpfen direkt entrissen werden. Dies geschah stets mit innerem Widerstreben und immer erst dann, wenn die Unzufriedenheit der Massen größere Dimensionen angenommen hatte und sich in revolutionären Aktionen Luft machte, welche die Regierung zum Nachdenken zwangen. Ebensowenig wie das Unternehmertum den Arbeitern je die geringste Verbesserung aus eigenem Antrieb gewährte und immer erst durch die Aktion der Arbeiter dazu gezwungen werden mußte, ebensowenig hat je eine Regierung aus freien Stücken ihren Bürgern politische Rechte und Freiheiten verliehen. Diese Rechte mußten vielmehr in stetem Kampfe mit der Autorität des Staates errungen werden, und es gingen oft Jahrzehnte darüber hin, bis die Massen sich so stark fühlten, den Widerstand der Regierung zu brechen und ihren Forderungen Geltung zu verschaffen.
Es ist daher eine vollständige Verkennung der geschichtlichen Tatsachen, wenn man den Standpunkt vertritt, daß politische Rechte und Freiheiten, wie sie in sogenannten konstitutionellen Staaten mehr oder weniger üblich sind, für die Arbeiter schon deshalb keinen Wert hätten, weil die Regierungen sie sonst nie und nimmer sanktioniert und gesetzlich bestätigt hätten. Nicht weil den Regierungen diese Rechte sympathisch waren, hat man sie gegeben, sondern weil sie stets durch den Druck der äußeren Umstände dazu gezwungen wurden, weil das Volk sie vor vollendete Tatsachen stellte, die man nicht mehr ungeschehen machen konnte und die man notgedrungen sanktionieren mußte, um ihnen einen gesetzlichen Anstrich zu geben. Anderenfalls hätte sonst das Volk leicht auf die Idee kommen können, daß es diese Errungenschaften seiner eigenen Kraft und nicht der Gnade seiner Regierung zu verdanken habe.
Politische Rechte und Freiheiten werden nicht in den Parlamenten erworben, sie werden den Parlamenten vielmehr von außen her aufgezwungen. Sogar ihre gesetzliche Gewährleistung ist noch lange keine Garantie dafür, daß das, was unter gewissen Umständen gesetzlich niedergelegt wurde, nunmehr auch Bestand hat. Nein, und tausendmal nein! Ebenso wie das Unternehmertum jedes Zugeständnis, welches es den Arbeitern zu machen gezwungen war, bei der ersten Gelegenheit wieder rückgängig zu machen sucht, sobald ihm die Lage dazu günstig erscheint oder sobald sich in den Organisationen der Arbeiter Zeichen innerer Schwäche bemerkbar machen, ebenso sind Regierungen stets geneigt, gewisse politische Rechte und Freiheiten wieder aufzuheben, wenn sie glauben annehmen zu dürfen, daß ihnen draußen kein nennenswerter Widerstand entgegengesetzt wird.
Das ist auch die Ursache, weshalb sogar in solchen Ländern, wo gewisse Rechte, wie z. B. die Freiheit der Presse, das Versammlungsrecht, die Koalitionsfreiheit usw. sich bereits seit langen Jahrzehnten beim Volke eingebürgert haben, die Regierung trotzdem immer wieder Versuche macht, diese Rechte zu beschränken oder ihnen durch juristische Spitzfindigkeiten eine andere Auslegung zu geben. England und Amerika haben uns in dieser Hinsicht manche interessante Lehre gegeben. Rechte bestehen eben nicht deshalb, weil sie auf einem Stück Papier gesetzlich niedergelegt sind, nein, Rechte bestehen nur dann, wenn sie zu einem unentbehrlichen Bedürfnis des Volkes geworden, ihm sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen sind. Und man wird sie stets nur so lange achten, als im Volke dieses Bedürfnis lebendig ist. Wo dies nicht der Fall ist, hilft auch keine parlamentarische Opposition und keine Berufung auf die Verfassung.
Haben wir doch ein Schulbeispiel für die Richtigkeit unserer Behauptung in der berühmten, fast hätte ich geschrieben „berüchtigten“, Verfassung von Weimar. Die Weimarer Verfassung, die man mit Stolz als die freieste der Welt bezeichnet, garantiert ihren Bürgern, vom Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft aus gesehen, in der Tat ziemlich weitgehende Rechte und Freiheiten. Aber diese Rechte haben eben nur die kleine Unannehmlichkeit, daß man sie nie gebrauchen kann, wenn man sie am nötigsten hat, denn an jedem Regentag hebt man die Verfassung auf und verhängt über Land und Bürger den Belagerungszustand. Wobei wir es erleben mußten, daß sogar die „Schutztruppe der Republik“, die deutsche Sozialdemokratie, sich nicht entblödet hat, die sogenannte Regierungsgewalt in die Hand der Generäle zu legen, weil das Vaterland angeblich in Gefahr war. Und wann wäre das Vaterland nicht in Gefahr gewesen, sobald unsere Regierer ein Interesse daran haben?
So geht es den guten Deutschen mit der Weimarer Verfassung, wie es den Franzosen mit der berühmten demokratischen Gesetzgebung von 1793 ergangen ist, die bekanntlich niemals in Kraft getreten ist. Man zeigt sie dem Volke an hohen Festtagen, wie der katholische Priester den Gläubigen in der Kirche für einen Augenblick die Monstranz zeigt, um sie gleich darauf wieder fürsorglich im heiligen Schrein zu verschließen.
Politische Rechte und Freiheiten haben eben nur dann einen praktischen Wert, wenn sie einem Volke zur inneren Gewohnheit geworden sind und wenn jeder Versuch, dieselben zu beeinträchtigen, mit dem heftigsten Widerstand der Massen rechnen muß. Respekt erzwingt man sich, indem man seine Würde als Mensch zu wahren weiß. Das ist nicht bloß im Privatleben so, das ist auch im politischen Leben nie anders gewesen. Aus diesem Grunde haben die glutvollen Worte, welche Kropotkin vor nahezu einem halben Jahrhundert niederschrieb, auch heute noch ihre Richtigkeit. Ja, es ist wahr:
„Wollen wir die Freiheit haben, zu sagen und zu schreiben, was uns gefällt, wollen wir uns versammeln und organisieren, so dürfen wir nicht von einem Parlamente die Erlaubnis dazu erbitten, wir dürfen nicht um ein Gesetz beim Senat betteln. Laßt uns eine organisierte Macht sein, fähig, jedesmal die Zähne zu weisen, wenn, wer immer es wagt, unsere Redefreiheit und unser Versammlungsrecht zu beschränken. Seien wir stark, und wir können sicher sein, daß niemand es wagen wird, uns das Recht streitig zu machen, all das zu sagen, zu schreiben, zu drucken, was wir wollen, und uns zu versammeln, wann und wo es uns Vergnügen macht. Am Tage, wo es uns gelungen ist, unter den Ausgebeuteten eine so starke Einigkeit zu schaffen, daß Tausende von Menschen bereit sind, in den Kampf für ihre Rechte einzutreten, oder dieselben zu verteidigen, an diesem Tage wird es niemand wagen, uns diese Rechte - und noch viele andere, welche wir dann fordern können - streitig zu machen. Dann, aber nur dann werden wir diese Rechte wirklich errungen haben, um die wir bei den Parlamenten jahrzehntelang betteln würden. Dann werden uns diese Rechte ganz anders gewährleistet sein, als wenn man sie wiederum auf ein Stück Papier aufzeichnen würde. Freiheiten werden nicht geschenkt, man muß sie sich nehmen!"
Aber dies ist nur möglich, wenn wir jederzeit bereit sind, auch die kleinste Errungenschaft gegen jeden reaktionären Angriff zu verteidigen, und indem wir unermüdlich dafür wirken, in den Massen das Verständnis für die unbedingte Notwendigkeit bestimmter Rechte und Freiheiten wachzurufen. Denn nur dies allein ist imstande, sie für die Wahrnehmung und Verteidigung ihrer Rechte zu veranlassen. Dies aber geschieht nicht in den Parlamenten, dazu sind in erster Linie die wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiterschaft berufen, die ihr gleichzeitig als Bollwerk dienen müssen, hinter dem sie ihren Forderungen Geltung verschaffen kann.
Politische Rechte und Freiheiten deshalb für die Arbeiterklasse als nebensächlich und bedeutungslos zu bezeichnen, weil dieselben von einer Verfassung gesetzlich gewährleistet werden, wäre ebenso töricht, als wenn man eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen nur deshalb ablehnen wollte, weil dieselbe von den Unternehmern offiziell anerkannt und bestätigt wurde.
Nicht darauf kommt es an, daß Regierungen sich entschlossen haben, dem Volke gewisse Rechte zu gewährleisten, sondern darauf, weshalb sie sich entschließen mußten, dieselben zu gewährleisten! Hier liegt des Pudels Kern. Wer diesen Zusammenhang der Dinge nicht begreift, der wird auch nie imstande sein, ein klares Urteil über diese Frage zu fällen, dem mag es allerdings vorkommen, daß von der Kirchturmspitze des „reinen Prinzips“ betrachtet, diese Dinge für die Arbeiter keinen Wert haben.
Es ist eine durchaus natürliche Erscheinung, daß, wenn ein Mensch zwischen zwei Übeln zu entscheiden hat, er das geringere wählt. Diese Maxime hat auch Geltung für das politische und soziale Leben. Wenn wir zwischen Dingen zu entscheiden haben, welche der Erfüllung unserer innersten Wünsche noch so ferne stehen, so bevorzugen wir trotz alledem die Sache, die uns relativ am besten erscheint und uns die größten Vorteile gewährt. Im politischen und sozialen Leben nennt man das „Stellung nehmen“. Und weil wir nun einmal in der heutigen Gesellschaft leben, ohne an dieser Tatsache etwas ändern zu können, so sind auch wir gezwungen, Stellung zu nehmen zu den verschiedenen Fragen, welche das praktische Leben auf wirft. Tun wir das nicht, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn andere uns keinerlei Bedeutung beimessen und ohne unser Zutun die Rechnung machen. Eine solche Rolle aber wäre gerade für Revolutionäre die blamabelste von allen.
Wenn wir also die Wahl zu treffen haben zwischen acht Stunden Arbeitszeit und zehn Stunden Arbeit, zwischen einer besseren oder einer schlechteren Entlohnung für unsere Arbeitskraft, so entscheiden wir uns natürlich für die acht Stunden und den besten Lohn. Wohl wissen wir, daß damit an der Existenz der Lohnsklaverei nichts geändert wird, der wir auch weiterhin unterworfen sind. Aber wir haben unsere Entscheidung unter der Erwägung getroffen, daß zwei Stunden weniger Sklaverei und eine Entlohnung, die uns die Möglichkeit gibt, größere Bedürfnisse zu befriedigen, eine Errungenschaft sind, die kein vernünftiger Mensch unterschätzen wird. Außerdem sind wir der Meinung, daß wenn schon eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse uns den Sozialismus nicht bringen kann, eine Verschlechterung derselben oder stumpfe Gleichgültigkeit den gegebenen Verhältnissen gegenüber ihn uns sicher nicht bringen werden. Ein Mensch, der bereit ist, für seines Lebens Notdurft zu kämpfen, wird sich auch einsetzen, wenn es sich einmal um seine endgültige Befreiung handeln wird, ein Mensch aber, dem seine Lebenshaltung gleichgültig ist, ist weder für den Kampf des Alltags noch für das Ringen ums Ganze zu gebrauchen.
Und wenn wir vor die Wahl gestellt werden, zwischen der Möglichkeit eines diktatorischen oder faschistischen Regierungssystems und einem bürgerlichen Verfassungsstaate zu entscheiden, so ziehen wir den letzteren unbedingt vor. Und indem wir dies tun, geben wir uns nicht der geringsten Täuschung hin. Wir wissen ganz gut, daß unser Entscheid uns nicht vom Joche der staatlichen Bevormundung noch von der Tyrannei der bürgerlichen Gesetzgebung befreien wird. Aber wir wissen auch, daß es ein Unterschied ist, ob wir gezwungen sind, unter einem unverhülltem Gewaltregime zu leben, wo jedes freie Wort erdrosselt, alle in zahllosen Kämpfen errungenen Rechte vernichtet, jede Betätigung für die Interessen der Unterdrückten im Keime erstickt werden und unsere menschliche Würde fortgesetzt mit Füßen getreten wird, oder ob wir unter einem politischen System leben, wo ein Ausdruck der Meinung in Wort und Schrift, die Möglichkeit, uns zu organisieren und eine gewisse Betätigungsfreiheit dem Einzelnen gewahrt ist, die ihm einen mehr oder weniger breiten Spielraum für die Wahrnehmung und Verteidigung seiner gesellschaftlichen Interessen geben.
Es war diese Erwägung, welche einen Most veranlaßte, der Republik über die Säbeldiktatur des Kaiserreichs den Vorzug zu geben, die Bakunin seinerzeit den Sieg der französischen Republikaner über die monarchistische Reaktion begrüßen ließ und die erst vor kurzem unseren alten Freund Malatesta in einem ausgezeichneten Artikel, „Diktatur und Konstitution“ betitelt, dieselben Schlüsse ziehen ließ. Und das ist ganz natürlich, denn einen anderen Standpunkt in dieser Frage vertreten, hieße ja der Reaktion direkt in die Hände arbeiten. Die Arbeiter aber haben sicher kein Interesse daran, den Reaktionären ihr Spiel zu erleichtern, indem sie aus angeblichem Radikalismus errungene Rechte gleichgültig preisgeben. Hüten wir uns davor, solche Ideen unter den Massen zu verbreiten! Die Konsequenzen könnten furchtbar sein. Richten wir vielmehr unser ganzes Augenmerk darauf, daß unsere Tätigkeit den Schildträgern der Reaktion in keiner Weise Vorschub leistet. Auch für uns steht der schlimmste Feind rechts!
Wer dies auch nur einen Augenblick lang vergißt, der fördert, wenn auch ungewollt, die Bestrebungen der monarchistischen und militaristischen Reaktion, die stets auf der Lauer liegt, um auch den letzten Errungenschaften der Revolution den Garaus zu machen. Weit genug ist der Zug nach rechts ja bereits gegangen. Aber das Schlimmste, was der deutschen Arbeiterklasse passieren könnte, wäre ein vollständiger Sieg jener stockreaktionären Meute, welche ihr früher schon zum Fluche wurde, und deren gewissenlose und beutehungrige Politik nicht zum wenigsten dazu beigetragen hat, jene schauerliche Katastrophe zu entfesseln, welche eine ganze Welt in Tod und Verderben stürzte. Wenn die deutsche Arbeiterschaft sich auch dieses noch bieten ließe, ohne ihr Veto einzulegen, so hätte sie allerdings nichts Besseres verdient.
Die Begriffsverwirrung innerhalb der deutschen Arbeiterschaft hat schon zu manchen verhängnisvollen Dingen Anlaß gegeben. Haben wir es doch schon erleben müssen, daß ein eingefleischter Reaktionär wie Graf von Reventlow in dem Zentralorgan der Kommunistischen Partei eine Gastrolle geben durfte, daß dieselbe Partei mit monarchistischen Offizieren und völkischen Nationalisten liebäugelte und ein Bündnis mit ihnen in Erwägung zog. Allerdings hat man später behauptet, daß man die anderen nur benutzen wollte, um sie später zu düpieren. Das ist ein gefährliches, ein frevelhaftes Spiel, und wer sich als Revolutionär darauf einläßt, der wird stets selbst der Düpierte sein. Denn es ist nur die Reaktion, die bei einem solchen Handel gewinnen kann, während es in den Reihen der Arbeiter nur bodenlose Verwirrung und heilloses Mißtrauen auslösen muß, das zuletzt jede Bewegung vergiftet.
Hüten wir uns davor, das Chaos noch größer zu machen durch hohle Schlagworte und mißverstandene Begriffe! Wenn man freilich sich die zynischen Worte Lenins zu eigen macht und die Freiheit lediglich als „bürgerliches Vorurteil“ auffaßt, dann allerdings haben politische Rechte und Freiheiten für die Arbeiter keinerlei Bedeutung. Dann aber haben auch all die zahllosen Kämpfe der Vergangenheit, alle Aufstände und Revolutionen, denen wir diese Rechte verdanken, keinen Wert gehabt, und wir können uns ruhig den Luxus gestatten, alle Errungenschaften vergangener Massenaktionen kampflos preiszugeben, weil sie ihren Zweck ja doch verfehlt haben. Um diese Weisheit zu verkünden, wäre es allerdings auch nicht nötig gewesen, den Zarismus zu stürzen, denn auch die Zensur Nikolai des Letzten hätte sicher nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn man die Freiheit ein bürgerliches Vorurteil genannt hätte. Das haben übrigens, wenn auch mit anderen Worten, die großen Theoretiker der Reaktion, de Maistre und Bonald, auch getan, und die Träger des alten Absolutismus waren ihnen sehr dankbar dafür.
Wir aber wollen uns von solchen billigen Spitzfindigkeiten den gesunden Sinn nicht trüben lassen. Wissen wir doch nur zu gut, daß sich hinter allen diesen Vorbehalten das Prinzip der Reaktion verbirgt. Und gerade deshalb stehen wir im Kampfe ums tägliche Brot, gerade deshalb begrüßen wir jede neue Errungenschaft der revolutionären Arbeiterbewegung auf allen Gebieten des wirtschaftlichen, politischen und sozialen Lebens, gerade deshalb sind wir stets bereit, gewonnene Positionen gegen die Angriffe unserer Gegner zu verteidigen. Denn noch einmal sei es gesagt: Nur im Kampfe wird uns das Recht! Aus dem täglichen Ringen um die Notdurft des Lebens erwächst uns das Flammenzeichen einer neuen Zeit, das unserer Sehnsucht Flügel gibt. Und dieses Zeichen wird uns Wegweiser sein, bis daß die Zeit sich erfüllen wird, wo jede Form der Ausbeutung, jedes System der Herrschaft in Trümmer fallen wird, um Platz zu machen einer Welt der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.
Originaltext: Rudolf Rocker - Der Kampf ums tägliche Brot, Verlag Freie Gesellschaft, 2. Ausgabe Frankfurt 1975. Die Erstausgabe der Broschüre erschien in den 20er-Jahren im Verlag „Der Syndikalist“, Berlin, ohne Jahresangabe.
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