Fritz Linow - Der freiheitliche Sozialismus und seine Aufgaben (Auszug, 1949)

In der Nachkriegszeit adaptierten viele der anarchosyndikalistischen DenkerInnen der 1920er und 30er-Jahre ihre Positionen - so auch Fritz Linow. Er weist in dem folgenden Beitrag auf die Problematik hin, die aus der  syndikalistischen Vorstellung der Konzentration der Produktionsmittel in der Hand der Gewerkschaft entsteht.

Vor zwei Jahrzehnten haben wir die alte syndikalistische Auffassung vertreten, daß die Wirtschaft, d.h. sowohl die Produktionsmittel als auch die Organisation von Erzeugung und Verbrauch, in die Hände der Gewerkschaften gelegt werden muß. Wir kamen zu dieser Auffassung, weil wir der Überzeugung waren, daß die gesamte gesellschaftliche, insbesondere aber die ökonomische Neuordnung ein Akt revolutionärer Aktion ist, die ihren Höhepunkt in der Revolution selbst findet. Wir hofften also auf einen Tag X und meinten, daß an diesem Tag die Gewerkschaften zu Besitzern und Organisatoren der Wirtschaft würden.

Damals hatte diese Auffassung noch eine gewisse Berechtigung, weil es an einer ganzen Reihe von Erfahrungen mangelte, die wir in der Zwischenzeit haben sammeln können. Inzwischen hat sich herausgestellt, daß die Arbeiterklasse heute eine starke ideologische Aufspaltung erfahren hat. (...) Daraus ergibt sich, daß dem Kampf um den Sozialismus heute die größten Widerstände aus den Reihen der Arbeiter selbst erwachsen, weil nicht unbeträchtliche Teile der Arbeiterklasse bedenkenlos bereit sind, die Methoden des Totalitarismus gegen jeden wirklichen oder vermeintlichen Gegner ihrer Absichten zu üben.

Eine weitere Ursache für diese Einstellung finden wir in der Vorstellung, daß dem Zuge der Entwicklung - den sog. ökonomischen Zwangsläufigkeiten - Rechnung zu tragen sei in Form einer
Vermehrung und Verbreiterung des staatlichen Einflußgebietes. Jede Erweiterung des staatlichen Geltungsbereiches aber ist ein Schritt zum Totalitarismus und vergrößert die Herrschaftschancen solcher Gruppen, die entsprechend bedenkenlos sind.

Aber hier muß auch die Kritik an unseren eigenen Auffassungen ansetzen. Die alte syndikalistische Vorstellung hat uns im Laufe der geschilderten Entwicklung in unmittelbare Nachbarschaft zum Totalitätsprinzip gebracht. Der Syndikalismus ging von der Voraussetzung aus, daß dem Besitzmonopol ein Monopol der organisierten Arbeit entgegenzustellen sei in der richtigen Erkenntnis, daß nur in der Zusammenfassung der ökonomisch schwächsten Kräfte ihre Möglichkeit liegt, sich gegen das Besitzmonopol zu behaupten. Die Auffassung ist heute noch richtig und in jedem Punkt vertretbar.

Der Syndikalismus ist nun aber nicht nur eine Wirtschaftsbewegung, die die Lage des Arbeiters im Augenblick erträglich gestalten will, sondern seine Aufgaben wiesen durch Jahrzehnte hindurch in die Zukunft. Er wollte die Organisierung der sozialistischen Wirtschaft dadurch erreichen, daß er den Gewerkschaften die Produktionsmittel überantwortete mit der Aufgabe, sie nach neuen Gesichtspunkten zu ordnen. Und hier liegen die Gefahren, die von der Entwicklung der letzten Jahrzehnte aufgezeichnet worden sind.

Der Syndikalismus als Monopol der Arbeitskraft trägt in dem Augenblick den Keim des Totalitarismus in sich, wo er dieses Monopol, das aus dem ökonomischen Zustand des Kapitalismus erwächst und sich in der syndizierten Arbeitskraft - also in der Leistung des Lohnarbeiters - manifestiert, über die Zeit des Kapitalismus hinaus wirken lassen will. Die Überführung der Produktionsmittel in die Hand der Gewerkschaften würde bedeuten, daß ein Besitzmonopol durch ein anderes ersetzt wird. Die freiheitlichen Elemente in der Theorie des Syndikalismus mögen noch so stark ausgeprägt sein, sie könnten den Zug zum totalitären nicht verhindern, weil die Gewerkschaft ein Organ ist, das über die Produktionsmittel gebietet. Es sind nicht die Produzenten, denen Organisation der Wirtschaft und Besitz der Wirtschaftsmittel überantwortet werden. Die Gewerkschaft als Monopol der Arbeitskraft darf nicht zu einem Monopol des Besitzers an den Produktionsmitteln aufsteigen. Sie würde es aber, wenn im Sinne unserer alten Vorstellungen am Tage X die Betriebe und Werkzeuge, die Rohstoffe und der Grund und Boden, kurz, alle sozialen Existenzmittel, in ihre Regie kämen. Abgesehen davon, daß die Konzentration der Wirtschaftsmittel auf die Gewerkschaften den totalitären Kaderparteien aufgrund ihrer strafferen Organisation, ihrer sittlichen Bedenkenlosigkeit und ihrer politischen Amoralität, die gewerkschaftlichen Verwaltungsorgane sehr bald in die Hände spielen würde, ist noch in Rücksicht zu stellen, daß diese Art der Organisierung der Wirtschaft den Sozialismus verhindert.

Sozialismus ist monopolfreie Wirtschaft, und freiheitlicher Sozialismus ist nichts Geringeres als die Verallgemeinerung des Reichtums. Diese aber schließt jede Art von Monopolbesitz an den Wirtschaftsmitteln aus. Sie ist vielmehr die Methode, die es jedem Gesellschaftsmitglied möglich machen will, an dem Reichtum der Gesellschaft teilzuhaben unter aller Wahrung seiner persönlichen Freiheit und Unabhängigkeit. Das Monopol an den Wirtschaftsmitteln aber schließt diese wichtigen Bestandteile des freiheitlichen Sozialismus aus; dabei bleibt es völlig gleichgültig, von wem ein solches Monopol geübt wird. Der freiheitliche Sozialismus ist kein Kollektivismus. Der Mensch, nicht die Sache, steht im Mittelpunkt der zu treffenden ökonomischen Maßnahmen. (…)

Das Monopol der Arbeit muß also seine Grenzen in der gewerkschaftlichen Zielsetzung für die Neuordnung der wirtschaftlichen Beziehungen finden. (…)

Der freiheitliche Sozialismus erstrebt eine völlige Aufhebung aller Monopole und muß dies in seinen Zielsetzungen zum Ausdruck bringen. Aus diesem Grunde ist die alte syndikalistische Auffassung heute nicht mehr vertretbar.

Der freiheitliche Sozialismus will die Monopole brechen und erblickt deshalb in der Produktionsgenossenschaft die zweckmäßige Form einer neuen Wirtschaftsordnung. Die Genossenschaft macht den Betriebsarbeitern durch Übergabe seines Genossenschaftsanteils zum Besitzer der Produktionsmittel, zum Träger der Wirtschaftsorganisation seines Betriebes und - zum Gestalter der Gesamtwirtschaft. Die betriebsgenossenschaftliche Organisation gibt dem Arbeiter die ökonomischen Mittel, die zur Wahrung seiner Selbständigkeit unerläßlich sind. Sie gibt ihm dadurch die Möglichkeit in die Hand, seine Freizügigkeit, seine persönliche Freiheit und seine persönliche Unabhängigkeit zu behaupten.

Freiheitlicher Sozialismus ist ohne diese Voraussetzungen undenkbar. Der Arbeiter muß immer die Möglichkeit haben, sich ungeliebter Tätigkeit zu entziehen, er muß sich ferner gegen Majorisierung wirksam wehren können und alles dies ohne Nachteil. Dazu aber muß er über die Mittel verfügen, seine volle Freiheit zu wahren. Wenn er mit seiner Genossenschaft nicht mehr übereinstimmt, wenn er ihre Methoden und Maßnahmen ablehnt, dann muß er nicht nur das Recht, sondern auch die Mittel haben, seinem persönlichen Wollen Nachdruck zu verleihen und gegebenenfalls andere ihm mehr zusagende Verbindungen einzugehen. Er muß also seinen Produktionsmittelbesitz, welcher sich in seinem Genossenschaftsanteil darstellt, als Waffe zur Wahrung seiner Rechte benutzen können.

Die Verallgemeinerung des Reichtums kann nur in der Weise wirksam werden, daß der Produzent zu einem objektiven Wirtschaftsfaktor wird, dem ökonomische Mittel in Form seines Genossenschaftsanteiles zur Verfügung stehen. (…)

Der freiheitliche Sozialismus will nicht nur das Besitzmonopol brechen, er will auch das Monopol der Herrschaft beseitigen. Beide Monopole aber wurzeln im Prinzip der Zentralisation, d.h. der Übertragung wichtiger Sozialfunktionen auf Stellen, die die Organisationsspitze bilden. Soll das Monopol des Besitzes mit Aussicht auf Erfolg gebrochen werden, dann sicher nur in der Weise, daß alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen Zugang zu den Produktionsmitteln durch ihre genossenschaftlichen Verbände finden, und soll das Herrschaftsmonopol ein Ende haben, dann nur, indem wir den Gemeinden und Kommunen als die kleinsten Verwaltungseinheiten des öffentlichen Lebens die Bedeutung zuerkennen, die sowohl für den Kampf um den Sozialismus als auch für die Verwaltung einer wirklichen freien Gesellschaft haben.

In der Gemeinde liegen die Vorbedingungen für eine neue Form des Kampfes um den Sozialismus. In ihr kann die Gemeindevertretung für freiheitlichen Sozialismus eintreten. Hier kann sie die ersten Voraussetzungen für eine neue Form der Wirtschafts- und Sozialstruktur schaffen. Ich bin der Überzeugung, daß die Gemeindevertretungen, aus tüchtigen Betriebsarbeitern und charaktervollen Gewerkschaftlern gebildet, dem Kampf um den Sozialismus ganz neue und vor allem freiheitliche Impulse vermitteln können.

Die Gemeinden haben ungeahnte Möglichkeiten, dem freiheitlichen Sozialismus praktische Wirksamkeit zu verschaffen. Die Gemeinde kann für den Bereich ihrer eigenen wirtschaftlichen Zuständigkeit den Privatunternehmer im weitem Umfange ausschalten. (...) aus den Betrieben und Gewerkschaften sollen die Gemeindevertreter kommen und unmittelbar weiter der Kontrolle durch ihre Arbeitskollegen und Gewerkschaftsgenossen unterstehen. (…)

Lösen wir uns von der Vorstellung, daß der Sozialismus das Resultat der Revolution ist. Diese Vorstellung war zur Zeit Bakunins und Kropotkins und zu der Zeit, als die FAUD und die IAA sich ihre Prinzipienerklärung schuf, noch vertretbar, weil damals der Glaube gerechtfertigt schien, daß die sozialistische Revolution nahe bevorsteht. Damals war aber auch der Totalitarismus so gut wie unbekannt, eine Weltgefahr war er schon gar nicht. (…)

Die Geschichte der letzten Jahre drängt uns die Erkenntnis auf, daß der Sozialismus nicht das Resultat einer Revolution ist, sondern umgekehrt, die Revolution ist das Ergebnis der ungezählten Strukturveränderungen der alten Gesellschaft, die der Sozialismus in ihrem Schöße herbeiführt.

Sind die sozialistischen Formen der Wirtschaft und Verwaltung im Schoße der alten Sozialordnung stark und lebendig geworden, dann wird die sozialistische Revolution die alten Hindernisse für die Allgemeingültigkeit des Prinzips der Freiheit und der Verallgemeinerung des Reichtums beseitigen. (...) der Sozialismus wird allen Widerständen zum Trotz sich innerhalb der alten Gesellschaftsordnung mit unzähligen neuen Formen entwickeln und eines Tages die letzte Hülle sprengen.

Aus: Referat des Genossen Linow auf der dritten Landeskonferenz der Föderation Freiheitlicher Sozialisten (FFS) vom 14.-17. August 1949, vervielfältigtes Manuskript

Originaltext: Degen, Hans-Jürgen: „Tu was du willst“. Anarchismus – Grundlagentexte zur Theorie und Praxis. Verlag Schwarzer Nachtschatten 1987. Digitalisiert von www.anarchismus.at

 


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