Rudolf Rocker - Betrachtungen über die Wahlen in Deutschland

Die große Wahlschlacht ist geschlagen. Von den dreiundzwanzig Parteien und Parteichen, die sich,in heißem Wettbewerb um die Gunst der Wähler bemüht haben, blieb fast die Hälfte auf der Strecke. Da sie nicht imstande waren, die gesetzlich vorgeschriebene Zahl von Stimmen in einem Wahlkreis zu erhalten, bleibt es ihren Trägern vorläufig versagt, das große Ziel ihrer Sehnsucht von innen beschauen zu können.

Es ist ein charakteristisches Zeichen, daß dieselben Erscheinungen — Inflation, ungerechte Besteuerung, Arbeitslosigkeit, Niedergang der sozialen Lebensbedingungen —, die eben in Frankreich den Sozialisten und anderen Gegnern Poincares einen glänzenden Wahlsieg beschert und den sogenannten Nationalen Block zertrümmert haben, in Deutschland den bürgerlichen Parteien der Mitte und vor allem der Sozialdemokratie große Verluste eintrugen und breite Wählermassen nach rechts abschwenken ließen. Nur waren die Rollen vertauscht. Während in Frankreich der Nationale Block alle Sünden der Regierung während der letzten fünf Jahre auf sich geladen und die Sozialisten sich in der günstigen Lage einer Oppositionspartei gefallen durften, hatten sich in Deutschland die Parteien der bürgerlichen Mitte und die Sozialdemokratie während ihrer Regierungszeit bis auf die Knochen kompromittiert und sich das Wohlwollen der Wähler wenigstens für diesmal gründlich verscherzt.

In dieser Erscheinung liegt eigentlich für das Volk die Tragik des ganzen parlamentarischen Systems. Der moderne Bürger fühlt sich lediglich als Bestandteil des Staatsapparats, dessen Bewegungsgesetze er durch die Abgabe seiner Stimme regulieren zu können sich einbildet. Er erwartet sein Heil stets von irgendeiner Regierung und nie von seiner eigenen Kraft und Initiative. Immer wieder sucht er die Fehler, die gemacht wurden, in den leitenden Männern und Parteien, die sich jeweilig an der Regierung befinden, und es kommt ihm nie der Gedanke, daß dieselben im System selbst begründet sind. Anstatt sich von unten auf durch seine wirtschaftlichen und sozialen Verbindungen Organe seines Willens und seiner Initiative zu schaffen, die ihn in den Stand setzen könnten, zu allen Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens selbst Stellung zu nehmen und durch seine eigenen schöpferischen Kräfte entsprechende Lösungen anzubahnen und herbeizuführen, setzt er sein ganzes Vertrauen auf die höhere Macht, die über ihm thront und erwartet alles Heil von den Gesetzen und der Regierung. Und wenn die Regierung versagt, so zieht er nicht etwa die Konsequenzen und schreitet zur Selbsthilfe, sondern er setzt seine Karte einfach auf ein anderes Pferd im politischen Rennstall und glaubt auf diese Weise der Erfüllung seiner Wünsche näher zu kommen.

So taumelt er von einer Enttäuschung zur anderen und bewegt sich stets in demselben verhexten Kreise, der ihm als die gerade Linie des Fortschritts erscheint. Er pendelt von links nach rechts und von rechts nach links immer in dem Glauben, daß die richtige Nummer doch einmal aus der Urne herauskommen müsse. Wie der Gläubige vergangener Jahrhunderte alles Heil von der Kirche und von der Vermittlung der Priester erwartete, so erwartet der moderne Staatsgläubige heute alles Heil von den gesetzgebenden Körperschaften und ihren Vertretern. Die Form des Glaubens hat gewechselt, der Glaube selbst ist derselbe geblieben.

Und doch hätte gerade der deutsche Wähler aus der Geschichte der letzten fünf Jahre die große Lehre ziehen können, daß die Geschicke Deutschlands nicht im Reichstag, sondern in den Geschäftsstellen der Schwerindustriellen, der Großgrundbesitzer und der Börsenkönige letzten Endes entschieden werden. Das trifft ohne Zweifel auch für alle anderen Länder, die dem kapitalistischen Regime unterworfen sind, zu, aber es offenbarte sich nirgends anders und nie vorher in einer so offenkundigen Brutalität und unverhüllten Frechheit wie in der glorreichen Ära der deutschen Republik. Die Geschichte der letzten fünf Jahre wurde fast ausschließlich ausgefüllt mit dem erfolgreichen Kampfe der Monopolisten gegen die verschiedenen Regierungen, die einander folgten. Alle innen- und außenpolitischen Beziehungen standen mehr oder weniger unter dem Wirtschaftsdiktat der deutschen Schwerindustrie und ihrer Verbündeten. Stinnes war in dieser Hinsicht ein Symbol. Er, der aus den Schrecken des Weltkrieges und aus dem grenzenlosen Elend des Volkes in der nachfolgenden Periode unermeßliche Reichtümer prägte, deren fabelhafte Größe allen Glanz der Multimilliardäre Amerikas in den Schatten stellt und deren Totalität vielleicht erst den kommenden Generationen gänzlich offenbar wird; er, der seine Polypenarme über ganz Deutschland, die ganze Welt ausstreckte, deren Saugnäpfe ebenso im Lande der "Diktatur des Proletariats" wie in den fernen Breiten Perus und Chiles unablässig an der Arbeit sind; er, Stinnes, führte nach dem Kriege einen fortgesetzten schonungslosen Kampf gegen alle deutschen Regierungen und stellte ihrer Politik das Machtgebot der großen Wirtschaftskonzerne gegenüber, das sich bisher stets als mächtiger erwies als die papiernen Beschlüsse des Reichstags. Es waren Stinnes und sein Kreis, die mit kaltblütiger Berechnung jeden Versuch, die Mark zu stabilisieren, untergruben und die grauenhafte Periode der Inflation eingeleitet haben, die Millionen deutscher Männer, Frauen und Kinder an den Rand des Verderbens und der Verzweiflung brachte. Und gerade während dieser furchtbaren Zeit gelang es Stinnes, seinen Konzern erst recht auszubauen und aus der Not seines Volkes Riemen zu schneiden.

Stinnes und sein Anhang waren es, welche die Besetzung des Ruhrgebiets durch die Franzosen direkt provoziert hatten, und denen das Abenteuer, das Deutschland astronomische Summen kostete und durch welches das Volk erst recht in den Abgrund des bitteren Elends hineingestoßen wurde, wiederum zum Heile ausschlug. Kein Versailler Friedensvertrag hat Deutschland solche furchtbaren Wunden geschlagen als die gewissenlose Profitpolitik seiner Schwerindustriellen und Großagrarier, die es nicht bloß verstanden haben, dem Staate die Steuern erfolgreich zu entziehen, sondern die außerdem noch bei der Reichsbank fabelhafte Anleihen machten, als die Mark noch zehn Pfennige wert war, und die ihre Schuld prompt zurückzahlten, als, dank ihrer krummen Transaktionen, der Wert der Mark auf einen zehntel Pfennig gesunken war.

In keinem anderen Lande der Welt wären solche Dinge möglich gewesen, weil in keinem anderen Lande der soziale Sinn und das natürliche Zusammengehörigkeitsgefühl eines Volkes so total verlottert ist wie gerade bei uns. Es ist wahr, daß der Kapitalist schließlich überall von der Ausbeutung der Arbeit lebt, aber es besteht trotzdem ein Unterschied zwischen den Trägern des Systems, der sich nicht verkennen läßt, und der letzten Endes ebenso gewertet werden muß wie der Unterschied zwischen den verschiedenen Formen des Staates, auch dann, wenn man der Ansicht ist, daß der Staat als solcher nie etwas anders gewesen ist, noch sein wird, als der politische Sachverwalter der besitzenden Klassen.

In England haben die Träger des kapitalistischen Systems während des Krieges tief in die eigene Tasche gefaßt, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil bei dem englischen Volke der Instinkt innerer Zusammengehörigkeit und das Gefühl sozialer Gerechtigkeit in solchen Dingen viel tiefer ausgeprägt ist wie bei uns, so daß fortgesetzte und zynische Beleidigungen des primitivsten Rechtsempfindens im Volke, wie sie in Deutschland zu den Alltäglichkeiten gehören, dort einen Sturm der Entrüstung entfesseln würden, dem keine Regierung widerstehen könnte. Einen Mann wie der gewesene Premierminister der konservativen Regierung Englands, Baldwin, der während des Krieges dem Staate freiwillig den vierten Teil seines Vermögens abtrat, würde man in Deutschland vergebens suchen. Andererseits wäre ein Helfferich, der sich während des Krieges prinzipiell weigerte, das Kapital mit entsprechenden Steuern zu belasten und den Standpunkt vertrat, daß der Besiegte eben zahlen müsse, in jedem anderen Lande undenkbar. Nur in Deutschland konnte ein Mann wie Helfferich sein Wesen treiben, weil bei uns der unsachlich kleinliche und geradezu verbrecherische Egoismus des kapitalistischen Bürgertums einen Grad erreicht hat, den man sich in anderen Ländern schlechterdings nicht vorstellen kann.

Jede Regierung ist letzten Endes nichts anderes als der politische Machtapparat der besitzenden Klassen eines Landes, aber nie vorher hat man einem Volke die vollständige Abhängigkeit alles Regierungsswesens von der gewissenlosesten Profitpolitik einer Oligarchie von Riesen-Raffkes in so zynischer und offenkundiger Weise vordemonstriert, wie es bei uns während der letzten fünf Jahre geschehen ist. Allein die breite Masse der Wähler und besonders der Wähler aus den arbeitenden Schichten des Landes blieb allen Lehren gegenüber blind und taub und hat nur das eine bewiesen, daß sie trotz der furchtbaren Erfahrungen der letzten zehn Jahre nichts gelernt und nichts vergessen hat. Man nimmt es ruhig hin, wenn der Stinnesmann Dr. Quaatz den Abbau der Erwerbslosenunterstützung beantragt und dabei mit einer Gefühlsroheit sondergleichen erklärt, daß bei einem weiteren Niedergang der Wirtschaft eben nicht verhindert werden könne, daß Millionen Menschen Hungers sterben. Man regt sich nicht sonderlich auf, wenn das Sprechorgan der Großagrarier, Graf Westarp, mit vollendetem Zynismus im Reichstag erklärt, daß man sich bei dem heutigen Stand der Dinge nicht wundern dürfe, wenn das Volk bei vollen Scheunen verhungere. Und das geschah in einer Zeit, wo sowohl der Grundbesitz wie auch die Schwerindustrie Gewinne einsackten, von denen man vor dem Kriege sogar nicht zu träumen wagte, während das deutsche Arbeitervolk tatsächlich bei vollen Scheunen verhungerte und in den Großstädten nahezu 70% aller Kinder vom Keime der Schwindsucht ergriffen waren.

Das wichtigste Merkmal der letzten Wahlen ist der unverkennbare Zug nach rechts. Die Sozialdemokratie, die mit ihren 5.991.547 Stimmen sich numerisch zwar immer noch als die stärkste Partei behauptet hat, verlor von ihren 170 Mandaten, die sie im letzten Reichstag inne hatte, ganze 70. Ihre schweren Verluste sind hauptsächlich der Kommunistischen Partei zugute gekommen, doch läßt es sich nicht verkennen, daß ein beträchtlicher Teil ihrer Wähler diesmal nach rechts abgewandert ist. Es gibt wohl kaum ein Beispiel in der Geschichte moderner Politik, daß eine Partei sich so hoffnungslos kompromittiert hat, wie die deutsche Sozialdemokratie. Sie hat die verhängnisvolle Rolle, die sie während der ganzen Kriegsjahre gespielt hatte, auch nach dem Kriege getreulich fortgesetzt. Es war ihre große unverzeihliche Schuld, daß sie bald nach dem Ausbruch der sogenannten Novemberrevolution sich fortgesetzt allen wirtschaftlichen Neuerungen mit allen Kräften entgegenstemmte und so eine weitere Entwicklung der Revolution im Keime erstickte. Ihre Schuld war es, daß unter der blutigen Diktatur von Noske die Grundlage für die faschistischen Verbände, die heute ganz Deutschland wie mit einem Netz überziehen, gelegt wurde. Noske bewaffnete die modernen Wallensteiner und die sozialdemokratische Presse — voran der "Vorwärts" — wetteiferte mit den bürgerlichen Blättern durch seitens große Inserate für die Werbung der militärischen Freiwilligenformationen. So wurde die Sozialdemokratie dem deutschen Bürgertum zu einem Schutzwall in der gefährlichsten Und kritischsten Periode seines Daseins. Und diese Rolle hat sie die ganze Zeit weitergespielt. In jedem kritischen Moment eilte sie dem bedrohten Bürgertum zu Hilfe und schützte es durch die Macht ihres Einflusses. Unter ihrem Einfluß haben die Gewerkschaften, sogar als ihnen die beste Gelegenheit dazu geboten war, keinen Versuch gemacht, die furchtbare materielle Lage der deutschen Arbeiterschaft einigermaßen erträglich zu gestalten. Man redete den Arbeitern einfach vor, daß an eine Verbesserung der sozialen Lebensbedingungen nicht gedacht werden könne, solange Deutschland die große Krise nicht überwunden habe. Und dies geschah in einer Zeit, als die Unternehmer märchenhafte Profite einheimsten, die Besteuerung systematisch boykottierten, während man den Arbeitern das letzte von ihren Hungerlöhnen herunternahm.

Nur der Sozialdemokratie ist es zu verdanken, daß das Ruhrabenteuer, das Stinnes und der Kreis der Schwerindustriellen dem deutschen Volke eingebrockt haben, überhaupt stattfinden konnte, denn ihre Führer ließen sich auch diesmal wieder von der künstlich emporgearbeiteten nationalen Welle mitreißen, wie sie es bei Ausbruch des Krieges getan hatten. Sie scheute sich nicht, zusammen mit der Deutschen Volkspartei in eine Koalitionsregierung einzutreten, stimmte für die sogenannten Ermächtigungsgesetze und gab ihre Zustimumng, daß man zur Zeit des Hitlerputsches Deutschland der Herrschaft der Generäle auslieferte, trotz aller furchtbaren Erfahrungen der Vergangenheit. Als sie endlich das Bürgertum abermals aus einer der heikelsten Situationen gerettet hatte, schiffte sie der mit allen Wassern gewaschene Stresemann wieder aus der Regierungskarre aus. Der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan, der Mohr konnte gehen, bis man ihn wieder brauchen würde. Die Sozialdemokratie wiederholte sogar dieses perverse Spiel eines politischen Masochismus zweimal hinter einander und opferte damit den letzten Rest von politischem Selbstrespekt. Dafür quittierten ihr später Stresemann und seine Anhänger mit unverkennbarem Hohn für die geleisteten Dienste. In einem Flugblatt, das die Deutsche Volkspartei bei den letzten Wahlen zur Verbreitung brachte, machte man sich direkt über die angebliche Düpierung der Sozialdemokratie lustig, und als Müller, den sein Freund Schultze für die Volkspartei zu ködern sucht, einige Einwendungen macht, antwortet ihm dieser schlagfertig: "Wat denn mit die Sozi? Erst hat Stresemann mit die Sozi anjefangen den schematischen Achtstundentag abzubauen, und mit die Sozi den Kronprinzen nach Deutschland rinjelassen, und mit die Sozi die Reichswehr nach Sachsen jeschickt, um dort Ordnung zu schaffen, und als die Sozi dann Angst kriegten vor ihrer eigenen Courage, hat IT se loofen lassen und seine Politik ohne sie weiter gemacht — wat villste noch?"

Und doch wäre es grundfalsch, in allen diesen Handlungen lediglich den Verrat der sozialdemokratischen Führer an der deutschen Arbeiterklasse erblicken zu wollen. Nein, die Sache liegt tiefer. Hier landelt es sich um die Auswirkung einer geistigen Einstellung, deren Keime bereits bei der Entstehung der sozialdemokratischen Bewegung gegeben waren. Deutschland hat das zweifelhafte Verdienst, das egoistischste, feigste, geistig trägste und am wenigsten soziale Bürgertum hervorgebrcaht zu haben. Aus diesem Grunde konnte sich hier niemals ein Liberalismus wie in England oder eine bürgerliche Demokratie wie in Frankreich entwickeln. So wurde die Sozialdemokratie allmählich zum Sammelbecken aller politisch unzufriedenen Elemente vor dem Krieg, die vielfach für sozialistische Probleme nicht das geringste Verständnis hatten und lediglich dazu beitrugen, die Sozialdemokratische Partei bürgerlich zu verspießern. Auf diese Weise entwickelte sich die Sozialdemokratie und die unter ihrem geistigen Einfluß stehende Gewerkschaftsbewegung Deutschlands immer mehr als ein notwendiger Bestandteil des nationalen Staates. Der Sozialismus verlor für ihre geistigen Führer immer mehr den Charakter eines neuen Kulturideales, das die kapitalistische Zivilisation ablösen sollte, und das infolgedessen an den Grenzen der einzelnen nationalen Staaten nicht halt machte. Aus diesem Grunde vermengten sich ihnen die Interessen des nationalen Staates immer mehr mit den Interessen der Partei, deren Führer sich allmählich daran gewöhnten, alle Fragen durch die Brille der sogenannten nationalen Interessen zu betrachten. So konnte es nicht ausbleiben, daß die Partei sich allmählich als notwendiger Bestandteil in das nationale Staatsgefüge eingliederte, wie jede andere Institution, die zur Erhaltung desselben beiträgt.

Aus diesem Grunde wäre es auch töricht, aus der jetzigen Niederläge der Sozialdemokratie ihren nahe bevorstehenden Untergang voraussagen zu wollen, wie es die Kommunisten tun. Unserer Ansicht nach wird die Sozialdemokratie innerhalb des heutigen Systems überhaupt nicht verschwinden, da sie, wie gesagt, ein Bestandteil desselben ist — eine Art Blitzableiter für die besitzenden Klassen, es sei denn, daß ihre Aufgabe von einer anderen Partei — möglicherweise von den Kommunisten — als Erbschaft übernommen würde.

Die Kommunistische Partei, der es mit ihren 3.728.089 Stimmen gelang, sich zur viertstärksten Partei Deutschlands emporzuschwingen, verdankt ihren Erfolg lediglich den schweren politischen Fehlern der Sozialdemokratie. Ihre Anhängerschaft rekrutiert sich hauptsächlich aus Arbeitern, die an der Sozialdemokratie verzweifelt sind und die, getrieben durch die furchtbare Not und Verzweiflung der letzten Jahre für revolutionäre Schlagworte und eine radikale Phraseologie sehr empfänglich sind.

Dabei darf man allerdings nicht übersehen, daß außer den extremen Rechtsparteien, die über große Geldmittel verfügten, keine andere Partei einen ähnlichen Aufwand an finanziellen Mitteln für die Wahlen entfalten konnte, als gerade die Kommunisten, die natürlich von Rußland in der ausgiebigsten Weise versorgt wurden. Und doch wäre es verkehrt, in dem sogenannten Wahlsieg der KPD mehr wie einen vorübergehenden Erfolg erblicken zu wollen.

Eine Partei, die fortgesetzt den schwersten inneren Krisen ausgesetzt ist und die nur durch eine sogenannte "Parteidisziplin" notdürftig zusammengehalten wird, welche den Kadavergehorsam des alten preußischen Militarismus weit in den Schatten stellt, eine Partei, die man lediglich als Organ der auswärtigen Regierungspolitik der russischen Sowjetrepublik auffassen muß, kann auf die Dauer keine größeren Massen an ihre Fahne fesseln. Schon die Erklärung, welche die Kandidaten der Partei unterschreiben mußten, ist eine direkte Abdankung der Vernunft. Unter anderem heißt es dort: „Ausgehend von diesen Grundsätzen erklärt der Unterzeichnete, daß er als Kandidat und Abgeordneter für das Parlament lediglich Beauftragter der Kommunistischen Partei Deutschlands ist und nicht ein sognannter ,Freier Erwählter des Volkes, der nur seinem Gewissen verantwortlich sei'. Der Unterzeichnete erklärt sich bereit, daß er alle Beschlüsse der Parteizentrale der KPD ausführt und sich in allen Handlungen und seiner Betätigung diesen Beschlüssen unterordnet."

Weiter kann das Prinzip eines übergeschnappten Zentralismus wohl nicht getrieben werden. Es ist das Papsttum der Kirche in verschärftem Maße auf die Politik einer Partei übertragen. Diesen ganzen Aufwand hält man für nötig, um die innere Einheit der Partei zu sichern, die trotzdem in keiner anderen Partei so brüchig ist wie gerade bei den Kommunisten. Auch die fortgesetzten "Säuberungsaktionen" der Zentrale haben bisher das Übel bloß noch verschlimmert und die letzten Reste des gesunden Menschenverstandes vollends begraben.

Von allen Parteien — die Völkischen ausgenommen — hat gerade die Kommunistische Partei mit einem Aufwand demagogischer Mittel gearbeitet, die jeder Beschreibung spottet. Als die von der Schwerindustrie bezahlte Presse die öffentliche Meinung für das Ruhrabenteuer aufpeitschte und die Sozialdemokratie auch dieses Mal auf den Leim ging, entdeckte die KPD urplötzlich ihr nationales Herz, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. Radek, der Berater der alten Zentrale, verherrlichte Schlageter, den Märtyrer der deutschen Faschisten, und einer der ausgesprochensten Reaktionäre Deutschlands, Graf Reventlow, schrieb seinen berüchtigten Artikel in der "Roten Fahne", in dem er einem zeitweiligen Zusammengehen der deutschen Faschisten mit den Kommunisten eifrig das Wort redete. Man vergaß ganz, daß es dieselben Kreise gewesen, die Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in grauenhafter Weise ermordet hatten. Bekannte kommunistische Politiker, wie Remmele traten in völkischen Versammlungen als Redner auf und wurden von den Faschisten mit stürmischen Beifall begrüßt. Und um der Judenfresserei dieser teutschen Helden Reverenz zu erweisen, erklärte die bekannte Ruth Fischer, die heute mit in der neuen kommunistischen Zentrale sitzt, in einer Versammlung völkischer Studenten: "Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie." — Der gerissenste Konjunkturpolitiker konnte die verschiedenen Situationen nicht besser ausnutzen, wie es die Wortführer der KPD getan haben. Wie die KPD seit ihrer Entstehung ihre Grundsätze fortgesetzt wechselte, je nachdem man von Moskau aus kommandierte, so ist sie auch von ihrem ehemaligen Antiparlamentarismus ziemlich schnell zum sogenannten "revolutionären Parlamentarismus" gekommen. Sie wird bei dieser Wandlung nicht stehen bleiben, und der "revolutionäre Parlamentarismus" wird eines Tages der positiven Mitarbeit Platz machen.

Was die ausgesprochenen "Hakenkreuzler", die Mannen der Deutschvölkischen Freiheitspartei und die Deutschsozialen anbetrifft, so haben sie trotz ihrer 36 Mandate doch nicht den Zulauf erhalten, den sie sich versprochen hatten. Diese Richtungen und noch ein halbes Dutzend anderer Konkurrenten sind kranke Gewächse einer kranken Zeit. Sie wurden mit dem Gelde der Schwerindustriellen und der Großagrarier künstlich aufgepäppelt, um diesen als Sturmbock gegen die Arbeiterbewegung zu dienen. Ihre blöde antisemitische Agitation ist den großen Kapitalisten deshalb erwünscht, weil durch sie die Unzufriedenheit der Massen in andere Kanäle geleitet wird, wo die Polizei leicht mit ihr fertig werden kann. Diese Parteien benutzen bei ihrer Propaganda eine Menge sozialistische Schlagworte, und es gelang ihnen, damit eine ganze Anzahl Arbeiter, welche den Zusammenhang der Dinge nicht durchschauen, für sich zu ködern.

Diese "rassenreinen deutschen Männer" sind sich aber durchaus nicht untereinander einig, sondern zerfallen in nahezu ein Dutzend verschiedener Richtungen, die sich gegenseitig auf das grimmigste befehden. Schuld daran ist die große Anzahl der "Generäle", die sich über die Verteilung der Posten nach dem Siege nicht einigen können.

Dabei passieren die drolligsten Dinge. Will so ein echter deutscher Mann einen verhaßten Konkurrenten aus dem Felde schlagen, so braucht er nur auf irgend eine Art nachzuweisen, daß derselbe jüdisches Blut in den Adern hat. Worauf es passieren kann, daß der also Angegriffene in der Presse einen öffentlichen Aufruf erläßt, in dem er demjenigen Hunderttausend Goldmark offeriert, der den Nachweis erbringt, daß wirklich jüdisches Blut in seinen Adern rollt. Auf diese Weise kam man schon zu den merkwürdigsten Entdeckungen: So behauptet man, daß der große Antisemitenhäuptling Wulle eine jüdische Großmutter gehabt habe. Ja, sogar der große Ludendorff, das Idol aller Völkischen in Deutschland, muß sich gefallen lassen, daß man ihn in den "ganz rassenreinen Kreisen" etwas über die Schulter ansieht, seit die "Familiengeschichtlichen Blätter" in Leipzig berichtet haben, daß einer seiner Vorfahren, der Kaufmann Karl Otto Ludendorff in Stettin, die Tochter des jüdischen Seifenhändlers Abraham Weilandt zur Frau genommen habe. Wenn man das tolle Spiel dieser Harlekine in der Presse verfolgt, so faßt einem der Menschheit ganzer Jammer an, daß so etwas im 20. Jahrhundert noch möglich ist und dazu noch ausgerechnet bei dem "Volk der Dichter und der Denker". Immerhin sind diese völkischen Hanswürste der Deutschnationalen Partei, die mithalf, sie großzuziehen, und die heute infolge ihres großen Wahlsieges mit allen Augen nach der Regierungsfutterkrippe schielt, sehr unbequem. Für eine rein "Nationale Regierung" langt es noch nicht. Folglich müßte man sich mit dem großen Bürgerblock bescheiden, von den Deutschnationalen bis zu den Demokraten. Die alten Regierungsparteien haben sich geschlossen auf den Boden der Anerkennung des Gutachtens der Sachverständigen gestellt, während die Deutschnationale Partei bei den Wahlen für rücksichtslose Ablehnung eingetreten ist. Was ist da zu tun? Herr Hergt, der Führer der Deutschnationalen, hat zwar schon ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, daß er für die Anerkennung zu haben ist. Und da das Reparationsproblem das erste ist, welches die neue Regierung zu lösen haben wird, so klingt auch bereits durch die deutschnationale Presse ein anderer Ton.

Dort, wo man vor den Wahlen entschieden "schwarz" sagte, sagt man heute schon "grau"; morgen wird man schon "weiß" sagen. Aber die Völkischen schreien Verrat und behaupten bereits schon, daß die Juden hinter der Sache stecken. Das ist unbequem. Unter diesen Umständen ist es schwer zu sagen, ob dem neuen Reichstag ein langes Leben beschieden sein wird.

Aus: "Die Internationale", 1. Jahrgang, Nr. 2 (1924). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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