Der doppelte Kampf der Frau
Der revolutionäre Mann, der heute für seine Freiheit kämpft, kämpft nur gegen die Aussenwelt. Gegen eine Welt, die sich seinen berechtigten Forderungen für Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit entgegensetzt. Die revolutionäre Frau dagegen muss auf zwei Gebieten kämpfen.
Einmal für ihre äussere Freiheit — in diesem Kampf findet sie in dem Mann ihren Kameraden, kämpft sie mit ihm für dieselben Ziele, für dieselbe Sache. Aber sie muss auch für eine innere Freikeit kämpfen, eine Freiheit, die der Mann schon seit Langem geniesst; und in diesem Kampf steht sie allein.
Im Anfang der Arbeiterbewegung wurde oft gesagt: "Der Feind steht im eigenen Lager". Also musste man zuerst diesen Feind besiegen, bevor man an weitere Eroberungen den ken konnte. So muss auch die Frau, die sich zu einer wirklichen Gleichberechtigung emanzipieren will, zuerst an die Bekämpfung des Feindes im eigenen Lager gehen. In diesem Kampf ist sie nicht nur allein und völlig auf ihre eigene Kraft angewiesen, sondern dieser Feind im eigenen Lager macht es ihr besonders schwer; er ist ein Feind den sie nie bewusst als solchen erkannt hat, dem sie seit ihrer frühesten Kindheit gefühlsmässig innig verbunden ist.
Da ist zuerst die Familie. Die starren Bindungen, die die Frau durch Erziehung und Tradition zur Familie hat, sind nicht leicht zu lösen, zur Familie die ihr in ihrem Kampfe nicht behilflich sein will, die der heranwachsenden jungen Frau die sexuelle Aufklärung verweigert, die sie bestimmen will in jungfräulicher Passivität auf den Mann zu warten, der ihr eine Ehe anbietet, in der die junge Frau, infolge ihrer Unwissenheit, oft statt des erhofften Glückes nur eine traurige Exisenz füehrt. Der Ausweg aus diesen Konflikten lag oft nur in einer heimlichen Umgehung der elterlichen Wünsche. Von innerer Freiheit konnte unter solchen Umständen keine Rede sein. Neue Familien wurden so gegründet, die aus Mangel an Aufrichtigkeit — selbst bei gutem sexuellern Verständnis zwischen den Gatten—, wegen Unterdrückung des Selbstbewusstseins der Frau wieder zu einer engen und befangenen Angelegenheit wurde. Kinder werden geboren, in Enge und Abhängigkeit erzogen — Eifersucht und Eitelkeit verdirbt die Freude am ehelichen Zusammenleben — der Mann geniesst Freiheiten, die der Frau bisher verboten waren. So muss das Unbewusste der Frau in allen diesen geliebten Menschen—Eltern, Gatte, Kinder — Feinde ihrer Freiheit sehen. Und diese geliebten Feinde müssen bekämpft werden — die Haltung der Frau diesen Feinden gegenüber muss geändert werden, Vorurteile, Ueberlieferungen, Traditionen müssen bekämpft, geschlagen, besiegt werden, so dass die Frau, innerlich frei und unter veränderten Bedingungen, zusammen mit ihren Kameraden des anderen Geschlechts erst wirklich den Kampf gegen den äusseren Feind der Knechtschaft und der Unterdrückung weiterführen kann.
Es ist schwer für die Frau zu erkennen, wie und wo sie innerlich gebunden ist. Hat sie es erkannt, muss sie unerbittlich gegen sich selbst sein, muss ohne Rücksicht auf anerzogene und bürgerliche Ideen zuerst auf einiges verzichten, was bequeme Gewohnheit geworden ist, und einen inneren Abstand zu ihrer persönlichen Umgebung gewinnen. Allein muss sie zu dieser Erkenntnis kommen. Niemand der ihr dabei helfen könnte als die Liebe zur Freiheit. Der Mann, selbst der anarchistische Kamerad, ist ihr dabei kaum eine Hilfe. Im Gegenteil, auch da gibt es noch soviel verborgene männlich Eitelkeit, die — ihm unbewusst — ihrer Befreiung entgegenarbeitet, oft in falschgerichteter Liebe und Freundschaft. Vor so vielen inneren Schwierigkeiten möchte man manchmal voller Verzweiflung den Kampf aufgeben.
Aber seid stark und haltet durch, Frauen der Revolution. Wenn ihr erreicht habt, dass ihr Euch selbst gehört, dass Eure Entschliessungen im täglichen Leben nur von Eurer eigenen Ueberzeugung und nicht von überlieferter Gewohnheit bestimmt sind, wenn Euer Gefühlsleben frei ist von sentimentaler und traditioneller Rücksichtnahme, wenn ihr Eure Liebe, Eure Freundschaft und Zuneigung aus eigenem freien Willen geben könnt, dann ist es leicht, mit den äusseren Schwierigkeiten fertig zu werden. Automatisch werdet Ihr als gleichberechtigte, selbstbestimmende Menschen in der Gesellschaft stehen. Als freie Frauen in einer freien Gesellschaft, die Ihr als wirkliche Gefährtinnen zusammen mit dem Manne aufbauen werdet.
Die Revolution muss von unten anfangen. "Und von innen", lasst frische Luft in die dumpfen Stuben des alten, engen Familienlebens der Unterdrückung. Erzieht die Kinder in Freiheit und Freude. Das Leben wird tausendmal schöner sein, wenn die Frau eine wirklich "Freie Frau" geworden ist.
Aus: Die Soziale Revolution Nr. 12, 1937. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.