Freiheit oder Diktatur?

Seit sieben Monaten sagen wir, dass der antifaschistische Krieg in Spanien nicht nur der Kampf gegen ein beliebiges politisches Regime ist; es ist vielmehr ein offener Kampf gegen das kapitalistische System, das in diesen Stunden von historischer Bedeutung seine letzte Hoffnung auf Gewaltlösungen setzt, wie sie der Faschismus bietet; der Glaube der Völker in die auf dem Privatbesitz basierende Ordnung ist erschöpft.

In den offen faschistischen Ländern wie in den sogenannten Demokratien ist der alte Privat-Kapitalismus am Ende. An seiner Stelle bildet sich ein neues System eines kollektiven Kapitalismus unter Beibehaltung der alten Klassengegensätze der Kapitalistischen Privilegien. Der freie Wettbewerb des alten liberalen Kapitalismus wird ersetzt durch ein anderes Wirtschaftssystem, das von staatswegen kontrolliert und geleitet wird. Mit diesem neuen System des Kapitalismus geht die Vernichtung der demokratischen Rechte der Arbeiterklasse Hand in Hand. Der Systemwechsel geht in allen Ländern vor sich; er nimmt verschiedene Formen an, hat aber den "totalen Staat" immer als Endziel und damit zugleich die Vernichtung jeder Freiheit durch den "allmächtigen Staat", der für die Interesen der Ausbeuter-Klasse eintritt.

Der Sozialismus, der Kommunismus und der Anarchismus haben sich dagegen die Schaffung einer Gesellschaft vorgenommen, die auf der absoluten Freiheit der Individuen innerhalb einer Gemeinwirtschaft beruht, in der die Produktionsmittel und der Boden in den Händen aller Arbeitenden liegen, also aufgehört haben, Privateigentum zu sein. In ihrem Endziel sind sich die Staats-Kommunisten und die Anarchisten einig. Marx sagte, der Sozialismus sei die freie Assoziation freier Produzenten, und Engels bestätigt, dass im sozialistischen Regime der Staat verschwinden müsse, um seinen Platz im Altertumsmuseum einzunehmen.

Wie aber zu diesem System der freiwilligen Zusammenarbeit aller Produzenten kommen in einer Überganszeit, in der das Proletariat unerfahren ist und es ihm schwer wird, die Verantwortung für die gesamte Wirtschaft zu tragen, und solange noch die inneren und äusseren Feinde der Revolution die neu entstehende Gesellschaft bedrohen? Der Marxismus behauptet, dass die Revolution, aus der die menschliche Freiheit entstehen soll, die das wesentliche Element des Sozialismus und der auf Kollektivbesitz der Produktionsmittel basierenden Gesellschaft bildet, beginnen muss mit der Diktatur des Proletariats, also mit der vorläufigen Abschaffung der Freiheit; diese Diktatur ist in Wirklichkeit nichts weiter als die Diktatur eines kleinen Kreises politischer Führer über die grosse Masse der Produzenten, der Staatskapitalismus. Diese Diktatur, die über den gesamten Staats-Apparat verfügt, soll — wie man sagt — nur eine kurze Übergangsperiode darstellen, die nach der Beseitigung jedes politischen Zentralismus abgelöst wird durch die freien Vereinigungen der Produzenten und Konsumenten, die sich selbst nach föderalistischen Prinzipien leiten und den absterbenden Staat ersetzen.

Die Wirklichkeit zeigt uns aber eine gegenteilige Erscheinung: nämlich, dass keine einmal bestehende Diktatur freiwillig verschwindet. Die Diktatur, die anfangs lediglich als Mittel zur Verwirklichung eines sozialen oder kulturellen Ideals hingestellt wird, wird sehr bald Selbstzweck, und ihr ist jedes Mittel zur Erhaltung ihrer Macht recht. So dient also jede Diktatur, die soziale Ziele verwirklichen will, bewusst oder unbewusst zur Schaffung neuer Ungleichheiten und Unterdrückung an Stelle der alten, in der Revolution abgeschafften. Das Problem des Neuaufbaus der Gesellschaft auf der Grundlage der sozialen Gerechtigkeit und der menschlichen Freiheit und Würde ist in Wirklichkeit nur auf dem Wege der Erziehung und der Fähigmachung des Proletariats für die Leitung der Wirtschaft und zur Verteidigung der Revolution zu lösen. Der Marxismus, die politischen Parteien und die reformistischen Gewerkschaften (in Deutschland zum Beispiel), taten nichts in dieser Hinsicht. Das Ergebnis war der Zusammenbruch des Proletariats vor dem Ansturm des Faschismus. Dagegen hat der Anarchosyndikalismus von jeher die Notwendigkeit einer Erziehung des Proletariats für die konstruktive Arbeit betont, die am Tage nach dem Sturz des kapitalistischen Regimes beginnt. Wenn der Sozialismus, die soziale Gerechtigkeit die Freiheit aller menschlichen Wesen zur Grundlage hat, muss man das Werk des Neuaufbaus von allem Anfang an auf der Basis der Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der Produzenten beginnen. Der revolutionäre Syndikalismus — Ausdruck der anarchistischen Ideale auf wirtschaftlichem Gebiet und vorbereitende Erziehung des Proletariats für die Lebensform von morgen innerhalb einer Gesellschaft des freiheitlichen Kommunismus und der Anarchie im menschlichsten Sinne des Wortes — der revolutionäre Syndikalismus zeigte dem Proletariat einen Weg zur Freiheit. Freiheit bedeutet für den Anarchosyndikalismus nicht das ferne Ziel einer zu bildenden neuen Gesellschaft — Freiheit ist für ihn das Aktions-Prinzip selbst, die Grundlage für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Neuaufbau.

Bisher hat der Anarchosyndikalismus keine eigenen Erfahrungen machen können. In sämtlichen Ländern der Welt führten die Sektionen der IAA (der anarchosyndikalistischen Internationale) einen ungleichen Kampf gegen die politischen Parteien, gegen alle, die beständig die sozialistische Ideen-Lehre verfälschten, in dem sie sie mit Ideen von Diktatur oder bürgerlicher Demokratie vermengen, die absolut nichts mit der Befreiung der Arbeiterklasse vom Joche der Ausbeutung zu tun haben. Der berühmte Satz von Karl Marx "Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein" war auf aller Lippen; aber die politische Taktik der Arbeiterbewegungen aller Länder stand in krassem Gegensatz zu diesem Ausspruch. Nur in Spanien bestand eine starke anarchosyndikalistische und anarchistische Bewegung, die seit 3/4 Jahrhunderten einen Kampf gegen Kapitalismus und Staat mit Hilfe der direkten Aktion führte; ihre Grundidee war, dass die Arbeiter selbst, am Tage der Revolution auf dem Wege über ihre wirtschaftlichen Organisationen — also die Gewerkschaften — die Leitung des gesamten Produktions- und Verteilungs-Prozesses zu übernehmen haben. Aber die CNT — die spanische Sektion der IAA, das stärkste Bollwerk des wahrhaften Sozialismus, des freiheitlichen Sozialismus — war sich schon seit Jahren darüber im Klaren, dass sie allein noch nicht im Stande sein würde, in Spanien ein Regime der Freiheit und sozialen Gerechtigkeit zu errichten; sie begriff dagegen, dass man an gesichts des Angriffes des Weltfaschismus den freiheitlichen Sehnsüchten der in den beiden grossen Gewerkschaften CNT und UGT organisierten Massen Gestalt geben müsse. Unser unvergesslicher Genosse Orobón-Fernández war der erste, der die Losung von der Revolutionären Arbeiter-Allianz aufstellte und sagte, dass diese der einzige Weg zur Befreiung des spanischen Proletariats sei. Diese Revolutionäre Arbeiter-Allianz wurde zur Losung der gesamten CNT nach dem Kongress, der Anfang Mai 1936 in Zaragoza stattfand.

Seit Beginn der faschistischen Erhebung haben sich die FAI und die CNT für diese Losung eingesetzt, die die einzig mögliche und annehmbare für sämtliche Sektoren des spanischen Proletariats ist. Die Revolutionäre Arbeiter-Allianz ist nicht die Verwirklichung aller Sehnsüchte und Ziele der CNT und der IAA. Aber für den Augenblick bedeutet sie die einzige Losung, die man als Taktik im Kampfe gegen den Faschismus allen proletarischen Sektoren vorschlagen kann, um so zu einem siegreichen Ende des Krieges zu kommen und gleichzeitig den Grund zu legen für eine neue sozialistische Welt.

Revolutionäre Arbeiter-Allianz bedeutet nicht die Verwirklichung einer in jeder Hinsicht vollkommenen neuen Ordnung; die historische Bedeutung dieser Allianz liegt aber in der Tatsache, dass nur durch sie eine Diktatur vermieden werden kann. Das Volk kämpft gegen jede Art von Diktaturen. Das höchste Ziel der internationalen Arbeiterbewegung ist die völlige Befreiung der Werktätigen, die über ihr eigenes Schicksal beschliessen. Bis heute hat man noch in keinem Lande der Welt den Versuch eines sozialen Neuaufbaus auf anti-diktorialer Basis gemacht. Es ist das erste Mal, dass in einem Land eine wahrhaft sozialrevolutionäre Bewegung entsteht, die auf die Abschaffung der Diktatur — in welcher Form auch immer — hinzielt und das alte Regime durch die Revolutionäre Arbeiter-Allianz ersetzen will, die die Leitung der gesamten Angelegenheiten des Lebens und der Wirtschaft zu übernehmen hätte.

Gewiss arbeiten heute die Anarchisten und Anarchosyndikalisten mit politischen Parteien und sogar mit Institutionen des alten Staates zusammen. Das charakteristische an ihrer Haltung ist aber der zähe Kampf für die Revolutionäre Arbeiter-Allianz, die in Wahrheit den Krieg gegen den Faschismus ermöglicht und die Basis ist für den Neu-Aufbau der Wirtschaft. Während der Autoritarismus in allen Länder einen immer günstigeren Nährboden findet, weil die Völker in ihrer Verzweiflung keinen anderen Weg der Rettung vor dem Abgrund sehen, zu dem sie der Kapitalismus führt, zeigen wir in Spanien, dem klassischen Lande des Anarchismus, der Welt einen neuen Weg zur wahrhaften, Befreiung: den Weg der sozial-konstruktiven Allianz der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter. Diese Allianz wird die Diktatur vermeiden, die niemals ein schöpferischer Faktor ist, sondern stets ein Zeichen einer völlig degenerierten Zivilisation.

Aus: Die Soziale Revolution Nr. 11, 1937. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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