Gaston Leval - Techniker der Revolution

Die Arbeiter vieler Fabriken wollen sofort den Betrieb sozialisieren. Sie haben Angst, Zeit zu verlieren, die unwiederbringlich ist. An vielen Stellen hat man vorbereitende Informationen für die Realisierung dieser Absichten bei den Technikern angefordert. Diese geben eine ausführliche Analyse aller entscheidenden Faktoren: Rohstoffe, Transport, Maschinen, ausländischer und inländischer Markt etc. Und das Zahlenmaterial, das sie den Arbeitern übergeben, die mit ihnen nicht diskutieren können, beweist fast immer, dass die vorgeschlagene Sozialisierung schwere Gefahren für den Gesamtablauf der Wirtschaft einschliesst.

Die Folge davon ist eine Abkühlung des Enthusiasmus. Die Arbeiter kommen zu keiner Entscheidung. Die Zeit vergeht, und die Ausbeuter haben den Vorteil von unserer Untätigkeit. Es ist ein grosser Irrtum, diesen Technikern eine Rolle zu geben, die ihnen garnicht zukommt. Sie verstehen zwar, eine bestimmte Industrie zu organisieren, aber nicht, eine neue Gesellschaft aufzubauen. Dafür sind die Techniker der Revolution da, die Erneuerer, die Reformatoren, die Soziologen, alle, die den Blick und die Fähigkeit haben, die Ereignisse in ihrer Gesamtheit zu erfassen, die zu gestalten fähig sind, die mit dem Ziel zugleich auch den Weg zeigen können, der zu diesem Ziel führt.

In keiner wirklichen Revolution waren die alten Techniker wegweisend. Weder Luther noch Danton, weder Marat noch Lenin, weder Bakunin noch Garribaldi liessen sich in ihren Aktionen von Leuten beeinflussen, die zwar eine Fabrik leiten können, aber nicht die Geschicke der Menschheit. Für die Eroberung von Jahrzehnten, von Jahrhunderten des Glücks, der Freiheit des Wohlstands und der Kultur für alle, für den Triumph der Güte und der Würde als Grundlage menschlicher Beziehungen, für die Beseitigung der Klassengegensätze und -kämpfe, des Krieges und des Elends zählen zwei, drei oder fünf Jahre voller Entbehrungen und Schwierigkeiten nichts. Das ist der für den Techniker der Revolution höchste und massgebende Gesichtspunkt. Von ihm allein lässt er sich leiten bei seinem konstruktiven Werk.

Dachten vielleicht die Franzosen der Revolution von 1789-93 an die wirtschaftliche Situation, als sie wagten, ganz Europa ins Gesicht zu schlagen? Oder dachten vielleicht die marxistischen und anarchistischen Revolutionäre Russlands an die Schwierigkeiten, auf die sie stossen würden, als sie die russische Revolution vorwärts trieben und den Sturz Kerenskis erzwangen? Auch damals haben die Wirtschaftsexperten schwarz auf weiss bewiesen, dass man schwere Gefahr liefe, wenn man die bürgerliche Ordnung restlos zerstörte. Aber die Revolutionäre begriffen die tatsächliche Situation und trieben mit sicherer Hand das Rad der Geschichte vorwärts.

Auf der anderen Seite vernichteten die Ratschläge der "Experten" revolutionäre Möglichkeiten. Wir erinnern nur an Italien. 1920 verlangte die Situation eine revolutionäre Lösung. Die Masse war bereit alles aufs Spiel zu setzen. Aber die sozialistischen und kommunistischen Führer waren mehr Wirtschafts- als Revolutionstechniker. Sie wandten ein, dass Italien weder Kohle, noch Eisen noch Weizen in genügender Menge produziere. Sie widersetzten sich der Revolution, sie bremsten den revolutionären Willen der Massen. Kurz darauf siegte der Faschismus.

Auch die österreichischen Sozialdemokraten verloren ihre Zeit mit Finanzexperimenten, statt loszuschlagen. Der Faschismus triumphierte, trotz der verspäteten und bewundernswerten Haltung der sozialistischen Massen.

Alle diese Beispiele sollten weder die Militanten, noch die Massen, noch die Techniker vergessen. In der Geschichte siegt immer der Wagemut. Die "Klarsichtigen", die Erleuchteten gehorchen nicht einer kalten Zahlenlogik, ebenso wenig wie der Instinkt der Massen. Nehmt diese Faktoren aus der Geschichte, und sagt mir, was dann noch bleibt von fortschrittlichen Eroberungen.

Die Geschichtswissenschaft — das ist die Wissenschaft vom Leben der Völker, hat ihre eigenen Normen. Heute stehen wir in einem Moment der Neuschöpfung — und diese Schöpfung hat ihren eigenen Rhythmus und ihre eigenen Gesetze. Wir sind dabei, eine neue Gesellschaft zu schaffen; das bedeutet die Schaffung einer noch nicht dagewesenen Form sozialer Struktur. Das ist das wesentliche, das einzig entscheidende, alles übrige ist nebensächlich. Wir werden eine gewisse Zeit wirtschaftlicher Unordnung durchzumachen haben. Sie soll uns willkommen sein, besonders wenn der Preis dafür unsere Befreiung ist, die die Sicherheit für eine würdige und glückliche Zukunft unserer Kinder bietet, — Herr Ingenieur!

Der Wirtschaftstechniker kann nicht entscheiden — soweit er nicht Revolutionär ist — wann die geschichtliche Stunde eines Volkes geschlagen hat. Und die Völker können sich also seiner Entscheidung nicht anvertrauen. Willkommen alle, die sich in die Reihen des Proletariats eingereiht haben. Wir sagen ihnen: seid bei Euren Beratungen mehr Techniker der Revolution als der Wirtschaft. Wir bitten sie: Wenn ihr wenig optimistische Berichte geben müsst, fügt hinzu: diese Schwierigkeiten sind unbedeutend Genossen. Wir haben sie in allen Revolutionen gehabt. Kein Volk hätte Fortschritte gemacht, wenn es nicht den Mut gehabt hätte, diesen Schwierigkeiten ins Auge zu sehen und sie zu überwinden. Bestimmt werden wir anfangs etwas zu leiden haben, aber danach werden wir alles haben! Vorwärts also, der Sieg wird unser sein!

Übersetzung eines Artikels von Gaston Leval aus SOLIDARIDAD OBRERA.

Aus: Die Soziale Revolution Nr. 2, 1937. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ä zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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