Nita Nahuel - Die den Anarchismus entehren

Der berühmte argentinische Soziologe José Ingenieros behauptete, die Emanzipation der Frau hänge von der Umwandlung der Gesellschaft ab; die soziale Revolution bringe die ökonomische, politische und sexuelle Befreiung der Frau mit sich.

Ich fange an, daran zu zweifeln. Ich fange an zu glauben, daß wir Frauen nach der sozialen Revolution "unsere Revolution" machen müssen. Es gibt genügend Gründe dafür, über dieses Thema nachzudenken.

Nehmen wir einen Fall als Beispiel: In Spanien - wo die soziale Revolution bereits realisiert und gelebt wird - ist die Frau dem Mann so untergeordnet wie in jedem anderen bürgerlichen Land auch. Vor wenigen Tagen wurde die Nachricht verbreitet, daß vier Dörfer in Aragon in die Hände der Faschisten gefallen seien. Eine Gruppe Frauen, die sich zu der Zeit bei "Mujeres Libres" versammelt hatten, improvisierte sofort eine Demonstration. Eine vielköpfige Kolonne zog die Ramblas herunter, gelangte bis zur Generalidad (Anm.: Sitz der Provinzregierung des damals autonomen Katalonien) und forderte: "Waffen für die Front in Aragon!" "Weniger Politik, mehr Waffen!" "Herabsetzung der fantastischen Gehälter!" "Gleiche Opfer für alle!" "Waffen, Waffen, Waffen!".

Die Demonstration wuchs zu einer imponierenden Größe an. Am Platz der Republik unterhielt sich eine Kommission mit den Autoritäten und legte ihnen die Forderungen vor. Nachdem sie angehört wurden, zog die Demonstration durch die Via Durruti und löste sich dann auf.

Als die Demonstration am Gebäude der C.N.T.-F.A.I. vorbeikam, brach sie in Hochrufe auf die Revolution aus; dasselbe geschah gegenüber dem Gebäude der Revolutionären Jugend. Einige Genossinnen, die zurückgeblieben waren, erlebten etwas, was man sich zu erzählen schämt. Ein Individuum, das am Hals ein schwarz-rotes Tuch trug, begann Beschimpfungen und Bedrohungen gegenüber den Genossinnen aus der Demonstration auszustoßen. Eine von ihnen näherte sich ihm und fragte, warum er das mache. Er antwortete, weil es ihm Spaß mache und fuhr dann fort, die Situation aggressiv und brutal zu kommentieren - so weit, daß die Genossin sich eingeschüchtert zurückziehen mußte.

Wir wissen, daß es überall Kretins gibt. Aber man sollte genau wissen, ob es sich nur um einen Kretin handelt oder um einen faschistischen Heckenschützen. Im ersten Fall werden wir versuchen, ihn aufzuklären und zu belehren. Hieran dürften auch die Genossen der C.N.T. interessiert sein. Im zweiten Fall müssen wir ihm in erster Linie dieses Ehrenzeichen vom Hals reißen und aus dem Gurt die Pistole, damit er lernt die Gewalt und die Einschüchterung zu unterlassen, wenn er mit Genossinnen spricht.

Die Barbaren, die sich als Anarchisten verkleiden, die Feiglinge, die gut bewaffnet von hinten angreifen, die "Mutigen" die die Stimme erheben und sich drohend gegenüber den Frauen verhalten, zeigen damit ihre faschistische Haltung, und man muß ihnen die Maske herunterreißen.

Mal sehen, ob wir nach so viel Schmerz und so vielen Opfern um Erlaubnis fragen müssen, wenn wir das Leben der Kämpfer an der Front verteidigen wollen - Leben, das wir mit unserem Fleisch und unserer Angst geschaffen haben!

Mal sehen, ob wir es dulden werden, daß nach so vielen anarchistischen Büchern, die geschrieben worden sind, um die Freiheit der Frau anzupreisen, nach so vielen libertären Reden, die die Rechtsfreiheit proklamiert haben, nach so langen Emanzipationskämpfen, ob nach all dem "Anarchisten" kommen und uns angreifen, weil wir die unnütze Tötung unserer Söhne an der Front in Aragon verhindern und gleichzeitig eine wirksame Bewaffnung sichern wollen!

Mal sehen, ob sie uns daran hindern werden, mit unseren eigenen Händen die Gewehre zu ergreifen, die hier übrig sind, um sie dorthin zu bringen, wo sie so sehr fehlen! Mal sehen, ob die anarchistischen Genossen es erlauben werden, daß man an ihrer Seite ungestraft die anarchistischen Genossinnen angreifen kann!

Manche Tücher und Pistolen sind an der falschen Stelle, und das müssen wir beenden, Genossen Anarchisten!

Aus: "Mujeres Libres", VIII. Monat der Revolution

Originaltext:
Mary Nash: Mujeres Libres. Die freien Frauen in Spanien 1936 - 1978. Karin Kramer Verlag, Berlin 1979. Digitalisiert von www.anarchismus.at mit freundlicher Genehmigung des Freundeskreis Karin Kramer Verlag. Das Copyright des Textes liegt weiterhin beim Karin Kramer Verlag, der Text darf ohne Rückfrage nicht weiter kopiert oder gedruckt werden. Im Karin Kramer Verlag sind zahlreiche Bücher zum Anarchismus erhältlich.


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