Einmal heftigst ausgeteilt...

Jeder zeitgenössische anarchistische Text über den Anarchismus beinhaltet unvermeidlich den Satz, dass es »den« Anarchismus nicht gäbe. Das stellt Kritik am Anarchismus vor ein Problem: Entweder folgt man dem anarchistischen Narrativ und tut so, als wäre die Auseinandersetzung mit jeder einzelnen anarchistischen Strömung oder Gruppe etwas, das andere Anarchismen gar nicht betreffen würde. Oder es müssen, wie im Folgenden versucht wird, gemeinsame Merkmale aller Varianten des Anarchismus erfasst werden. Auch auf die Gefahr hin, Varianten des Anarchismus übersehen zu haben, auf die diese Kritik nicht zutrifft.

Seit 1968 scheinen sich die Differenzen zwischen den verbreitetsten Strömungen von Marxismus und Anarchismus kontinuierlich zu verringern. Was zu Zeiten von Bakunin und Marx, Lenin und Kropotkin noch Fragen waren, die sozialistische Bewegungen gespalten haben, ist heute oft im linken common sense der westlichen Welt aufgehoben. Linker Mainstream hat weitgehend anarchistische Warnungen vor Zentralismus, Bürokratie und Diktatur der Avantgarde verinnerlicht. Umgekehrt jedoch haben manche Thesen der Kritischen Theorie (in erster Linie von Marcuse und Fromm) für den heutigen Anarchismus mehr konstituierende Bedeutung als Proudhon oder Godwin. Da gerade im deutschsprachigen Raum auch dezidiert staatskritische Strömungen des Marxismus existieren, wäre eine naheliegende Annahme, dass die Rivalität zwischen Marxismus und Anarchismus nur noch von historischem Interesse sei. Das Aufkommen der Neuen Linken habe die beiden Strömungen wieder vereint und neue, ganz andere Differenzen geschaffen. »Anarchismus ohne Adjektive«, die näheres über seine jeweilige Ausrichtung verraten, hat es heute besonders schwer, da nicht klar ist, was sein Profil noch ausmacht.

Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem heutigen Anarchismus sollte nicht, wie es allzu oft geschieht, eine Nacherzählung der Geschichte des Anarchismus in all seiner Vielfalt sein; von der Ersten Internationale über Machno und Spanien hin zu herrschaftskritischen Wagenplätzen von heute, sondern vielmehr versuchen, die inhaltliche Essenz aller Strömungen zu erfassen.

 

Anarchismus – Theorie, die keine sein will

Anarchismus ist entgegen der verbreiteten Vorstellung keineswegs theorielos. Dennoch wird von AnarchistInnen selbst ein argumentativer Vergleich anarchistischer mit anderer Theorie oft mit dem Hinweis abgewehrt, dass »das Leben«, »Praxis«, »Aktion« doch wichtiger sei und von keiner Theorie erfasst und komplett durchdrungen werden könne. Als Urheber dieser Gegenüberstellung von Denken und Handeln im Anarchismus kann mühelos Michail Bakunin ausgemacht werden. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen – ein Theoriefeind war dieser begeisterter Leser deutscher Philosophie auf gar keinen Fall. Selbst seinem größten Kontrahenten Marx zollte er viel Respekt als Wissenschaftler. Bakunin war vielmehr ein antiintellektueller Intellektueller. Er leistete sich permanent denselben Widerspruch – wissenschaftlich nachweisen zu wollen, dass die Wissenschaft das Leben nicht erklären kann.

Bakunin war sowohl Bewunderer der Wissenschaft als auch unermüdlicher Warner davor, »da alle Theorien, insoweit sie ausführliche und abgeschlossene Theorien sind, […] in Wirklichkeit nie etwas anderes darstellen als den von dem Denken einiger auf das Denken Aller ausgeübten Despotismus – einen theoretischen Despotismus, der nie verfehlen wird, in praktischen Despotismus und Ausbeutung niederzuschlagen«.

Das ganze schwülstige Lob der Praxis und des Lebens, das Bakunin seinen KontrahentInnen entgegen hält, ist eine Theorie. Nämlich eine Theorie über den Fehler aller Theorien, eben nur Theorien zu sein. Eine allgemeine Aussage, die vor allgemeinen Aussagen warnt. Aber Bakunin geht mit seiner Kritik weiter. Theorie sei Herrschaft, weil TheoretikerInnen das Denken, das nur das eigene sei, den Anderen aufzwingen wollten. Er wendet sich also primär gegen das Überzeugen an sich, nicht bloß gegen Erkenntnisanspruch. Das angeführte Zitat versucht, von der Schädlichkeit des Überzeugens zu überzeugen. Bakunin ist dahin gehend wirklich geistiger Vater vieler heutiger AnarchistInnen. Seine Kritik bestimmt gar nicht, was Theorie ist. Sie warnt davor, dass sich hinter jeder Theorie ein Wille zu herrschen verstecke. Anders als dessen Instrument wird die Theorie nicht bestimmt. Die Verachtung für Theorie, Denken und Wissenschaft verträgt sich bei AnarchistInnen jedoch bestens mit Klagen darüber, wie wenig akademische Beachtung dem Anarchismus geschenkt wird.

Einerseits folgt aus Bakunins Worten, dass die anarchistischen Theorien möglichst unabgeschlossen und nicht ausführlich sein sollten, doch zugleich verdienen sie Anerkennung seitens derer, die an ihre Theorien genau umgekehrte Ansprüche stellen.

Der Staat – kaum diskutiert, aber rundum abgelehnt

Zwischen dem Vorwurf von Lenin »Der Anarchismus hat in den 35-40 Jahren [...] seines Bestehens [...] nichts gegeben außer allgemeinen Phrasen gegen die Ausbeutung«?
und dem Geständnis von Jürgen Mümken, als »›Feinde des Staates‹ (Bakunin) glaubten die AnarchistInnen des 19. Jahrhunderts keine genaue Analyse des Staates zu brauchen«?, verging über ein Jahrhundert. Geändert hat sich allerdings im Umgang der AnarchistInnen mit dem Erzfeind wenig. Staatstheorie bleibt die größte Leerstelle des Anarchismus. Das liegt nicht daran, dass es keine anarchistischen Werke zum Thema Staat gibt. Es gibt bloß keine anarchistische Diskussion darüber. Für den Anarchismus ist es völlig belanglos, wie der Staat erklärt wird und womit die Gegnerschaft zum Staat begründet wird. Es reicht völlig, dagegen zu sein. Es gibt kein undankbareres Vorhaben, als Kritik an einem/einer einzelnen anarchistischen TheoretikerIn zu üben, denn kaum einE AnarchistIn wird auf die Idee kommen, diese zu verteidigen. Obligatorische Hinweise darauf, dass »es den Anarchismus nicht gäbe« und »Anarchismus nicht bibelgläubig sei« würden die einzige Ernte sein. Radikale Indifferenz gegenüber der eigenen Theorie wird vom anarchistischen Mainstream für eine Kritik an Dogmatismus gehalten. Und dennoch sind AnarchistInnen stolz auf (fast) alle AutorInnen, die sich ihr Label aufdrücken. Doch wie sich Theorien von Bakunin und Malatesta, Landauer und Pouget, Perlman und Guérin, Bergstedt und Mümken zueinander verhalten, interessiert sie nicht. Jeder Versuch, die Differenzen auszudiskutieren, sieht der Anarchismus als einen Anschlag auf seine Prinzipien. Wie es Anarchismusforscher und Anarchist Peter Seyferth formuliert: »Aber eigentlich finde ich es auch gut, dass sich nicht alle Linken einheitlich auf dieselbe Argumentationslinie berufen, da aus Einheit zu leicht Konformität erwächst.«?

Unabhängig vom Inhalt der Argumente wittert Seyferth – und in diesem Punkt spricht er dem Mainstream des Anarchismus aus der Seele – in jeder Einheit schon eine aufkommende Diktatur. Der Anarchismus hat Pluralismus tatsächlich zu einem Dogma gemacht, mit dem Ergebnis, dass jede Vertiefung der theoretischen Diskussion mit dem Verweis auf Gefahr der Vereinheitlichung und Primat des Lebens über das Denken erfolgreich verhindert werden kann.

Anarchistische Praxis – Wirklichkeit an Utopie blamieren

Jörg Djuren, Autor der Zeitung Graswurzelrevolution, möchte Anarchismus von Theorie scharf abgrenzen: »Anarchie bzw. Anarchismus ist für mich keine Theorie, als viel mehr eine Utopie/Idee und eine Praxis. Die anarchistische Theorie ist ein Ergebnis dieser Praxis und insofern nichts festes. […] Anarchie ist keine wissenschaftliche Theorie, sondern die Entscheidung für den Willen zur größtmöglichen individuellen Freiheit aller Menschen.«

Djurens Position ist sicherlich nicht Konsens in anarchistischen Kreisen, ist aber auf gewisse Weise sehr konsequent. Anarchismus will den Staat nicht erklären, sondern stattdessen die Wirklichkeit der staatlich regierten Welt mit eigenen Wunschbildern vergleichen. Natürlich steht das Ergebnis eines solchen Vergleichs schon fest. Utopie ist für die, die sie entwerfen immer schöner als die Wirklichkeit, das liegt im Wesen der Sache. Utopie zeigt ja, was in der Gegenwart fehlt.

Konsequenter Weise besteht anarchistische Literatur zu beachtlichen Teilen aus detaillierten Beschreibungen einer Welt, die den VerfasserInnen gefallen würde. Regelmäßig erscheinen neue Utopien und Entwürfe, wie die Welt noch so aussehen könnte, in Zeitschriften und Büchern.

Ihre Anzahl überwiegt die der Gegenwartsanalysen gewaltig. Die Frage, warum die Gesellschaft so ist, wie sie gerade ist, vernachlässigt der Anarchismus bewusst. Streit über die Stimmigkeit der Analyse soll über den Vergleich der Utopien umschifft werden. Allerdings kommt der Anarchismus dort an einen toten Punkt. Der Realität wird zwar vorgeworfen, sie stimme mit den eigenen Vorstellungen nicht überein. Doch bleiben die meisten AutorInnen die Begründung dafür schuldig, warum gerade die eigenen Vorstellungen als Maßstab für die ganze Gesellschaft gelten sollen. Im Grunde genommen stellt die Tatsache, dass die Realität nicht mit der Utopie übereinstimmt, nur für diejenigen einen Grund zur Empörung dar, die der Utopie schon anhängen. Das ist einer der grundsätzlichen Unterschiede zwischen Gesellschaftskritik marxistischer und anarchistischer Ausrichtung. Für Marx fiel die Erklärung der bestehenden Verhältnisse mit Kritik an diesen zusammen, der Anarchismus nimmt seinen Ausgangspunkt bei formulierter Utopie und nimmt diese als Kriterium der Beurteilung. »Wir müssen der Welt beweisen, daß die Anarchie keine abstrakte Konzeption, kein wissenschaftliches Hirngespinst und keine ferne Vision, sondern daß sie ein Lebensprinzip ist«, schrieb Malatestas Mitstreiter Francesco Saverio Merlino 1892. Lifestyle-Anarchismus ist also kein neues Phänomen.

Solange es Anarchismus gibt, gibt es mehr oder minder radikale Versuche, Utopie im Hier und Jetzt zu leben, was immer auch bedeutete sie anderen vorzuleben. Bei Letzterem geht es oft um Versuche zu agitieren, indem man aufzeigt, was so alles ohne Staat möglich ist. Wenn der Staat aktuell nicht abgeschafft werden kann, so soll doch zumindest suggeriert werden, von diesem völlig unabhängig zu sein. Das Schlimmste allerdings, was dem Anarchismus heute passieren kann, ist damit Erfolg zu haben.

Wenn die Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, Monika Herrmann, im Bezug auf ein Bleiben der Flüchtlinge in Kreuzberg erklärt: »Der Bezirk hat über zwei Jahre sein Optimum geleistet und ist jetzt am Ende. Wir können das nicht finanzieren, ihnen keine Wohnung geben, keine legale Arbeit und keine Papiere verschaffen. [...] Alle, die sich jetzt solidarisch erklären, kann ich nur auffordern, die Leute aufzunehmen«, dann ist das ein kleiner Vorgeschmack darauf, worauf es hinauslaufen kann, wenn die Idee vieler AnarchistInnen, Strukturen parallel zum Sozialstaat aufzubauen, die dessen Funktionen nachahmen, sich realisieren würde: Die Aufgaben des Sozialstaates werden an die Zivilgesellschaft delegiert. Umsonstläden, Tauschringe, Selbstversorgungsnetzwerke sind gar nicht so inkompatibel zum FDP-Programm, wie es heute erscheint. Warum soll der Staat Steuergelder für Arme ausgeben, wenn die sich mit Gemüsegärten und Geld von FreundInnen über Wasser halten können? Wie viele Leute werden noch mit »Refugees welcome«-Shirt herumlaufen, wenn die Versorgung der Refugees privat stattfinden muss? Bei aller guten Intention sind insbesondere konkrete Hilfsprojekte nur linke Varianten der Tafeln und der Heilsarmee. Die Tatsache, dass von rechts schon immer »Wohlfahrt statt Sozialstaat« gefordert wurde, darf dabei nicht in Vergessenheit geraten.

Anarchismus geißelt Anonymität der staatlichen Strukturen, die ominöse »Entfremdung« und nicht selten propagieren anarchistische Utopie-Entwürfe persönliche Affinität als die Basis für das Zusammenleben in der Gesellschaft. Das Kollektiv CrimethInc. fasst seine Vorstellungen zum Beispiel wie folgt zusammen: »Wenn AnarchistInnen vorschlagen, dass wir alle unsere sozialen Beziehungen nach dem Beispiel der Freundschaft – oder der Familie – gestalten sollen, geht es uns vor allem um die Qualitäten, die der Freundschaft zugrunde liegen«. War Familie früher noch Objekt der anarchistischen Kritik, so ist sie jetzt selber zur Utopie geworden. »Es ist behauptet worden, dass wir gegen die Ehe sind, aber das Gegenteil trifft eher zu: Ja, wir verwehren uns dagegen, dass ein Mensch das Eigentum eines anderen ist, aber wir unterstreichen, dass wir alle auf diesem Planeten praktisch miteinander verheiratet sind; und wir bestehen darauf, dass wir uns alle dementsprechend verhalten.«

Zwei Gesichter des Anarchismus: Moralismus und Antimoralismus

Es ist üblich, den Anarchismus in individualistische, kollektivistische und kommunistische Grundströmungen aufzuteilen, als besondere Strömungen werden Anarchosyndikalismus, Ökoanarchismus, Insurrektionalismus etc. betrachtet. An dieser Stelle soll eine etwas andere Einteilung vorgeschlagen werden. Seit der Anarchismus existiert, kritisiert er den Staat im Namen der Freiheit. Die Frage danach, was unter positiver Freiheit (»Freiheit zu«) zu verstehen ist, hat den Anarchismus immer gespalten. Im Grunde genommen schwankte der Anarchismus immer zwischen Hypermoralismus und Antimoralismus und noch heute lassen sich fast alle Anarchismen einem der beiden Stränge zuordnen. Zu der ersten Kategorie gehören alle Strömungen, die die Anarchie als Ergebnis des freiwilligen Einhaltens ethischer Normen sehen und Gesellschaft für das Abweichen von der Moral verurteilen. Godwin, Proudhon, Tolstoi und natürlich Kropotkin, der Anarchismus aus dem Menschenwesen abzuleiten versuchte, sind die wichtigsten historischen Repräsentanten dieser Richtung. Heute sind ÖkoanarchistInnen, VeganerInnen, Straight-Edge-AnhängerInnen, Graswurzel-PazifistInnen, GründerInnen und BetreiberInnenn von Kommunen oder Projekten deren legitime Erben. Neben moralischem Rigorismus zeigt dieser Anarchismus einen starken Drang, den Bürgerschreck-Ruf loszuwerden. Anarchismus sollte gerade etwas Konstruktives und Praktikables sein. Wenn sich alle nur ethisch Verhalten würden, bräuchte es keinen Staat, so lautet der Tenor.

Die zweite Kategorie umfasst neben Bakunin und Stirner alle diejenigen, die am Anarchismus gerade das Übertreten aller moralischen Regeln anziehend fanden. Ravachol, die Illegalisten in Frankreich und die AnhängerInnen des »motivlosen Terrors« im vorrevolutionären Russland, aber auch spätere Anarcho-Punks und alles, was heute als Insurrektionalismus bezeichnet wird. Durchaus plausible Versuche, De Sade und Nietzsche in den Anarchismus einzugemeinden, gehen von diesem Zweig aus (während die Gegenseite lieber Staatsgründer Mahatma Gandhi zum Anarchisten kürt). Sie sind es auch, die sich um das Aufrechterhalten des Images der gefährlichen Anarchie bemühen. Die aufständischen Anarchisten von Bonanno bis Wolfi Landstreicher bis zum Unsichtbaren Komitee und Verschwörung der Feuerzellen sind wohl heute die bekanntesten Erscheinungsformen dieser Tradition.

Doch bei genauerer Betrachtung lässt sich schnell feststellen, dass Anti-Moralismus eben nicht Kritik an der Funktion der Moral ist, sondern versucht, eine Gegen-Moral zu etablieren. Das Brechen von Regeln wird mit demselben Eifer verlangt, wie im anderen Fall deren Einhalten. Anarchismus ist eine Sache der freien Menschen. Wer keine rebellischen Taten vollbringt, ist nicht frei. So die Logik der »Lebe-wild-und-gefährlich«-Pamphlete, mit denen gerade die anarchistische Öffentlichkeit überflutet wird. Und so scheint es heute, dass Emma Goldman mit ihrem Bonmot, alle wahren AnarchistInnen seien AristokratInnen, wahrscheinlich mehr recht hatte, als sie ahnte.

Einige Leute seien schon jetzt frei, weil sie mehr wagen als andere. Je mehr der Anarchismus sich als Lebenseinstellung, als Verhalten, als Geisteshaltung und nicht so sehr als politische Richtung begreift, desto mehr elitären Dünkel bringt er hervor.

In Wirklichkeit sind Anti-Moralisten nicht selten bereit, konservativsten Moralvorstellungen Tribut zu zollen, wenn es nur irgendwie rebellisch und unangepasst stattfinden kann. »In einer Gemeinschaft, in der Menschen ihre eigene Musik und Kunst schaffen und ihre eigenen Veranstaltungen organisieren, würde es keinen Platz für das lähmende Spektakel von MTV geben, geschweige denn für Online-Dating oder Pornographie« – schwärmt nicht etwa die Junge Freiheit, sondern immer noch CrimethInc.

Umgekehrt, wer Ethik als Grundlage der Politik betrachtet, kommt früher oder später beim Bild vom metaphysischen Kampf Gut gegen Böse an, das meist fatale Konsequenzen hat und auch bei der Wahl der Mittel nicht zimperlich ist.

Natürliche Gesellschaft – künstlicher Staat?

Während der Staat im Anarchismus immer der Feind ist, genießt die Gesellschaft einen äußerst guten Ruf. Im deutschen Anarchismus ist spätestens seit Landauer und Mühsam die Vorstellung von der Gesellschaft, die vom Staat unterworfen wurde und von ihm befreit gehört, fest verankert. In den Texten der AnarchistInnen der Weimarer Zeit wird die Gesellschaft zunehmend mit Natur, Leben und Kultur assoziiert, während der Staat als künstlich und mechanisch erscheint.

Die Parallelen zu KritikerInnen von rechts sind unübersehbar, auch wenn die Vorstellungen davon, wie unverfälschte, natürliche Gesellschaft – oder genauer gesagt – Gemeinschaft aussieht, bei den Linken und den Rechten unterschiedlich ausfallen. Rudolf Rocker ist in Die Entscheidung des Abendlandes, seiner Antwort auf Spenglers Untergang des Abendlandes, nicht weit von seinem Kontrahenten entfernt, wenn es um die Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation geht. Unterschied ist nur, dass Spengler den absolutistischen Staat als Höhepunkt der Kultur ansah, während für Rocker der Staat eben eine Verfallserscheinung der ihm eigentlich entgegenstehenden Kultur darstellt.

Dabei ist Rocker kein Einzelfall. Kropotkins biologistische Argumentation von Solidarität als Evolutionsvorteil, sein Versuch, den Anarchismus naturwissenschaftlich zu begründen, vermischte sich mit der Zivilisationskritik westeuropäischer Intellektueller zu dem, was noch heute von vielen AnarchistInnen unkritisch aufgenommen wird: die Idee von der zur natürlichen Harmonie zurückgekehrten Menschheit.

Auch der heutige Anarchismus ist um abstruse Naturvergleiche nicht verlegen. So machte CrimethInc. die bahnbrechende Entdeckung: »Jedes natürlich geordnete System – ein Regenwald, eine solidarische Wohngemeinschaft – ist ein harmonisches System«.

Ich sehe das, was du nicht siehst und das ist Herrschaft

Linker Anarchismus heute sieht, im Unterschied zum historischen Anarchismus, den Staat nicht unbedingt als den Hauptfeind. Als Grundübel gilt jetzt die Herrschaft, während Staatlichkeit nur noch ein Ausdruck davon sei. Herrschaft ist in diesem Kontext mehr ein beschreibender, als ein erklärender Begriff. Herrschaft scheint für viele AnarchistInnen paradoxerweise etwas Ewiges zu sein. So schreibt Graswurzel-Revolutionär Pierre Michel: »Im Gegensatz zur Demokratie ist Anarchie deshalb auch kein Zustand, der irgendwann erreicht sein kann, sondern ein permanenter Prozess des Kampfes gegen Herrschaftsstrukturen.«

Ähnlich sieht es auch der Anarchosyndikalist Roman Danyluk: »Befreiung ist sowieso nur als permanenter (weltweiter) Prozess denkbar, die Emanzipation des Menschen wird nie abgeschlossen sein.«

Eine Definition von Herrschaft ist im Rahmen des Anarchismus nicht denkbar, denn wie jede Definition wäre sie ein Anschlag auf das Dogma des absoluten Pluralismus. Die einen können Herrschaft darin sehen, dass Menschen Tiere essen, die anderen gerade darin, dass andere Menschen sie daran zu hindern versuchen. Als prestigeträchtig in der Szene gilt es, möglichst viele Herrschaftsformen zu kennen doch kommen alle paar Jahre neue Begriffe dazu: Ageism, Lookism, Mentalism, Speziesismus. Die Liste ließe sich unendlich fortsetzen. Herrschaft wird zwar oft beschrieben, aber – und darin gleicht sie sich dem anarchistischen Staatsbildern – selten erklärt. Der souveräne Staat, der rassistische Nachbar, die strenge Lehrerin, der schreiende Diskussionsteilnehmer, die Autorin, die Flüchtlinge statt Geflüchtete schreibt, der Kunde an der Wursttheke und das Kapital – sie alle üben Herrschaft aus. Wenn man von Mitteln, Zwecken und Inhalten abstrahiert und schlicht im Auge hat, dass etwas stattfindet, was jemandem nicht gefällt, lässt sich schon zu so einem Urteil kommen. Dass Herrschaft etwas anderes als Hierarchie, Machtgefälle, situative Kräfteverhältnisse ist, dass durchgesetzte Kontrolle über Lebensumständen etwas anderes ist als gegensätzliche Geisteshaltung, all diese Unterschiede verschwimmen dort, wo Herrschaft vom analytischen Begriff zum Schimpfwort wird.

Anarchismus kritisiert Herrschaft an sich und kommt sich gerade darin besonders radikal vor. Allerdings gibt es Herrschaft um der Herrschaft Willen nirgends. Herrschaft hat einen bestimmten Inhalt und nimmt bestimmte historische Formen an. Wenn man von all dem absieht, wird die Kritik völlig unbestimmt. Dann lässt sich lediglich feststellen, dass es eine offensichtliche Diskrepanz der Zwecke zwischen z. B. Regierten und Regierenden gibt, sonst bräuchte es keine Regierung. Doch was genau die Zwecke der beiden Seiten sind, bleibt eine offene Frage. Natürlich kann sich dazu entschieden werden, immer a priori aufseiten der Regierten zu sein (und viele AnarchistInnen haben genau das getan), doch sind dann einige böse Überraschungen vorprogrammiert. Ohne Analyse, warum Menschen wollen, was sie wollen, ist die Parteinahme für »freie Entscheidung« naive und inhaltslose Abstraktion. CrimethInc. bringt mal wieder in brillanter Formulierung diese Einstellung auf den Punkt: »Wir müssen jedem Impuls und jeder Sehnsucht in uns Ausdruck verleihen, wenn wir die Zeit dafür gekommen sehen.«

Jeder Impuls ist schon deswegen gut, weil es ja unser eigener ist.

Triumph einer Abstraktion?

Anarchismus wollte seit seiner Entstehung möglichst konkret sein und brachte viele Schimpftiraden gegen Philosophie, Theorie und Wissenschaft vor. Alles viel zu abstrakt. Am Ende ist die Essenz des Anarchismus die Bejahung völlig abstrakter Prinzipien. Und zwar Prinzipien darüber, wie Entscheidungsformen auszusehen haben. Dezentral, föderalistisch, horizontal, selbst organisiert – das sind keine unbrauchbaren Ansätze, aber über deren Inhalt ist damit nichts gesagt. Anzunehmen, dass die Änderung der Entscheidungsform im Sinne der antirepräsentativen Kritik zu anderen Entscheidungen führen wird, ist eine Spekulation. Agitation für bestimmte Inhalte ist zwar für jede Art der politischen Betätigung unumgänglich, für den Anarchismus aber stets suspekt, selbst wenn die eigene Sache darauf angewiesen ist. »Eine ›Kultur‹ oder ein ›Bewusstsein‹ als Anarchist zu den anderen hinzutragen, ist ein avantgardistisches Konzept – ein ›unbewusster Leninismus‹.«

Der kürzlich verstorbene Veteran des bundesdeutschen Anarchismus, Bernd Kramer, schrieb 1973: »Im Gegensatz zu unzähligen sozialistischen Theorien versucht der Anarchismus ständig, den Verfall der Praxis, d.h. das Verkümmern des selbstbestimmenden [sic!] Handelns aufzuhalten. Versucht aus Idee der Freiheit eine Wirklichkeit zu schaffen, die es den Menschen ermöglicht, die Selbstbefreiung auch in die Praxis umzusetzen.« Die Betonung der Freiwilligkeit mag anarchistisch sympathisch erscheinen, doch dem Streit darüber, welches Handeln als »selbstbestimmend« im anarchistischen Sinne gilt, lässt sich nicht ausweichen. Die Idee, alle sollen doch einfach machen, was sie wollen, erspart sich die Auseinandersetzung damit, dass Wollen immer einen Inhalt hat und so manche Inhalte mit anderen unvereinbar sind. Warum in welcher Gesellschaft welche Interessen miteinander kollidieren – das sind Fragen, die in Reden über Freiheit und Selbstbestimmung in Vergessenheit geraten. Malatesta, der gesagt haben soll, Anarchisten würden nicht »für den Triumph einer Abstraktion kämpfen«, scheint leider Unrecht behalten zu haben. Zum Glück ist der Anarchismus inkonsequent. Das ermöglicht ihm, überhaupt links zu sein. Der konsequente Triumph der Abstraktionen Freiheit, Selbstorganisation und Föderalismus würde Kritik an allem verbieten, wofür sich Leute freiwillig, selbst organisiert und föderal entschieden haben.

Originaltext: Inkl. Fußnoten zu den Zitaten - http://phase-zwei.org/hefte/artikel/den-anarchismus-gibt-es-nicht-499/


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