Elie Reclus - Aus dem Tagebuch eines Kommunarden

Der 18. März 1871

Die Stadt war in Dunkelheit gehüllt und lag im tiefen Schlaf — denn seit Paris nicht mehr eine Stadt des Vergnügens, sondern eine Stadt der Trauer und des Leidens ist, arbeitet man bei Tage und ruht sich die Nacht hindurch aus — als die wenigen Leute auf der Straße bewaffnete Massen sich im Schatten bewegen sahen ... Bayonette blitzten hier und dort, man hörte dann und wann Säbelgerassel, das Rollen von Kanonen, den dumpfen Schritt der Infanterie und auf dem Pflaster den harten Schlag der Pferdehufe, von entfernter Reiterei.

"Was bedeuten diese Bewegungen? Jedenfalls ein Austausch von Besatzungen ... Diese Truppen werden von einer Festung in die andere oder von Paris nach Versailles versetzt."

Ein paar Zuschauer stellten sich diese Fragen und Antworten, schüttelten vielleicht den Kopf und gingen ihrer Wege. In solchen Zeiten wie diesen wundert man sich über nichts mehr.

Die Truppen waren im Begriff, mit ganzer Stärke die strategischen Punkte der Stadt zu besetzen, wohlbekannt dem General Vinoy (1) seit dem Dezember 1851 (2) sowie seinen Offizieren, deren Studien sich seit langem auf die Kriegsführung gegen die Beduinen und besonders gegen die Pariser beschränkt. Die Hauptmacht wurde gegen die Artillerieparks der Nationalgarde geschickt.

Gegen drei Uhr in der Früh erwachten plötzlich die wenigen Posten, welche die Kanonen von Montmartre bewachen und in ihrer langweiligen Einsamkeit auf- und abgehen oder schlummern. Polizisten, als Linieninfanteristen verkleidet, stürzten sich auf sie. Säbel, Bayonette und Knüppel schwingend: "Ergebt euch!" Hinter ihnen ergießt sich die bewaffnete Masse klettert über die Barrikaden, legt Hand an die Kanonen, richtet sich gegen die Posten: "Ergebt euch! Ergebt euch!"

Um vier und fünf Uhr in der Früh war der Schlag an allen Stellen gelungen, alle Kanonen genommen, vier- oder fünfhundert Gefangene abgeführt, alles um den Preis von bloß ein paar Toten und Verwundeten. Auf den Plätzen und Straßenecken schlug man bereits eine  schwulstige Proklamation Thiers (3) an, welche den erstaunten Bürgern kundgab, daß die Gewalt zur Seite des Gesetzes übergegangen sei, die "Gerechtigkeit" den Sieg davongetragen habe, daß die braven Staatsbürger sich beruhigen könnten und alle Bösewichte, Plünderer und Kommunisten zittern mögen.

Aber all dies konnte nicht ohne Lärm vor sich gehen, ohne daß zwei Drittel der Überrumpelten Nationalgardisten in der Dunkelheit durch die engen Nebengassen entkamen, sich durch alle Stadtviertel verbreiteten und das Volk zu den Waffen riefen. Sie wecken alle zerstreuten Posten in der ganzen Stadt; sie schlagen mit den Gewehrkolben gegen Fenster und Türen, gegen die Läden der Geschäfte; sie lassen die Sturmglocke läuten; hier und dort wird Alarm geschlagen, an einzelnen Punkten dumpf, dann mit erneuter Stärke an mehreren anderen: bald bringt der immer steigende Lärm alle Bewohner auf die Füße.

"Was? — Was gibt's? — Brennt es? Die Preußen?" - Ja. es brennt, es sind die Preußen, man mordet die Republik!"

Vinoy hatte schon an Thiers telegraphiert, seine Oberste und Generäle zogen ihre Linien rings um die eroberten Positionen, ließen Kanone nach Kanone auffahren, die man an der Mündung der Hauptstraßen auf die äußeren Boulevards aufstellte. Patrouillen zu Fuß und zu Pferde streiften von Posten zu Posten.

Der Morgen war angebrochen.

Da sah man, wie Ameisen aus ihrem Bau, plötzlich von überall bewaffnete Menschenmengen herbeieilen. Sie überschwemmen die Patrouillen, sie umgeben die Posten der Soldaten, die eingekeilt in die Masse sich nicht mehr rühren können: "Wie! Soldaten. Brüder. Söhne des Volkes, ihr würdet uns hinmorden auf den Befehl euerer schurkischen Generäle?! Wie! Ihr würdet uns niederschießen, nachdem die Preußen uns bombardiert haben?!"

Überall antworteten die Soldaten damit, daß sie die Gewehrkolben in die Höhe heben. Man umarmt sich, man fraternisiert, man ist außer sich vor Freude. Da entreißt ein Leutnant einem seiner Soldaten wütend das Gewehr: "Feiglinge, Verräter! Feuer!" schreit er und schießt in den Haufen. Sofort fällt er selbst, von Kugeln durchbohrt.

General Lecomte will auch die Moral seiner Truppen wieder herstellen: Er kommandiert eine Gewehrsalve auf die Menge, aber seine Soldaten schlagen ihn mit Kolbenstößen nieder, und liefern ihn den Nationalgarden aus, die ihn gefangen fortführen.

Ein Stabsoffizier ruft: "Greift mir dieses Gesindel an!" und er spornt sein Pferd gegen die Gruppen, aber das arme Tier fällt von Bayonettstichen durchbohrt, um nicht wieder aufzustehen und während sein Reiter verschwindet, wird es in hundert Stücke zerhackt, welche von den Hausfrauen weggetragen werden.

General Patures wird verwundet; der General Clement Thomas, in Zivil verkleidet, geht mit sorgenvollem Gesicht von Gruppe Gruppe. Clemens Thomas war einst ein Held der Junischlacht 1848 gewesen — auf der Seite der "Ordnung", wohlverstanden. Er wird erkannt, ergriffen und in dieselbe Gruppe hineingestoßen, wie vordem General Lecomte.

Er blieb nicht lange dort. Die Nachricht von seiner Verhaftung verbreitete sich rasch: "Man wird sie entkommen lassen!"

Der Posten wird von der Menge umringt "Wir sind die Gerechtigkeit des Volkes; wir verurteilen Lecomte und Clemens Thomas, binnen 5 Minuten zu sterben."

Wie gesagt, so getan. Die Unglücklichen wurden in einen Garten geführt, an die Mauer gestellt und sie fielen, der gewesene Oberbefehlshaber der Nationalgarde von zehn Kugeln der Nationalgardisten, der General Lecomte von den Kugeln seiner Soldaten getroffen.

Wie die steigende Flut hatte das Volk die Höhen überschwemmt und alle Hindernisse vor sich weggefegt. Der Strom verbreitet sich jetzt in der Ebene, schlägt an die Tore des Stadthauses, der Ministerien, der öffentlichen Gebäude. Der Eingang war nicht schwierig zu erkämpfen."Die Würdenträger, die hohen Beamten waren seit lange entflohen und hatten ihre Brieftaschen nach Versailles mitgenommen."

Man suchte überall die Regierung — Eine Regierung gab es nirgends.


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Die gefangene Freiheit

Die Freiheit sitzt Im Kerker
Und vor dem Kerkergitter
Da wacht der Pfaffe und mit ihm
Des Staates getreuer Ritter.

Die Freiheit stöhnt und wimmert.
Der Ritter spottet und lacht.
Der Pfaffe mit heiliger Miene
Hat den Kerker nicht aufgemacht.

Das Volk murrt in den Gassen.
Die Freiheit hört es und bricht
Mit den Verzweiflungskräften
Durch Kerkernacht zum Licht!

Die Freiheit frei!
Ein Jubel Zieht durch die ganze Welt.
Da hat selbst Gott vor Wonne
Der Freiheit Schutz gestellt!

Arthur Arnde

Anmerkungen:
Aus "La Commune au jour le jour" (18. März bis 28. Mai 1871). Paris 1908.
1) Militärischer Oberbefehlshaber von Paris.
2) Staatsstreich durch Louis Napoleon.
3) Präsident der Republik, der dieselbe an die Royalisten verraten und sie kürzen wollte.

Aus: "Wohlstand für Alle", 2. Jahrgang, Nr. 6 (1909). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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