„Sport, der die Arbeiter befreit“. Arbeitersportbewegung und Arbeiterolympiaden 1925 - 1937
In der Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg existierte in Europa eine eigenständige Arbeitersportbewegung, die insgesamt drei Arbeiterolympiaden durchführte. In den meisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts populären Sportarten fanden sich Arbeitersportvereine, die in eigenen Verbänden organisiert waren und eigene Meisterschaften austrugen. Von 1913 an schlossen diese sich in der Confédération Sportive Internationale du Travail (CSIT) mit Sitz in Belgien zusammen, die internationale Veranstaltungen organisierte.
Der Ursprung des organisierten Arbeitersports liegt nicht zuletzt in der Ausgrenzung durch bürgerliches Vereinswesen begründet: Arbeitern war zumeist die Mitgliedschaft verwehrt, nicht selten ausdrücklich durch die Satzung. Auch Frauen war zunächst der Beitritt zu bürgerlichen Sportvereinen unmöglich; so sperrte sich etwa Pierre de Coubertin, Begründer der modernen Olympischen Bewegung, vehement gegen die Beteiligung von Frauen an den Spielen. Es blieb gar nichts anderes übrig, als eigene Vereine zu gründen. In Deutschland entstanden erste Arbeiterturnvereine Anfang der 1890er Jahre, die ersten Frauensportriegen um 1895. Mit der zunehmenden Begeisterung für den Fußball nahm auch der Arbeitersport einen Aufschwung, und Mitte 1919 wurde schließlich der Arbeiter-Turn- und Sportbund (ATSB) als Dachverband gegründet.
Als Teil einer selbstbewussten proletarischen Kulturbewegung entwickelte sich eine Einstellung zum Sport, die sich wesentlich von der bürgerlichen unterschied. Im Mittelpunkt standen nicht Leistungsprinzip und Wettkampf, sondern körperliche Bewegung als gesundheitsfördernde Maßnahme sowie das Erleben von Gemeinschaft und Solidarität. „Sport im Interesse der Arbeiterklasse“, so der deutsche Arbeitersportfunktionär Fritz Wildung (1872–1954), „heißt Sport treiben, der die Arbeiter befreit“. Die Einführung der modernen Olympischen Spiele, die unter dem Motto „höher, schneller, stärker“ standen, stieß denn auch bei der Arbeitersportbewegung auf wenig Gegenliebe. Doch während die neuen Olympischen Spiele ein wachsendes öffentliches Interesse fanden, blieben die ersten internationalen Veranstaltungen der Arbeitersportbewegung weitgehend unbeachtet. Dies änderte sich schlagartig, als die CSIT sich dazu durchrang, den Begriff „Olympiade“ zu übernehmen und mit eigenen Inhalten zu belegen.
Die erste Arbeiterolympiade 1925
Die Arbeiterolympiaden sollten keine bloßen Gegenveranstaltungen sein, sondern vielmehr die Eigenständigkeit der Arbeiterbewegung demonstrieren. Sie folgten einem eigenen Rhythmus und liefen nach selbst festgelegten Prinzipien und Regeln ab; allerdings waren sie ebenso in Sommer- und Winterspiele aufgeteilt. Leistungssport und der in einigen Sparten wie etwa dem Boxen in den Anfängen begriffene Profisport wurden abgelehnt, stattdessen der Breitensport propagiert. So waren neben athletischen Wettkämpfen auch „allgemeine Freiübungen“ Teil der Arbeiterolympiaden, die einem breiten Publikum offenstanden.
Die ersten Sommerspiele wurden vom 24. bis 28. Juli 1925 im neugebauten Waldstadion in Frankfurt a.M. abgehalten, die Winterspiele in Schreiberhau im Riesengebirge (das heutige Szklarska Poreba in Polen). Besonders die Spiele in Frankfurt trugen einen deutlich politischen, klassenkämpferischen Charakter. Während der Spiele wurde Frankfurt kurzum zur „Kultur- und Revolutionsstadt“ erklärt, die Spiele selbst standen unter dem Motto „Nie wieder Krieg!“. Am „Tag der Massen“, dem 27. Juli, beteiligten sich 100.000 Menschen an den Freiübungen, ein bis heute unerreichter Rekord für Olympische Spiele. Insgesamt sahen 450.000 ZuschauerInnen die Spiele im Waldstadion, an denen 3.000 Athleten aus zwölf Ländern teilnahmen.
9:0 für Nichtdeutschland
Die zweite Arbeiterolympiade fand vom 19. bis 26. Juli 1931 in Wien im neu gebauten Praterstadion statt. Die mit 4.000 DarstellerInnen aufwendig gestaltete Eröffnungsfeier zeigte die Geschichte der Arbeiterbewegung, die darin gipfelte, dass ein riesiger „Kapitalistenkopf“ zerstört wurde, woraufhin sich das ganze Stadion erhob und die Internationale sang. Wie schon in Frankfurt und Schreiberhau waren auch die Spiele in Wien frei von nationaler Symbolik. Es gab weder Fahnen noch nationale Embleme, es wurden auch keine Nationalhymnen gespielt. Genauso wenig nannte man die teilnehmenden Abordnungen „Nationalmannschaften“. Zu dieser Zeit war es allgemeiner Konsens in der Arbeiterbewegung, sich nicht mit der Nation, sondern der Klasse zu identifizieren. Das Kräftemessen von Nationalmannschaften, wie bei den bürgerlichen Olympiaden üblich, wurde hingegen als Kriegstreiberei verurteilt. Die Arbeiterolympiaden versuchten, die teilnehmenden Sportlerinnen und Sportler als Mitglieder einer gemeinsamen, weltumspannenden Bewegung zu zeigen.
Herausragender Spieler in Wien war ein gewisser Erwin Seeler, Vater des späteren HSV-Stars Uwe Seeler. Beim Finalspiel im Fußball zwischen der deutschen und der ungarischen Auswahl erzielte er sieben von neuen Treffern. Insgesamt nahmen an den Spielen in Wien 25.000 Sportler in 117 Disziplinen teil.
Volksolympiade 1936
Im Vorfeld der anstehenden (bürgerlichen) Olympischen Spiele in Berlin 1936 wurde in vielen Ländern hitzig über einen Boykott diskutiert. Nicht nur befürchteten viele – wie sich zeigen sollte, zu recht –, dass das nationalsozialistische Deutschland die Spiele für Propagandazwecke missbrauchen würde. Vor allem schien es mehr als fraglich, ob diese Spiele dem olympischen Anspruch gerecht werden könnten, alle teilnehmenden SportlerInnen ungeachtet ihrer Hautfarbe und Herkunft gleich zu behandeln. Auch eine freie Berichterstattung schien zweifelhaft. Viele Staaten, allen voran die USA, zeigten sich besorgt und erwogen alternative Möglichkeiten.
Die eigenständige Arbeitersportbewegung war indessen im Niedergang begriffen. Zum einen waren zunehmend talentierte Sportler in den bezahlten Leistungssport übergewechselt (im Boxen gab es bereits ein Profisystem, in anderen Sparten, wie dem Fußball, wurden Spieler indirekt vergütet), so dass sich allmählich eine allgemeine Sportkultur zu entwickeln begann, zum anderen waren die Arbeitersportverbände in Deutschland, Italien und Österreich durch die jeweiligen Diktaturen zerschlagen worden. Vor allem die Auflösung des mitgliederstarken und einflussreichen ATSB schwächte die Bewegung sehr.
Unter dem Vorzeichen der links-bürgerlichen Volksfrontregierungen in Spanien und Frankreich reifte schließlich die Idee einer alternativen Olympiade in Barcelona, die von der CSIT unterstützt wurde; Barcelona deshalb, weil es 1931 bei der Wahl des Internationalen Olympischen Komitees für den Austragungsort der Sommerspiele 1936 Berlin erst in der Stichwahl unterlegen war. Wenn nun das mittlerweile nationalsozialistisch regierte Deutschland als Veranstalter untragbar wurde, wäre Barcelona Austragungsort der Wahl, so die Schlussfolgerung. Die Spanische Republik erklärte folglich auch als erster Staat, nicht an den Spielen in Berlin teilzunehmen und lud die Welt zur „Volksolympiade“ (wohl in Anlehnung an „Volksfront“) vom 22. bis 29. Juli 1936 in Barcelona. Hier hätten auch echte Nationalmannschaften teilnehmen sollen. Streng genommen wäre Barcelona demnach keine Arbeiterolympiade gewesen, sondern nur der alternative Austragungsort der bürgerlichen Olympiade zum boykottierten Berlin. Dank der Unterstützung aus dem Arbeitersport wäre diese jedoch in gewisser Weise eine Verschmelzung beider Olympiaden geworden. Doch dazu kam es nicht: Nachdem sich das NOK der USA am 8. Dezember 1935 mit einer knappen Mehrheit von 58:56 Stimmen für eine Teilnahme in Berlin entschieden hatte, zerschlug sich die Hoffnung auf einen internationalen Boykott, der Barcelona als eigentlichen Austragungsort hätte erscheinen lassen. Aller aufwendigen Werbung für Barcelona zum Trotz folgten die meisten NOK dem US-amerikanischen Vorbild und meldeten für Berlin. Somit blieb Barcelona nur die Rolle als Gegenolympiade.
Aus dem Stadion in die Revolution
Obwohl sich die meisten Länder für Berlin und gegen Barcelona ausgesprochen hatten, war die Begeisterung in Spanien für die Spiele im eigenen Land immens. Die Spiele wurden schließlich um drei Tage vorverlegt, so dass die Spiele in Barcelona sechs Tage vor Beginn der Spiele in Berlin geendet hätten. Die offizielle Begründung lautete, man wolle so der allgemeinen Begeisterung und Ungeduld entgegenkommen. Der Gedanke, dass SportlerInnen, die schon für Berlin gemeldet waren, auf diese Weise es in Erwägung zögen, an beiden Olympiaden teilzunehmen, mag dabei vielleicht auch eine Rolle gespielt haben.
Bei den teilnehmenden Mannschaften handelte es sich zwar nicht um die offiziellen Nationalmannschaften, doch hatten insgesamt 6.000 SportlerInnen aus 22 Ländern ihre Teilnahme angekündigt. Darunter waren auch etliche namhafte Athleten, die sicher auch in Berlin Medaillenchancen gehabt hätten. In den USA, Großbritannien und Frankreich riefen Arbeitersportverbände und Gewerkschaften ihre SportlerInnen auf, statt in Berlin in Barcelona teilzunehmen, den Beschlüssen ihrer jeweiligen NOK zum Trotz, und nicht wenige folgten dem Ruf. Es gelang sogar, jeweils eine deutsche und italienische Auswahl zusammenzustellen. Zum Teil handelte es sich um SportlerInnen im Exil, es gab aber auch solche, die ganz bewusst inkaufnahmen, ihr Heimatland nicht mehr wiedersehen zu können bzw. nach der Rückkehr aus Barcelona in größte Schwierigkeiten zu geraten. Einer ganzen Reihe von deutschen bzw. italienischen AthletInnen wurde die Ausreise verwehrt; andere landeten später in Haft, oder im KZ.
Die Eröffnungsfeier am 19. Juli 1936 in Barcelona bedeutete gleichzeitig das Ende der Spiele. Denn just an diesem Tag putschte das Militär, der Spanische Bürgerkrieg brach aus, und das von der anarchosyndikalistischen CNT dominierte Barcelona wurde von revolutionärem Enthusiasmus ergriffen. Die Spiele konnten unter diesen Umständen nicht mehr ausgetragen werden. Die meisten SportlerInnen reisten ab. Etwa 200 jedoch, vor allem aus Italien und Deutschland, schlossen sich der revolutionären Bewegung an und kämpften in den antifaschistischen Milizen, die innerhalb der folgenden Tage gebildet wurden.
Eine Ersatzveranstaltung für die ausgefallene Volksolympiade fand schließlich 1937 in Antwerpen statt, dieses Mal wieder als „Arbeiterolympiade“. Sie sollte die letzte bleiben.
Matthias Seiffert
Erschienen in: Direkte Aktion 206 – Juli/Aug 2011
Originaltext: http://www.direkteaktion.org/206/arbeitersportbewegung-und-arbeiterolympiaden