Das Leben von Michael Schwab
Buchbinder, im Alter von 34 Jahren zum Tod verurteilt, später zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt und nach 7 Jahren Freiheitsentzug für unschuldig erklärt
Folgen Sie mir, lieber Leser, auf den stets bereiten Schwingen der Vorstellungskraft nach Mitteldeutschland, und verweilen Sie mit mir auf dem Gipfel eines Weinbergs in Franken. In unserer Nähe donnert auf dem Gebirgskamm ein Zug vorbei, und unten im Tal fließen in unzähligen Windungen träge die gelben Wasser des Main. An seinem linke Ufer erstreckt sich eine weite Ebene mit grünen Wiesen, silbrig schimmernden Bächen und dunkelgrünen Eichen-und Buchenwäldern; zahlreiche Gärten, in denen Gemüse aller Art wächst, wogende Weizen-, Hafer- und Gerstenfelder, die von einer leichten Brise bewegt werden. Unser Blick wird nur durch die Gebirgskette des Steigerwaldes begrenzt dessen höchste Erhebung die etwa 800 Fuß hohe Schnamburg ist. Am rechten Ufer, wo wir uns niedergelassen haben, sehen wir Weinberge über Weinberge. Die meisten der Wälder gehören zu Bayern, wovon Franken ein Teil ist, die anderen gehören den Dörfern und Städten, die sich vor uns ausbreiten.
Entlang des Flusses, in südlicher Richtung, gehen die Hügel in eine fruchtbare Ebene über. Hier liegt in einem wunderschönen Tal die kleine Stadt Kitzingen, wo ich am 9. August 1853 geboren wurde. Meine Mutter stammte aus einer gutsituierten Bauernfamilie und hatte, wenn ich mich nicht irre, neun Geschwister. Ich kann mich nur noch daran erinnern, daß sie sehr gutherzig war und grobe und gemeine Worte in einem Maße verabscheute, wie man es bei Menschen ihres Standes nur sehr selten findet. Mein Vater war ein kleiner Geschäftsmann; er behandelte mich immer freundlich und liebevoll.
Der erste schwere Schicksalsschlag traf mich, als meine Mutter starb. Vier Jahre später, 1865, folgte ihr mein Vater. Plötzlich hatten wir kein Zuhause mehr, das Haus und der andere Besitz wurden verkauft, und nachdem alle Schulden bezahlt waren, blieben für uns zwei Kinder noch einige hundert Dollar übrig. Ein Onkel wurde uns zum Vormund bestimmt, und wir mußten in seinem Haus wohnen. Er war ein Christ im besten Sinne des Wortes. Er zeigte niemals seine Gefühle, und ich kann mich nicht erinnern, jemals ein freundliches Wort von ihm gehört zu haben. Aber ich bin fest davon überzeugt, daß ich niemals wieder einen Menschen treffen werde, der so ehrlich und aufrichtig ist, wie er es war. Ich war damals 13 Jahre alt, und man schrieb das Jahr 1866. In diesem Jahr ging ich zur Kommunion. Äußere Umstände, hauptsächlich fehlende finanzielle Mittel, zwangen mich, die Schule zu verlassen und ein Handwerk zu erlernen. Ich entschied mich für das Buchbindergewerbe und begann am 5. August 1869 eine Lehre bei einem Buchbinder in Würzburg.
Die Umstellung fiel mir sehr schwer. Mein Meister gehörte zu den armen Teufeln, die mit allen Mitteln sich durchzuschlagen versuchen und den Kapitalisten zwangsläufig zum Opfer fallen müssen. Im Sommer arbeiteten wir 13 Stunden am Tag, im Winter sogar bis zu 17 Stunden; dazu fast jeden Sonntagmorgen. Der gute Mann sagte mehr als einmal, daß er als Tagelöhner mehr verdienen und auch als solcher arbeiten würde, wenn er nicht das Gefühl hätte, als „Fabrikant“ unabhängiger zu sein. Er starb vier Jahre später; wahrscheinlich hat er sich überarbeitet.
Als Lehrling lebte ich sehr zurückgezogen mit Büchern, Büchern und nichts als Büchern. Wie oft habe ich bis um ein Uhr morgens über meinen geliebten Klassikern gesessen! Sie bedeuteten mir alles, und einen großen Teil meiner Zeit habe ich im Geiste in Griechenland und Italien verbracht. Ich beschäftigte mich auch mit religiösen Büchern und Abhandlungen, aber sie konnten meine Zweifel gegenüber christlichen Ideen nur noch verstärken.
Die Zeit verging sehr schnell, und ich hatte meine Lehre beendet. Es war im März 1872, ich war mit meiner Arbeit beschäftigt, als ein Jurastudent den Laden betrat, eine Zeitung in die Hand nahm und zu mir sagte: »Ich nehme an, auch Sie werden ein Sozialist werden?« Ich blickte ihn an und erwiderte: »Ich weiß nicht. Was ist denn eigentlich ein Sozialist?« Er konnte mir keine genaue Auskunft geben, seiner Meinung nach waren Sozialisten unzufriedene Arbeiter. Er meinte, er wolle nicht behaupten, daß sie Unrecht hätten, aber sie würden für ziemliche Unruhe sorgen. Drei ihrer Führer, Bebel, Liebknecht und Hepner, würden gerade in Leipzig vor Gericht stehen und wären wegen »versuchten Hochverrats« angeklagt, aber die Anklage wäre einfach lächerlich. [1]
Das war das erste Mal, daß ich überhaupt etwas über den Sozialismus hörte. Ich las die Berichte über den Prozeß und erfuhr zu meiner Überraschung, daß Bebel und Liebknecht von ihren politischen Gegnern zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt worden waren. Dieses Ereignis ließ mich von den alten Griechen und Römern zu den modernen Völkern zurückkehren, und ich begann mich nach sozialistischer Literatur umzusehen. Mein Arbeitgeber hatte einen Bekannten, der mit Leib und Seele Sozialist war, und er verschaffte mir sozialistische Schriften. Im selben Jahr gründeten die Buchbindergesellen eine Gewerkschaft. Ich wurde Mitglied und kam hier zum ersten Mal in richtigen Kontakt zu Arbeitern.
Mit Hilfe der Gewerkschaft setzten wir eine Verkürzung der Arbeitszeit von 12 auf 11 Stunden pro Tag und eine geringe Lohnerhöhung durch. 1872 trat ich in die Sozialdemokratische Arbeiterpartei ein. Bis zum Frühjahr 1874, als ich Würzburg verließ, ereignete sich nichts Bedeutsames.
Vom Mittelalter bis in die jüngste Vergangenheit hinein war es üblich, daß ein junger Kaufmann sich in verschiedenen Städten aufhielt, um nützliche Kenntnisse zu erwerben. In früheren Zeiten mußte sich jeder Handwerksgeselle auf die Wanderschaft machen. Vor etwa 30 oder 40 Jahren wurde dieses Gesetz abgeschafft; die Sitte besteht jedoch noch immer. Statt des Gesetzes zwingt heutzutage die reine Not die Arbeiter dazu, von Stadt zu Stadt zu wandern, und es ist keineswegs immer nur der junge Geselle, der die staubigen Straßen entlangmarschiert, sondern sehr oft auch das Familienoberhaupt oder der grauhaarige Mann, dem niemand Arbeit geben will, und der oft in bitterer Kälte auf der Straße umkommt. Mit diesen Leuten kam ich nun zusammen. Von Würzburg ging ich für zwei Monate nach München, anschließend nach Innsbruck. Damals war ich jung und ein ziemlicher Schwärmer. Sie können sich sicherlich vorstellen, wie sehr mich die mit ewigem Schnee bedeckten Berge der Hochalpen beeindruckten! Ich durchwanderte Tirol, und nach einem gefahrvollen Weg über den tiefverschneiten Arlbergpaß erreichte ich das Tal, in dem die Stadt Bludenz liegt. Von dort nahm ich den Zug nach St. Gallen und Zürich. Hier fand ich eine Anstellung und ließ mich deshalb eine Zeitlang in dieser Stadt nieder.
Die Schweiz ist das Gelobte Land für jeden freiheitsliebenden Deutschen, Zürich das Mekka für jeden deutschen Republikaner. Und wirklich, wenn es eine ideale Republik gibt, dann ist es die Schweiz. Was ist die vielgepriesene Verfassung der Vereinigten Staaten verglichen mit der Verfassung dieser kleinen Republik! Die Schweiz bietet alle Vorteile, die eine demokratische Republik nur bieten kann - und trotzdem herrschen in diesem Musterland der politischen Freiheit Not, Elend und Hunger. Die Landwirte, die Gründer dieser freiheitlichen Institutionen, machen Bankrott, ihre Söhne und Töchter müssen ihre Arbeitskraft an Fabrikbesitzer verkaufen, und der einst unabhängige Sohn der Alpen muß von seinen Bergen herabsteigen, den Hof, auf dem Generationen seiner Vorfahren gelebt haben, verlassen - und aus einem freien Bergbewohner wird ein abhängiger Fabriksklave.
Nachdem ich einige Monate in Zürich gearbeitet hatte, ging ich nach Bern, wo ich zum ersten Mal in meinem Leben mit einem jener unglücklichen Mädchen zusammenarbeitete, die gezwungen sind, ihren geringen Lohn durch Prostitution aufzubessern. Rosa - so hieß sie - war schon nicht mehr zu retten, als ich sie zum ersten Mal sah. Der Ausdruck ihres Gesichtes war traurig, ihre Augen eingesunken und ihre todbleichen Wangen zeigten schon jene unheilvollen bläulichen Flecke, die im fortgeschrittenen Stadium der Schwindsucht auftreten. Diese Frau mußte 11 bis 12 Stunden am Tag arbeiten und anschließend ihr Geld noch auf der Straße verdienen, um sich und ihre Mutter vor dem Hungertod bewahren! Und diese Schicksale sind in allen Industriezentren Europas und Amerikas durchaus keine Seltenheit! Welch furchtbare Anklage gegen unsere christliche Zivilisation! Später habe ich noch entsetzlichere Verbrechen diese Art ansehen müssen.
In dieser Zeit begann ich, das kapitalistische Gesellschaftssystem zu hassen. 1875 verließ ich die Schweiz. Es war Frühling. Ich war jung und hatte wenig Lust, in ein und derselben Stadt zu versauern und einzurosten. Ich wollte die blühende Landschaft genießen, die Sitten der Bevölkerung studieren, die alten Städte am Rhein mit ihren prächtigen Kathedralen bewundern und den vielgepriesenen Rheinwein probieren. Ich hatte ausreichend Geld bei mir, um meine bescheidene Bedürfnisse zu befriedigen.
Zu dieser Zeit trug ich eine Menge sozialistischer Flugschriften mit mir, und meine Begeisterung für den Sozialismus war groß. Ich führte mit jedem Reisenden, der mir einiger maßen verständig erschien, Diskussionen über den Sozialismus. Ich machte keinen Unterschied, ob er Handwerker oder Bauer war. Ich darf behaupten, daß es mir gelungen ist, viele zu überzeugen. Es gab eine Menge Sozialisten, die auf diese Weise Propaganda betrieben, und oft genug wurde ich von anderen herumziehenden Arbeitern in dieser guten Sache unterstützt. In den Städten gingen wir Agitatoren in Druckereien der sozialistischen Zeitungen, ließen uns einig alte Nummern geben und verteilten sie in den Dörfern durch die wir kamen. Diese Art der Agitation wird noch heute in Deutschland betrieben.
In Meerane, einem der Weberei-Zentren, blieb ich längere Zeit und arbeitete in meinem Beruf. Dieser Ort eignet sich vorzüglich, um soziale Studien zu betreiben, denn hier stand das kapitalistische System in seiner vollen Blüte. Ich fand heraus, daß das durchschnittliche Familieneinkommen - wie übrigens in allen deutschen Städten der Webindustrie - bei sechs bis acht Mark pro Woche lag! Natürlich mußten die Frauen und Kinder mitarbeiten, damit die Familie »über die Runden kam«.
Lohnsklaverei ist schlimmer als Leibeigenschaft. Das kapitalistische System ist wunderbar harmonisch gestaltet. Es zwingt die Frauen, in der Hölle der Fabriken zu schuften, so daß sie sich nicht mehr um die Hausarbeit, die Küche und die Kinder kümmern können. Und weiter! Die Räume sind so spärlich möbliert, daß in einigen Fällen sogar Betten Luxus sind. Die Löhne sind so niedrig, daß es sich nicht zu kochen lohnt; außerdem haben sie auch gar keine Zeit, sich ihre Mahlzeiten selbst zuzubereiten. Schließlich wachsen die Kinder unter der freundlichen Obhut eines Vorarbeiters auf, der sie zum Ruhm unserer Zivilisation zur Arbeit antreibt. Gottseidank haben wir die finsteren Zeiten der Barbarei hinter uns gelassen!
Es mag vielleicht einige Leser interessieren, wie diese Leute leben. Am Morgen gibt es eine Tasse sehr dünnen Kaffee mit einer Schnitte Schwarzbrot, gegen 10 Uhr eine Schnitte Brot mit etwas Fett, mittags Kartoffeln oder Gemüse mit, in den meisten Fällen aber ohne, Suppenfleisch, gegen 16 Uhr Schwarzbrot mit Schmalz und am Abend wieder einen sehr dünnen Kaffee, Brot und Fett. Das ist schon eine sehr gute Speisekarte; nicht immer kommen diese Menschen in den Genuß eines so üppigen Mahles. Es tut einem Außenstehenden in der Seele weh, wenn er beobachten muß, daß der Vater oder Bruder, »der so schwer arbeiten muß«, größere und bessere Bissen bekommt als die Kinder. Die Mutter gibt sich immer mit den kleinsten Portionen zufrieden. Die Häuser sind überfüllt; ein Raum dient gleichzeitig als Küche, Wohn- und Schlafzimmer, und jedes weitere Zimmer ist vollgestopft mit Untermietern.
Meerane ist eine Hochburg der Sozialisten, und ich gehörte dort einer sozialistischen Gesellschaft an und gründete selbst eine, die den Namen der »Rote Club« trug. Dieser Club hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Redner auszubilden. Als der Sommer näher rückte, machte ich eine große Reise durch Thüringen und Norddeutschland. Unter anderem war ich für kurze Zeit in Berlin. Dann ging ich nach Hamburg und nahm in einem Vorort eine Arbeit an. Der Vorort heißt Wandsbek und ist überwiegend sozialistisch. Während ich dort war, fand die Wahl eines Abgeordneten für das deutsche Parlament statt. Das war 1876. Die Sozialdemokraten waren gespalten. Der beliebteste und bekannteste Führer in der Stadt fiel ab von den Sozialisten und stellte seinerseits einen Kandidaten auf. Die Kapitalisten jubelten. Aber die Disziplin unter den Sozialisten war so hervorragend, daß der abgefallene Kandidat nur acht Stimmen erhielt, während der eigentliche Kandidat der Sozialisten 800 Stimmen auf sich vereinigen konnte. In den Bezirken, wo die Sozialisten stark sind, herrscht während der Zeit der Wahl große Betriebsamkeit. Männer, Frauen und Kinder beteiligen sich an der Wahlagitation und besuchen die Versammlungen. Es wird viel geredet und viel gesungen. An Sonntagen fahren Arbeiter oder kleine Geschäftsleute, unter denen es eine ganze Menge Sozialisten gibt, in Gruppen zu dreißig oder vierzig Mann in die Dörfer, um die Bauern und Landarbeiter wachzurütteln.
Als der Sommer kam, machte ich mich wieder auf die Reise. Ich wollte nach Wien. Ich brauchte für diesen Weg etwa vier Monate, denn ich war nicht in Eile und nahm nicht den direkten Weg. Nachdem ich einige Wochen gezwungenermaßen untätig herumgesessen hatte, fand ich eine Anstellung in dem prächtigen Geschäft des Herrn Gockel. Herr Gockel stammte aus Tirol, und soweit sich seine geschäftlichen Interessen nicht störend auf seinen Glauben auswirkten, war er auch ein guter Katholik. Er war ein Paradestück für unsere kapitalistischen Zeitungsschreiber: ein Mann, der mit nichts angefangen hatte und zu Wohlstand gekommen war. Er arbeitete pausenlos; in der Hauptsache kümmerte er sich um die Buchhaltung. Bei seinen Bekannten galt er als liebenswürdiger Gesellschafter. Wenn er mit einem seiner Arbeiter sprach, sagte er immer so etwas wie: »Herr H., seien Sie doch bitte so freundlich...« Aber sein Hauptziel war es, zu arbeiten und andere für sich arbeiten zu lassen und damit sein Geld zu verdienen. Um es in der Sprache von Richter Gary auszudrücken: »Gockel liebte sein Heim, sein Vaterland und seinen Besitz.«
Er beschäftigte rund 15 Männer, 20 Frauen und einen Lehrling. Dieser Lehrling wurde furchtbar behandelt. Nicht genug, daß der Meister ihn wegen jedes Fehlers mit einem Lederriemen prügelte, er forderte auch alle anderen Arbeiter dazu auf, den Jungen in der gleichen Weise zu mißhandeln. Die Arbeiter, das muß zu ihren Gunsten gesagt werden, weigerten sich jedoch, so etwas zu tun, obwohl ihnen die Gesetze in dieser Hinsicht ausdrücklich gestatteten, sich wie wilde Tiere zu benehmen. Pro Tag waren 10 Arbeitsstunden festgesetzt, aber wir mußten immer einige Überstunden machen. Ja, ich erinnere mich, daß in einer Woche, den Sonntag miteingeschlossen, 120 Stunden gearbeitet wurde. In dieser denkwürdigen Woche arbeiteten wir dreimal 36 Stunden ohne Unterbrechung; und der Kapitalist nahm von dieser Regelung danach nur deshalb Abstand, weil sie sich als nicht durchführbar erwies. Einige seiner Arbeiter brachen zusammen und mußten ins Krankenhaus gebracht werden, die anderen waren in der kommenden Woche so übermüdet, daß sie beim besten Willen nicht so viel wie sonst arbeiten konnten. Das System zahlte sich nicht aus, und so erfand er ein anderes.
Der neue Plan sah folgendermaßen aus: Arbeitstag 10 Stunden, dazu 2 bis 6 Überstunden, an Sonntagen jeweils 8 Überstunden. Es gab fast nur Akkordarbeit, die so eingeteilt war, daß der Arbeiter selber zum Ausbeuter wurde. Einem bestimmten Arbeiter wurde ein bestimmtes Quantum Arbeit und drei oder vier andere Männer und Frauen zugeteilt, die für ihn arbeiten mußten. Indem er die anderen Arbeiter schamlos ausbeutete, verdiente dieser Arbeiter meistens recht gut. Natürlich trieb er sie furchtbar zur Arbeitshetze an. Ein Mädchen verdiente bei dieser Arbeit etwa 5 Gulden die Woche, ein Arbeiter 8 bis 12 und der Antreiber 15 bis 20. Hierbei muß man bedenken, daß Kleidung und Lebensmittel in Wien etwa um die Hälfte teurer sind als in Chicago.
Im Sommer verließ ich Wien, um zum letzten Mal eine Reise zu machen und mich anschließend irgendwo niederzulassen. Was ich von der Welt gesehen hatte, hatte mich traurig gestimmt, und ich glaube, ich faßte diesen Plan vor allem deshalb, um diesen entsetzlichen Dingen zu entfliehen. Es war ein wunderschöner Morgen, als die »Weser«, auf der ich die Überfahrt gemacht hatte, in New York vor Anker ging. Wie jeder weiß, bietet der Hafen von New York einen grandiosen Anblick, und es ist ebenso bekannt, daß diese Stadt so schmutzig ist, wie man es sich nicht schlimmer vorstellen kann! Ich brauche mich wohl nicht näher über die ersten Eindrücke, die ich von dieser Stadt hatte, auszulassen.
Ich blieb nicht lange in New York, sondern machte mich drei Tage nach meiner Ankunft auf den Weg nach Chicago. In Deutschland war ich Mitglied meiner Gewerkschaft und der Sozialdemokratischen Partei gewesen. In Chicago blieb ich allen Organisationen fern und lebte sehr zurückgezogen. Ich widmete mich mit größtem Eifer dem Studium der englischen Sprache. Als meine Kenntnisse soweit gediehen waren, daß ich englischsprachige Bücher verstehen konnte, studierte ich die Geschichte der Vereinigten Staaten. Danach beschäftigte ich mich mit Geographie und Wirtschaftsstatistiken. Natürlich habe ich diese Studien in den sieben Jahren, die ich in Amerika war, fortgesetzt. Nachdem ich das erste Jahr so gelebt hatte und mich in mehreren Betrieben mit den Arbeitsmethoden der Buchbinderei in diesem Land vertraut gemacht hatte, ging ich nach Milwaukee. Auch dort lebte ich ein paar Monate ziemlich zurückgezogen, bis ich in die »Socialistic Labor Party« eintrat. Die Grundsätze dieser Partei unterschieden sich nicht wesentlich von denen der deutschen Sozialdemokraten. Und nun änderte ich - zum Erstaunen der Dame, bei der ich ein Zimmer bewohnte - meinen Lebenswandel völlig. Anstatt mich weiterhin zurückhaltend und verbindlich zu verhalten, begann ich alle zwölf Kostgänger des Hauses in Diskussionen über den Sozialismus zu verwickeln. Einige von den attackierten Arbeitern wurden ärgerlich, andere meinten, sie wüßten sehr gut darüber Bescheid, aber ihre Begeisterung für diese Sache habe sich gelegt. Ich wußte jedoch, daß sich niemand auf die Dauer einer richtigen Erkenntnis erfolgreich widersetzen kann; und ich kam immer wieder auf dieses Thema zu sprechen, bis schließlich sechs von den zwölfen in die Partei eintraten und die übrigen mit der Bewegung sympathisierten und immer bereit waren, sie zu unterstützen.
Von Milwaukee aus ging ich nach Westen und kam bis Durango in Colorado. Ich brauchte zwei Monate für diesen Weg, da ich zeitweise auf einigen Farmen als Knecht arbeitete, um etwas Geld zu verdienen. Als ich in Durango keine geeignete Anstellung finden konnte, arbeitete ich einige Wochen als Fuhrmann. Ich wurde krank. Ich ging nach Chicago zurück und arbeitete dort 9 Monate in meinem Beruf. Da die Arbeit knapp wurde, verlor ich meine Anstellung. Als meine letzten Geldreserven aufgebraucht waren, sorgte ein Bekannter dafür, daß der Herausgeber der »Arbeiter-Zeitung« mich als Übersetzer für den Roman »Wanda Kryloff« beschäftigte. Kurze Zeit danach erhielt ich eine Dauerstellung als Reporter und dann als stellvertretender Herausgeber der Zeitung. Diese Position hatte ich bis zu meiner Verhaftung inne.
Im Winter 1882/83 beauftragte eine Bürgervereinigung einen Ausschuß, die Wohnbedingungen der arbeitenden Bevölkerung dieser Stadt zu untersuchen. Der Ausschuß wurde [bei seinen Besichtigungen] von einem Schwarm von Reportern, unter ihnen Paul Grottkau [2], begleitet. Er ging als erster mit dem Ausschuß hinaus. Grottkau wurde von Leuten, die ihn kannten, als Zyniker bezeichnet. Als er zurückkam, war er kreidebleich, vollkommen aufgelöst und erklärte, daß er kein zweites Mal mitgehen würde. Er hatte ziemlich viel von Berlin und dem Elend dort gesehen, aber so schlimme Zustände herrschten dort nicht einmal in den ärmsten Bezirken.
Der amtierende Herausgeber der »Arbeiter-Zeitung« schickte mich mit der Kommission hinaus, und auch ich war entsetzt, ging jedoch jedesmal mit. Wir fanden einzelne Räume vor, in denen drei oder vier Familien zusammen wohnten. Wir stießen auf Unterkünfte, die in so schlechtem Zustand waren, daß nur einige von uns den zweiten Stock betreten konnten, da sonst die Decke eingestürzt wäre. Wir sahen Zimmer, in die nur durch die Mauerritzen etwas Licht fiel; wo Menschen auf verfaultem Stroh und Lumpen schliefen; wo kaputte Tische und Stühle Luxusgegenstände waren; wo im Ofen kein Feuer brannte, obwohl es draußen bitterkalt war und drei oder vier Familienmitglieder schon krank waren. Wir entdeckten Wasserklosetts, die bis zum Rand voller Kot waren. Die Luft in diesen „Wohnräumen der Gleichen und Freien“ war stickig, und es herrschte ein übler Gestank. Die Eltern sahen halbverhungert aus, und die Kinder - falls noch vorhanden - waren auf dem Weg zur ewigen Seligkeit. Einige dieser Familien lebten von Gemüse, das sie aus den Mülltonnen geholt hatten; andere kauften oder erbettelten sich Fleischreste, um daraus Würste zu machen. So leben in Chicago Tausende von Menschen.
Als ich im Herbst 1881 nach Chicago zurückgekehrt war, hatten sich alle sozialistischen Organisationen bis zur Auflösung zerstritten, obwohl es Tausende von Sozialisten in der Stadt gab und ihr Organ, die »Arbeiter-Zeitung« an Einfluß gewonnen hatte. Da waren die radikalen Sozialisten, ihre Organisation war die sogenannte »German Section«; dann gab es die sogenannte »English Section«, die noch immer der Sozialistischen Arbeiterpartei angehörte, und schließlich die sogenannten »Socialists of the Northside« [3], die aus Mitgliedern beider Fraktionen bestanden. Ich trat der deutschen Sektion und den Sozialisten der nördlichen Stadtteile. bei. Ich sah sofort, daß die Organisation der deutschen Sektion handlungsunfähig war. Auf ihren Versammlungen waren fast nur Funktionäre. Diese verknöcherte Organisation zu reformieren, kam nicht in Betracht. Die einzige Möglichkeit, sie aus der Welt zu schaffen, war daher, sie immer mehr zu schwächen und letzten Endes zu ersticken.
Im »Northside Club« lagen die Dinge anders. Auch hier gab es Mängel, aber es waren die typischen Mängel, wie sie immer in der ersten Zeit einer Organisation auftreten. Vom Northside Club ging nun eine Bewegung aus, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, eine völlig neue Organisation aufzubauen. Das Zentralkomitee, das sich gebildet hatte, nachdem die Einigungsversuche von Seiten der beiden anderen Fraktionen erfolglos geblieben waren, wurde reorganisiert. Auf einem Treffen wurde auf meinen Vorschlag hin beschlossen, überall in der Stadt Vereinigungen in der Art des Northside Clubs zu gründen. Es war eine harte Arbeit, aber wir nahmen sie in Angriff.
Es hat Versammlungen gegeben, auf denen niemand außer mir und dem Redner waren. Aber wir wußten, daß wir auf dem richtigen Weg waren; und wir hielten vor fünf oder sechs Anwesenden vielleicht sorgfältiger ausgearbeitete Reden als später vor mehreren tausend. Langsam gewannen wir Boden unter den Füßen und begannen damit, Satzungen zu verabschieden. Ich entwarf das der Satzung zugrunde liegende Konzept. Es war sehr einfach. Unser Ziel war die Verbreitung des Kommunismus, wie er im Kommunistischen Manifest von Marx/Engels dargestellt ist. Jeder Club war, soweit es um seine eigenen Belange ging, unabhängig. Jeweils zwanzig Mitglieder hatten das Recht, einen Delegierten an das Zentralkomitee zu entsenden. Jeder Club war berechtigt, für die Regelung seiner internen Aufgaben eigene Satzungen zu schaffen; in jedem Fall durfte es in einem Club nur eine ganz bestimmte Anzahl von Sekretären geben. Unsere Organisation zeichnete sich dadurch aus, daß kein Sekretär oder Redner für seine Tätigkeit bezahlt wurde. Beschlüsse des Zentralkomitees waren nur für die Clubs bindend, die sie mehrheitlich gebilligt hatten. Jeder Sekretär oder Redner konnte abgesetzt werden, sobald die Mitglieder es für angebracht hielten, und es war nicht erforderlich, einen solchen Schritt zu begründen.
Bis zum Herbst 1883 hatten wir in Chicago über 20 Clubs gegründet; die meisten entwickelten sich recht vielversprechend. Zu jener Zeit hielt der radikale Flügel der Sozialisten einen Kongreß in Pittsburgh ab. Auch die Chicagoer Sozialisten hatten einige Vertreter dorthin gesandt. Auf diesem Kongreß wurde die »International Working People's Association« gegründet. Für Chicago ergab sich daraus, daß die Clubs sich nunmehr als »Gruppen« bezeichneten und das Zentralkomitee in ein Generalkomitee umbenannt wurde. Es nahm das Pittsburgher Manifest an.
Beim Schreiben meiner Lebensgeschichte bin ich sehr oft abgeschweift und habe versucht, die Lebensbedingungen der Menschen zu schildern, denen ich begegnet bin. Diese Beobachtungen enthalten nichts grundsätzlich Neues, Tausende haben sicherlich Ähnliches erlebt, ohne davon berührt zu werden. Entweder meinen sie, diese Bedingungen seien natürlich und selbstverständlich, oder sie machen sich einfach nicht die Mühe, darüber nachzudenken. Bei mir war das anders. Meine Umwelt ließ mich den Glauben an die christliche Religion verlieren und machte mich zum Anarchisten. Und deshalb haben die äußeren Einflüsse in der Geschichte meines Lebens eine große Bedeutung. Wenn ich das Leben nicht so gesehen hätte, wie es wirklich ist, hätte ich auch niemals den kommenden Untergang dieses mörderischen Systems voraussehen können und würde vielleicht zusammen mit den gebildeten und ungebildeten Schurken schreien: »Hängt die Anarchisten!«, anstatt wie jetzt im Schatten des Galgens zu sitzen.
Ich habe entsetzliche Mißhandlungen mit eigenen Augen gesehen; ich habe gesehen, wie Mädchen zu Prostituierten wurden, bevor sie wußten, wie ihnen geschah; ich habe gesehen, wie Arbeiter langsam aber stetig in den Tod gehetzt wurden; ich habe Korruption, Elend, Verbrechen, Armut, Schmutz, Unwissenheit, Brutalität und Hunger gesehen, und ich habe begriffen, daß all diese Erscheinungen nichts anderes als die unvermeidlichen Auswüchse des kapitalistischen Systems sind, das wenigen Menschen das Recht zugesteht, alle Produktionsmittel und allen Grund und Boden zu besitzen und die Masse des Volkes verelenden läßt. So wurde aus mir ein »Querulant«. Für einen ehrlichen und aufrechten Menschen gibt es nur einen Weg - und schon bald nannte man mich einen Anarchisten.
Fußnoten:
[1] In diesem ersten deutschen Schauprozeß gegen Sozialisten, bekanntgeworden als »Leipziger Hochverratsprozeß« , wurden die beiden Führer der deutschen Sozialdemokratie als „vaterlandslose Gesellen“ gebrandmarkt und verurteilt. Übrigens ist der dritte Angeklagte, Adolph Hepner, in den achtziger Jahren in die Vereinigten Staaten ausgewandert.
[2] Paul Grottkau, von Beruf Maurer und Redakteur der »Berliner Freien Presse«, entging 1878 seiner Verhaftung durch Auswanderung in die USA. Er nahm an der Gründungsversammlung der I. W. P. A., der »International Working People's Association«, 1883 in Pittsburgh teil, bevor er sich 1884 mit Spies und der »Arbeiter-Zeitung« überwarf und sich den Sozialdemokraten anschloß. Er starb 1898 in den USA.
[3] Einer der Clubs, aus denen 1883 die »Internationale Arbeiterassoziation« hervorging.
Originaltext: Karasek, Horst: Haymartket! 1886 – Die deutschen Anarchisten von Chicago. Reden und Lebensläufe. Wagenbachs Taschenbücherei 11, Verlag Klaus Wagenbach 1975. Digitalisiert von www.anarchismus.at