F. F. Ridley - Syndikalismus, Streik und "Revolutionäre Aktion" in Frankreich

"Der früher nur wirtschaftliche Streik ist revolutionär geworden - die Arbeiter haben eine Kriegswaffe aus ihm gemacht." 

"Die Gewerkschaft ist eine militante Organisation des Klassenkampfes, der Streik ihre selbstverständliche Waffe."

So schrieben zwei französische Historiker der Arbeiterbewegung - der eine wohlwollend, der andere ablehnend - im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts, als der revolutionäre Syndikalismus die französischen Gewerkschaften zu beherrschen schien.

Wie immer auch die Streiks in jener Periode tatsächlich abgelaufen sein mögen, von den militanten Syndikalisten wurden sie jedenfalls so dargestellt, und Regierung, Presse und Bürgertum neigten dazu, diese Auffassung zu teilen. Ein amerikanischer Historiker schrieb über die große Streikbewegung von 1906 einige Jahre später: "Am 1. Mai befand sich Paris in einem Belagerungszustand. Clemenceau hatte zahlreiche Truppen in der Hauptstadt zusammengezogen. Seit den Tagen der Kommune hatte Paris nicht so viele Soldaten mehr gesehen. Das Bürgertum war von Panik erfaßt. Viele verließen Paris und überquerten den Ärmelkanal. Die Zurückgebliebenen sprachen von der bevorstehenden Revolution, die von den Gewerkschaften gegen die Gesellschaft entfesselt werden würde." 

Diese Stimmung herrschte erneut während der Streiks im öffentlichen Dienst im Jahre 1909. Der Spectator kommentierte damals: "Kürzlich aus Paris zurückgekehrte Engländer berichten, daß ehrbare Franzosen über die Häufigkeit und Bösartigkeit der Arbeiterunruhen erschreckt sind, daß sie den Kopf über dieses Zeichen der Zeit schütteln und wieder von einer Revolution sprechen. Wir neigen jedoch zu der Auffassung, daß es keine Revolution geben wird. Paris wäre nicht Paris, wenn es nicht an der Schwelle einer Revolution stünde; so ist es schon immer gewesen, und wir sind zu der Erkenntnis gekommen, daß die Dinge in der klaren Pariser Atmosphäre eines wendigen und lebhaften Geistes sehr viel näher erscheinen, als sie es in Wirklichkeit sind."

Die Zeitschrift hatte natürlich recht. Der revolutionäre Syndikalismus machte keine Revolution, im Gegenteil, heute sieht es so aus, als ob die Syndikalisten nicht einmal die französischen Arbeiter zu einer über das übliche Maß hinausgehenden Aktivität üblicher Streiks animierten. In einigen neueren Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung wird betont, daß sich Anzahl und Art der damaligen Arbeitskämpfe nicht wesentlich von denen anderer Perioden oder anderer Länder unterscheiden. Es bleibt aber offen, ob nicht ein gewisser Teil der Arbeiter die Aktionen möglicherweise in einem revolutionären Licht gesehen hat.

Die revolutionären Syndikalisten predigten die "direkte Aktion" als Mittel zur Erreichung ihrer Ziele, einerlei, ob es sich hierbei um die unmittelbare Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen oder um die endgültige Emanzipation des Proletariats handelte. Sie lehnten die verfassungsmäßigen Mittel und Wege der Demokratie ab: Parteien, Wahlen, Parlament, Gesetzgebung. Auch ging es ihnen nicht darum, innerhalb des Systems als pressure group zu handeln und über den Weg von Verhandlungen und Kompromissen eine alternative demokratische Politik zu verfolgen. Ihr kurzfristiges Ziel war, den Arbeitgebern und der Regierung durch den erklärten "Krieg" Zugeständnisse abzutrotzen und wichtiger noch, das kapitalistische System und den Staat durch diesen "Krieg" zu beseitigen. Der "Krieg" der Arbeiter ist der Klassenkampf, der Streik hierbei die wichtigste Waffe. Gemäß der syndikalistischen Theorie war der Streik mithin eine Art permanenter Revolution. Im vorliegenden Beitrag wird daher der Streik in diesem Sinne als außerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung und gegen sie gerichtete direkte Aktionsform untersucht werden.

Die Interpretation des Streiks als Form direkter revolutionärer Aktion wird erst verständlich, wenn man sie zur syndikalistischen Theorie in Beziehung setzt. Aber was ist syndikalistische Theorie? Der Syndikalismus war mehr eine Bewegung als eine Philosophie, gewissermaßen eine Richtung innerhalb der französischen Arbeiterbewegung. In einer Hinsicht folgte er den Prinzipien, zu denen sich die Confédération Générale du Travail (CGT) im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts bekannt hatte, andererseits der Praxis der militanten Arbeiter. Wie weitverbreitet der Glaube an diese Prinzipien wirklich und wie spezifisch die Praxis ihrer Anhänger war, ist eine andere Frage. Jedenfalls übernahm die CGT nie offiziell eine als "revolutionärer Syndikalismus" bezeichnete Theorie. Ebensowenig läßt sich das Konzept auf eine identifizierbare Gruppe politischer Theoretiker zurückführen. Zwar gab es unter den militanten Anführern eine Reihe von "Theoretikern", aber ihre Ideen finden sich nur verstreut in Zeitungen, Flugschriften und Reden. Autorisierte, übereinstimmende Schriftstücke des Syndikalismus gibt es nicht. Zu verschiedenen Zeiten übernahm die CGT zwar gewisse Prinzipien, aber die bezogen sich manchmal kaum aufeinander und fanden in der Praxis oft nur geringe Unterstützung. Die ihnen zugeschriebene Bedeutung (vor allem, was die Doktrin des Generalstreiks betrifft) wurde mit der Zeit ebenfalls abgewandelt. Meiner Meinung nach läßt sich der Syndikalismus am besten als einen besonderen Charakter verstehen, der sich in Gefühlen niederschlägt und in Aktionen seinen Ausdruck findet. Vorläufig geht es uns jedoch noch um die Theorie. Diese gleicht gewissermaßen einem Flickenteppich, dem mal hier, mal dort ein Stück angefügt wird und der allmählich eine ungeplante Form annimmt und daher auch kein logisches Muster ergibt. Zum Zwecke des Verständnisses muß die Logik bis zu einem gewissen Grade in den Syndikalismus nachträglich hineingedacht oder ihm auferlegt werden. Aus diesem Grund muß die Analyse des Syndikalismus in einem Bereich zwischen Geschichte und politischer Theorie angesiedelt werden. Hieraus erklärt sich teilweise die Unzulänglichkeit vieler Untersuchungen über dieses Thema. Der Mangel an Unterlagen über das, was die einfachen Syndikalisten tatsächlich dachten und taten, hat in der Forschung gelegentlich dazu geführt, die Bewegung nach den Veröffentlichungen ihrer Wortführer zu interpretieren. Wenn dies auch einer verläßlichen Geschichtsschreibung über die Arbeiterbewegung kaum dienlich sein kann, erscheint es für den Historiker der politischen Theorie auf den ersten Blick nicht gänzlich ungerechtfertigt. Zur Rekonstruktion einer Theorie des Syndikalismus können durchaus Gewerkschaftserklärungen und Artikel von Gewerkschaftsführern herangezogen werden, ohne daß sich der Politikwissenschaftler allzu große Sorgen über den repräsentativen Charakter seines Quellenmaterials zu machen braucht.

Im Falle des Syndikalismus stellt sich jedoch auch für den Politikwissenschaftler das schwierige Problem der Beziehung zwischen Theorie und Praxis. Von seinen Vertretern ist der Syndikalismus oft als "Philosophie der Tat" bezeichnet worden. Hiermit war jedoch mehr als nur eine Befürchtung der Aktion gemeint, so zentrale Bedeutung diese auch haben mochte. Sie benützten diese Bezeichnung, um das Wesen des Syndikalismus, wenn auch nicht eindeutig, zu beschreiben. Die Spontaneität des Syndikalismus wurde von seinen Exponenten oft betont: Es war keine Frage von "erst denken, dann handeln", sondern von "sofort handeln". Manchmal bedeutete dies lediglich, daß der Syndikalismus als interpretation clairvoyante von intuitiv zu erfolgenden Aktionen der Arbeiterklasse gelten sollte. Die Prinzipien wurden aus den vom Leben erteilten Lehren abgeleitet und waren nicht die Ergebnisse von Spekulationen im Elfenbeinturm. Sie konzentrierten sich auf die Strategie von Aktionen und nicht auf die Lösung theoretischer Probleme. Manchmal ging man auch noch weiter und erklärte, Syndikalismus sei die Aktion selbst: das, was den Arbeiter ausmachte, Taten und nicht Worte. Syndikalistische Arbeiter, so hieß es, brauchten sich gar nicht bewußt zu den Prinzipien des Syndikalismus zu bekennen. Die Schriften militanter Syndikalisten, selbst wenn sie geltend machen, lediglich die Erfahrungen der Bewegung wiederzugeben, können mithin als "Meta-Syndikalismus" angesehen werden. Um das Wesen des Syndikalismus zu analysieren, sollte man daher tunlichst das Handeln der Arbeiter untersuchen.

Wenn dies der Fall ist (auch wenn es keine sehr befriedigende Methode darstellt, einen "Ismus" zu definieren), dann wird die Untersuchung dieses Gegenstandes sogar eindeutiger in das Arbeitsgebiet des Historikers verwiesen. In jüngster Zeit haben einige Historiker der Arbeiterbewegung zweifellos diesen Standpunkt vertreten. Sie erklärten, es ließen sich für die Aktivitäten der französischen Arbeiterbewegung in jener Periode keine spezifischen Merkmale feststellen, und zwar weder im Hinblick auf die Häufigkeit noch die Art des Streiks, und sie schließen daraus, daß es den Syndikalismus nie gegeben habe. Die Situation ist aber auch hier komplizierter, da die Theoretiker des Syndikalismus der Auffassung waren, daß die Aktion sowohl einen subjektiven als auch einen objektiven Aspekt aufweise: Es sei nicht so wichtig, was die Arbeiter taten, sondern wie sie es taten. Es soll nicht danach gefragt werden, ob ihre Streiks gewaltsamer waren als andere (diese zeitgenössische Feststellung ist inzwischen von neueren Historikern ebenfalls entkräftet worden), sondern wie sie ihr Handeln selbst begriffen. Der syndikalistische Arbeiter formulierte keine Philosophie, sondern er hatte sie gleichsam im Gefühl. Es ist schwer zu erkennen, wie der Historiker dies nachprüfen kann.

An dieser Stelle möchte ich, wenn auch nur kurz und einigermaßen selektiv, die Theorie des Syndikalismus zusammenfassen, wie sie sich in den Schriften seiner Wortführer finden läßt. Ich greife nur die Ideen heraus, die für den Grundsatz der "direkten Aktion" mittels Streiks relevant sind und werde hierbei zu folgenden zwei Fragen zurückkehren:

  1. Entsprach die Theorie den Vorstellungen der Bewegung oder zumindest denen ihrer militanten Anhänger? Obgleich sie derartige Ideen sicherlich nicht in systematischer Form artikulierten, hatten die militanten Syndikalisten vermutlich eine gewisse Vorstellung, wie diese Ideen wenigstens in der Form von Losungen und Schlagworten hineinpaßten.
  2. Stimmte die Theorie mit der Praxis der Bewegung überein? Wie in vielen anderen Bewegungen auch, den christlichen Kirchen zum Beispiel, scheint es eine beträchtliche Kluft zwischen dem proklamierten Glauben und der Praxis gegeben zu haben: Der Syndikalismus wurde später von einem seiner Anführer als wenig mehr denn "verbalisme révolutionnaire" bezeichnet.

I.

Kern der syndikalistischen Theorie war die Idee des Klassenkampfes. Der Begriff entstammte zwar der marxistischen Terminologie, er wurde jedoch auf ein einfaches Schlagwort reduziert, das keiner theoretischen Untermauerung bedurfte, da es sich um eine täglich von den Arbeitern erfahrene Tatsache handele. Keine Gesetzesreformen, kein Übereinkommen mit den Arbeitgebern konnte sie aus dem doppelten Joch der Unterdrückung und Ausbeutung befreien. Nur durch einen vollständigen Umsturz der bestehenden Ordnung, durch die Abschaffung des Privateigentums und die Vernichtung des Staates konnte sich das Proletariat emanzipieren. Emanzipation bedeutete Revolution, und Syndikalismus war im wesentlichen eine Strategie der Revolution. An die Stelle der kapitalistischen Ordnung sollte eine anarchistische Gesellschaft treten, die auf die Arbeiterklasse abgestimmt war: Die "Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen" sollte in den Händen von Industriegewerkschaften und örtlichen Selbstverwaltungsgremien liegen; ohne eine "Regierung über Personen" war der Staat überflüssig. Im Syndikalismus spielte die Utopie fast ebensowenig eine Rolle wie im Marxismus. Utopisches Gedankengut ist hier allerdings etwas deutlicher erkennbar und basierte insbesondere auf einer Übereinstimmung von Mittel und Zweck.

Der Syndikalismus gab wenig auf die marxistischen Theorien einer automatischen Verschärfung des Klassenkampfes, der unvermeidlichen Revolution und dem vorbestimmten Sieg des Proletariats. Er sah den Klassenkampf mehr als Kampf wie jeden anderen an: Der Sieg würde vom Kampfgeist - élan - der Arbeiter abhängen, vom Willen und nicht von der Macht der Geschichte. Vouloir, c'est pouvoir hieß eine beliebte Losung. Es gab jedoch auch Versuche, beides zu vereinen. Gelegentlich sahen die Syndikalisten den freien Willen und die geschichtlichen Kräfte gleichwichtig an und erklärten, die Beteiligung der Arbeiter im Klassenkampf sei eine "intuitive" Reaktion auf ihre Lebensumstände. Streiks würden die revolutionäre Sache objektiv fördern, auch wenn sich die Streikenden subjektiv nicht als Revolutionäre verstünden.

Sollte der Kampf gewonnen werden, mußte er ausgefochten werden, und sollte er mit Engagement geführt werden, mußte seine Existenz stets neu bekräftigt werden. Wie in jedem Krieg, bedeutete dies den vollständigen Bruch mit dem Gegner. Das Proletariat mußte nicht nur den bürgerlichen Interessen an allen Fronten Widerstand leisten, sondern sich auch von bürgerlichen Institutionen und dem bürgerlichen Staate absondern. Um diese Aufspaltung der Gesellschaft in zwei feindliche Lager allen deutlich sichtbar zu machen, mußte jede Überschneidung zwischen den Klassen vermieden werden. Zusammenarbeit mit sozialistischen Intellektuellen konnte die Konturen des Streites nur verwischen. Da der Interessenkonflikt zwischen Arbeitern und Unternehmern die Grundlage des Klassenkampfes bildete, konnte die Unterstützung mittelständischer Sozialisten außerdem nur vordergründiger Natur sein. In der Praxis fraternisierten diese mit dem Klassenfeind und neigten zu Kompromissen. Wenn man ihnen erlaubte, die Bewegung der Arbeiterklasse zu beeinflussen, würden sie diese auf Abwege führen. Wollte die Bewegung ihren revolutionären Geist beibehalten, so mußte sie sich auf diejenigen beschränken, die durch unmittelbare Bande gemeinsamer Ausbeutung aneinandergekettet und in arbeiterspezifischen Organisationen organisiert waren. Der Syndikalismus proklamierte sich als proletarische Bewegung.

Hieraus folgte die Ablehnung dessen, was die Syndikalisten "Politik" nannten. Politische Aktion, einerlei ob demokratisch oder revolutionär, führte nur zur Verwischung der Klassengegensätze und mußte ungeachtet jeder Absicht den Klassenkampf untergraben. Politische Parteien, selbst wenn sie behaupteten, bestimmte Klasseninteressen zu vertreten, rekrutierten ihre Mitglieder über die Klassengrenzen hinweg. Die sozialistischen Parteien, ob reformistisch oder revolutionär, wurden von Männern beherrscht, die keine Arbeiter waren. Da diese Parteien auf der Grundlage einer Philosophie und nicht auf der Basis unmittelbar erfahrener Interessen ruhten, handelte es sich bei ihnen um artifizielle Organisationsformen. Ihnen fehlten die natürlichen, für eine Schlachtformation notwendigen Bande. Politische Aktion, selbst bei sogenannten revolutionären Parteien, zielte primär auf Wahlen ab und appellierte an die Arbeiter als Staatsbürger, eine Rolle, die sie mit anderen Klassen teilten. Das normale Betätigungsfeld der Politik, das Parlament, war allen Parteien und allen Klassen gemeinsam; der Parlamentarismus tendierte dazu, Proletariat und Bourgeoisie miteinander zu verbinden, anstatt sie voneinander zu trennen. Selbst die revolutionäre Politik kam nicht um die Tatsache herum, daß ihre Schlachtformationen nicht auf strikter Klassengrundlage beruhten, da ihre Methoden (z.B. die Barrikaden) nicht spezifisch zur Arbeiterklasse gehörten.

Vor allem aber widersprach die Demokratie dem Konzept des Klassenkampfes. Ihre wesentliche Charakteristik war Verständigung. Selbst unter dem Banner eines revolutionären Programms brachte sie die Parteien zu formaler Zusammenarbeit mit dem Bürgertum und somit zur Anerkennung der bestehenden Ordnung. Schlimmer noch: Das parlamentarische Milieu führte unweigerlich zu faktischer Kollaboration mit dem Bürgertum; demokratische Politik bedeutete Feilschen, Konzessionen und den schließlichen Verrat an der Arbeiterklasse. Welche unmittelbaren Vorteile sich auch immer für die Arbeiter ergeben mochten, sie waren keine Entschädigung für ihre Gefahren. Demokratie war ein System, das der bürgerlichen Herrschaft diente, eine Fassade, die den wahren Charakter des sozialen Konfliktes im Kapitalismus verbarg, ein Spiel, das die Energien der Arbeiterklasse in harmlose Kanäle ableitete. Sozialreformen waren überdies nur Versuche, den Klassenkampf zu untergraben, Betäubungsmittel, die die grundlegenden Besitzverhältnisse nicht veränderten. Auch hier ist die Position nicht frei von einer gewissen Zweideutigkeit, da sich die Syndikalisten für derartige Reformen einsetzten und sie als partielle Enteignung der Kapitalisten und mithin als Schritte auf dem Wege zur endgültigen Revolution betrachteten. Solche Gewinne wurden jedoch nicht durch parlamentarische Politik, sondern im Kampfe erzielt, durch die "direkte Aktion" der Arbeiterklasse im Klassenkampf.

An die Stelle der Partei setzten die Syndikalisten die Gewerkschaft. Sie war die autonome Organisation der Arbeiterklasse und ihrem Charakter nach gänzlich proletarisch. Die Gewerkschaft schuf eine klare Unterscheidung der Klassen und organisierte die Arbeiter nicht auf fundamental sozialistischen Ideen, die sie mit anderen gemein haben mochten, sondern aufgrund ihrer wesentlichen Eigenschaft als Arbeiter. 

Dies war auch ihre Stärke im Vergleich zur Partei: Von den Mitgliedern wurde kein intellektuelles Bekenntnis verlangt, sondern sie gingen einfach eine Beziehung ein, die ihnen durch ihre wirtschaftliche Lage und die Lehren des Lebens aufgezwungen worden war. Die Partei war eine freigewählte Gemeinschaft, die Gewerkschaft hingegen eine gemeinschaftliche Notwendigkeit. Schließlich stand die Gewerkschaft genau an jener Stelle, an welcher der Klassenkampf seinen Ursprung nahm: Sie organisierte die Arbeiter im direkten Kampf gegen den unmittelbaren Klassenfeind. An dieser Stelle mußte auch der Klassenkampf ausgetragen werden.

Die Syndikalisten setzten die Gewerkschaft auch an die Stelle des Staates. Ebenso wie die Anarchisten glaubten sie, daß Macht korrumpiert und Freiheit nicht von oben herab geschaffen werden kann. Sie lehnten eine Revolution ab, die nur aus einem Saatsstreich bestand und somit nur eine andere Form des politischen Handelns war, da sie der Auffassung waren, daß der Staat auch unter der marxistischen Diktatur des Proletariats nicht absterben würde. Ebenso wie der Parlamentarismus die natürliche Regierungsform einer bürgerlichen und die Diktatur die einer marxistischen Gesellschaft war, glaubten sie, daß nur eine horizontale und vertikale Föderation von Gewerkschaften die natürliche Verwaltungsform einer freien Gesellschaft der Zukunft sein werde.

Die Gewerkschaft stellte daher das Bindeglied zwischen Gegenwart und Zukunft dar. Sie organisierte die Arbeiter im tagtäglichen Kampf gegen die Unternehmer, errang materielle Konzessionen von unmittelbarem Wert und bereitete den Arbeiter auf die Revolution vor. Die Schlachtformation war zugleich die Keimzelle einer neuen Ordnung. Dies erlaubte den Syndikalisten, ihre Bewegung für autark zu erklären. Jede Aktion, die der Stärkung der Gewerkschaft diente, jede Handlung, die ihre Entschlossenheit und ihre Macht vergrößerte, war zugleich auch ein Schritt auf dem Wege zur entscheidenden Revolution und ein Baustein für die zukünftige Gesellschaft. Der dem Kapitalismus innewohnende Keim der Zerstörung war zugleich auch der Keim eines neuen Aufbaus: Die endgültige Revolution würde keine Ubergangsprobleme mit sich bringen.

Die Revolution konnte nicht auf politisch demokratische Weise herbeigeführt werden, sondern nur durch Arbeiter, die in eigener Sache handelten. Dies war der Grundsatz der "direkten Aktion". Die Syndikalisten deuteten die Formel, wonach die Emanzipation des Proletariats dessen eigenes Werk sein müsse, buchstäblich: Sie mußte durch Arbeiter, die als Arbeiter handelten (d.h. in Gewerkschaften, nicht in Parteien) und ohne die Hilfe von Mittelsmännern (durch "direkte Aktion", nicht wahlorientierte Politik) erreicht werden. Direkte politische Aktionen - Aufstände - waren jedoch nicht durchführbar, da der Klassenfeind die Macht des Staates kontrollierte. Ebenso wie die Gewerkschaft die adäquate Organisationsform für Arbeiter darstellte, war der Arbeitskampf auch ihr adäquates Betätigungsfeld. Die Syndikalisten befürworteten verschiedene Formen des Arbeitskampfes wie Boykott, Sabotage oder den "Bummelstreik". Doch nur der Streik stellte die geeignetste Form der direkten wirtschaftlichen Aktion dar. Im Streik kam der Klassenkampf am deutlichsten zum Ausdruck, da er den Arbeiter in unmittelbaren Konflikt mit dem Unternehmer brachte und so den Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit ins grelle Licht setzte. Überdies war er die wirksamste zur Verfügung stehende Waffe, und hatte den Vorteil, daß es ihm unmittelbar und unausweichlich um die Interessen der Arbeiterklasse ging und hierbei Energien mobilisiert wurden, die durch politische Forderungen nicht freigesetzt werden konnten. Durch den Streik wurden diejenigen, denen es an revolutionärem Bewußtsein mangelte, in Aktionen einbezogen, die von den militanten Führern zu revolutionären Zwecken genutzt werden konnten. Ihre Schlachtformationen standen stets bereit und bedurften keiner gefährdeten politischen Organisationen.

Der Streik besaß einen doppelten Aspekt, da er reformistische und revolutionäre Ziele aufs Nützlichste miteinander verband. Selbst wenn die Arbeiter den Unternehmern nur ein unmittelbares Zugeständnis, wie z.B. eine Lohnerhöhung, abtrotzten, so wurde dennoch automatisch die Sache der Revolution gefördert. Wenn sie Erfolg hatten, bestand ihr Gewinn in einer partiellen Enteignung der Kapitalisten und einer Schwächung der bürgerlichen Herrschaft. Gleichzeitig verstärkte jeder Streik, ob erfolgreich oder nicht, die Klassenfeindschaft, reizte somit zu weiteren Konflikten und verschärfte den bevorstehenden Kampf. Der Streik förderte die Solidarität der Arbeiterklasse, steigerte ihren revolutionären Elan und diente als Exerzierplatz für die größeren Schlachten, die noch ausstanden.  

Syndikalismus ist gelegentlich als Philosophie des Streiks bezeichnet worden, und sein zentraler Wesenszug war ohne Frage die Befürwortung des Streiks als direkte, revolutionäre Aktion, die außerhalb der herrschenden politischen Ordnung stand und gegen diese gerichtet war.

Der Streik bildete darüber hinaus auch den Mittelpunkt der syndikalistischen Argumentation. Als Ergebnis und Gipfelpunkt einer langen Folge derartiger Streiks, stets umfangreicher, besser organisiert, aber auch zunehmend erbitterter, stand am Ende der Generalstreik. Durch diesen sollte das kapitalistische System schließlich zerschlagen und das Proletariat befreit werden. Das Konzept des Generalstreiks gab der syndikalistischen Strategie ihre Orientierung. Der Kapitalismus würde seine Macht und Privilegien nie freiwillig auf geben: Der Generalstreik war somit der Eckstein, auf dem letztlich alles übrige ruhte, denn nur er konnte den Klassenkampf zu einem siegreichen Ende führen. Der Generalstreik stand jedoch in enger Beziehung zum normalen Streik. Die Revolution würde nicht ein isoliertes Ereignis sein, sondern das Ergebnis einer fortschreitenden Intensivierung des regulären Kampfes der Arbeiterklasse. Der Generalstreik würde zwar mehr Arbeiter mobilisieren, länger andauern und mehr Gewalttätigkeit mit sich bringen als frühere Streiks, sich aber nicht wesentlich von ihnen unterscheiden. Er würde die letzte Schlacht, aber nicht der ganze Krieg sein. Das syndikalistische Aktionsprogramm konnte somit ein beachtliches Maß an Geschlossenheit für sich beanspruchen. Taktik und Strategie - Streik und Generalstreik - waren Glieder in einer einzigen Kette. Die Gewerkschaft, als natürliche Schlachtformation, war zugleich auch die natürliche Keimzelle der neuen Gesellschaft und schloß so Mittel und Zweck in einem Glied zusammen.

II.

Oben haben wir den syndikalistischen Streikbegriff in seinen theoretischen Kontext gesetzt. Streik bedeutete stets die "direkte Aktion". "Direkte Aktion" meint hingegen die Umgehung der auf Wahlen beruhenden Politik. Selbst wenn sich das unmittelbare Streikziel auf reformistische Gesetzgebung beschränkte (wie etwa den Acht-Stunden-Tag), wurde dies als Druck von außen gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstanden. Mehr noch: Streiks waren Glieder in einer Kette, die zum Generalstreik führte, und somit eine Form der permanenten Revolution.

Wie aber verhielt sich diese von den militanten Theoretikern der Bewegung gegebene Interpretation des Streiks zu seiner Wirklichkeit? In der Praxis verfolgte die französische Arbeiterbewegung zweifellos, ebenso wie die Gewerkschaften anderer Länder auch, reformistische Ziele, d.h., man bemühte sich, den Unternehmern Konzessionen abzuringen. Es ist daher gelegentlich erklärt worden, daß der syndikalistische Streikbegriff eine "Rationalisierung" dargestellt habe. Da man sich gewissermaßen in einer Zeit "revolutionärer Romantik" befand, wie es der damalige Generalsekretär der CGT später selbst nannte, interpretierten die Führer der Syndikalisten die reformistische Praxis im Sinne einer Übereinstimmung mit dem Programm des revolutionären Syndikalismus, was dessen Theorie ohnehin mühelos zuließ. Was aber dachte die Masse der Anhänger, die am alltäglichen Kampf der Arbeiterbewegung direkt teilnahm? 

Wie ich im folgenden noch darlegen werde, ist es nicht möglich, diese Frage eindeutig zu beantworten. Bei den meisten Streiks ging es um konkrete Forderungen. Sie wurden stets nach der Prämisse "Sieg oder Niederlage" geführt. Aber selbst wenn die Beweggründe nicht revolutionär waren, bedeutet dies nicht, daß viele Arbeiter den Streik nicht doch auf eine solche Weise ansahen und, somit ganz gewöhnlichen Handlungen einen Schein der Romantik verliehen. Derartige Auffassungen vom Generalstreik, aber auch verschwommenere Ideen über die Emanzipation der Arbeiter, gehörten möglicherweise zum festen Vorstellungsbereich eines Teiles der Arbeiterklasse. Zumeist handelte es sich jedoch vermutlich um sehr unscharfe und nur halb-bewußte Bilder, die allerdings mitunter in der Hitze des Kampfes, wenn sich Streiks und Agitation über das Land ausbreiteten, oder wenn es zu besonders erbitterten Konflikten auf lokaler Ebene kam, wenn also der Klassenkampf am schärfsten ins Bewußtsein trat, heller leuchteten und den Kampagnen plötzlich eine größere Bedeutung verliehen. Diese Vorstellungen mögen auch die Arbeiter in ihrem Selbstbewußtsein gestärkt haben, und so wurden derartige Aktionen vielleicht weiter vorangetrieben, als es andernfalls möglich gewesen wäre. 

Mehrmals muß sicherlich sowohl unter Arbeitern als auch Bürgern das Gefühl geherrscht haben, daß die Revolution, oder etwas sehr ähnliches, unmittelbar bevorstand. Eingangs sind bereits die Streikbewegungen von 1906 und 1909 erwähnt worden. Die Arbeiter begannen diese Streiks ohne wirklich revolutionäre Absichten, wenn auch militante Syndikalisten das Gegenteil behaupteten. Das Bild der Revolution mag ihnen lebhaft genug vor Augen gestanden haben - jedenfalls gewinnt man diesen Eindruck aber das bedeutet nicht unbedingt, daß die revolutionären Schlagworte auch geglaubt wurden, und schon gar nicht, daß irgend jemand die ernstliche Absicht hatte, nach ihnen zu handeln.

Sind die Streiks dieser Periode trotzdem als "direkte Aktion" zu werten mit allen weiter oben dargelegten anti-demokratischen Implikationen? "Direkte Aktion" war die verbreitetste Losung der Syndikalisten. Aber sie hatte dennoch etwas von einer theoretischen Konstruktion an sich. In der Praxis war direkte Aktion einfach das, was die Arbeiter taten. Obgleich sie ein notwendiger Bestandteil ihres Programms war, wurde sie von den Syndikalisten als spontan bezeichnet, mit anderen Worten: ohne Bezug auf syndikalistische Prinzipien unternommen. Im allgemeinen streikten die Arbeiter unter dem Druck wirtschaftlicher Bedingungen. Wir dürfen uns nicht verleiten lassen, ihre Aktionen als Konsequenz syndikalistischer Theorie zu sehen, eine Verlockung, der die syndikalistische Theorie selbst, wenngleich nicht immer eindeutig, zu entgehen suchte. Trotzdem bleibt die Tatsache bestehen, daß die Interpretation des Streiks als "direkte Aktion" allem Anschein nach weit verbreitet war und eine beachtliche Zahl der Arbeiter in diesem Sinne redete und dachte. Was immer die Gründe für ihre Aktion und was ihr wahrer Charakter sein mochte, sie ließ sich von den Beteiligten als außerhalb des demokratischen Prozesses stehendes Handeln werten. In diesem Sinne konnte der Generalsekretär der CGT auf dem Gewerkschaftskongreß 1912 die "direkte Aktion" als einen Zustand "ständiger Ilegalität" beschreiben.

Streiks sind eine übliche Reaktionsweise der Arbeiter und nicht spezifisch syndikalistisch. Wie ich bereits gezeigt habe, mögen sich im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts in Frankreich gewisse Vorstellungen mit ihnen verbunden haben, selbst wenn die Praxis der Streikenden hiervon unberührt blieb. Man könnte hier auf die revolutionäre Tradition in Frankreich verweisen, die zur politischen Kultur des Landes gehört, und in die auch die nachfolgenden Generationen einbezogen wurden. Ein Historiker der politischen Ideengeschichte bemerkte dazu: "Schon bei den geringsten Anlässen sahen sich die Franzosen als Umstürzler; vielleicht hat es bei ihnen zu viele Bilder revolutionärer, barrikadenstürmender Helden gegeben. Die Marseillaise mit ihrem Ruf 'zu den Waffen' lag ihnen im Blut." 

In dieser Tradition bildeten die mit dem Streik verbundenen Vorstellungen einen Ersatz für die Barrikaden. Derartige geistige Bilder befriedigen ein Bedürfnis, denn sie lassen sich mit einer Aktion in Zusammenhang bringen, ohne auf sie mehr als nur am Rande Einfluß auszuüben. Auf einen anderen Aspekt der französischen Kultur ist ebenfalls hingewiesen worden. Ein Historiker der Arbeiterbewegung hat es folgendermaßen ausgedrückt: "Den Franzosen genügte es nicht, aus Notwendigkeit zu handeln - die Handlung mußte zu einem generellen Prinzip erhoben werden, das Prinzip in ein System eingeordnet und das System in eine präzise und mitreißende Formel komprimiert werden." Diese Formeln fanden ihren Platz bei den Massenversammlungen und befriedigten ein Bedürfnis, wiederum ohne unbedingt großen Einfluß auf die Aktion zu haben.

Man darf dennoch fragen, ob der Syndikalismus in der Periode seiner angeblichen Hegemonie einen konkreten Einfluß auf die Gewerkschaftsbewegung ausübte. Gab es in Frankreich damals mehr Streiks als zu anderen Zeiten oder mehr als zur selben Zeit in anderen Industrieländern, oder mehr als sich einleuchtend aus sozioökonomischen Umständen erklären lassen? Neigten Gewerkschaften, die auf ihren Jahreskongressen für syndikalistische Prinzipien stimmten, eher zu Streiks als reformistische Gewerkschaften? Zeigten einige Streiks besondere Merkmale, die sie von anderen unterschieden? Waren sie, wenn sie unter der Leitung von syndikalistischen Gewerkschaften durchgeführt wurden, "revolutionärer", etwa gewalttätiger, als andere? 

In neueren Untersuchungen werden diese Fragen verneint, und es wird gefolgert, daß es den Syndikalismus nicht wirklich gegeben habe. Ehe ich mich diesen Analysen zuwende, möchte ich zunächst kurz meine eigene Auffassung über die Geschichte dieser Streiks darlegen. Die Arbeiter scheinen in jener Zeit zweifellos eine hohe Bereitschaft zum Streik an den Tag gelegt zu haben, und es bestand die Tendenz, Streiks nicht als einzelne, in sich abgeschlossene Aktionen anzusehen, die darauf abzielten, bestimmte Forderungen durchzusetzen und die Arbeiter zufriedenzustellen, sondern als Etappen in einem fortdauernden Konflikt. Dies geht beispielsweise aus der allgemeinen Feindseligkeit der CGT gegenüber dem Konzept kollektiver Tarifverträge hervor. Selbst wenn ein Streik zum Vorteil der Arbeitnehmer beigelegt wurde, galt dies nicht als Wiederherstellung des sozialen Friedens. War es nicht möglich, rasch zu einem Ergebnis zu kommen, riefen die Gewerkschaften zur Wiederaufnahme der Arbeit auf, bereit, den Kampf erneut zu beginnen, sobald es die Umstände erlaubten. 

Streiks wurden mitunter auch aus sehr trivialen Gründen ausgerufen. Wie ein Beobachter später bemerkte, hielten diese kurzen, aber häufigen Streiks die Arbeiter in steter Alarmbereitschaft. Unternehmer und Regierung ebenfalls, könnte man hinzufügen. Syndikalisten neigten dazu, die Häufigkeit der Streiks der wachsenden Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse zuzuschreiben, die durch die ausgefochtenen "Schlachten" angestachelt wurde und durch die Anstrengungen der Syndikalisten zu einem besseren Verständnis ihres Kampfes gelangt sei. Es gab jedoch noch andere angemessene Erklärungen für die Häufigkeit der Streiks. Die französischen Gewerkschaften waren damals zu schwach, um mit den Arbeitgebern erfolgreich verhandeln zu können, und nahmen aufgrund dieser Notlage Zuflucht zu Streiks. In Anbetracht der begrenzten Gewerkschaftsfinanzen und des Unvermögens, den Gewerkschaftsmitgliedern ausreichende Streikgelder zu zahlen, war die Politik kurzer und häufiger Streiks die einzige Möglichkeit. Diese Sachlage ist uns inzwischen längst vertraut, und wir sind daher heute weniger geneigt, auf ideologische Erklärungen zurückzugreifen, es sei denn, wir wären bereit, auch die gegenwärtige Streikwelle in Großbritannien dem Einfluß der Trotzkisten zuzuschreiben.  

III.  

Welchen Charakter hatten jedoch die Streiks? Die reformistischen Gewerkschaften waren zu jener Zeit im allgemeinen gewillt, mit den Unternehmern zu verhandeln und Schiedssprüche zu akzeptieren; die Führer der Syndikalisten hingegen riefen zu "direkter Aktion" auf. "Direkte Aktion" als Schlagwort ist allerdings sehr zwiespältig. Jeder Streik bedeutete Aktion anstelle von Verhandlung, die Anwendung von 'Gewalt', zumindest insofern, als Streiks immer einen Versuch darstellen, Druck auf die Unternehmer auszuüben. Generell war hiermit jedoch mehr gemeint. Im Jahre 1907 unterschieden sich nach Ansicht eines Beobachters die syndikalistischen von den reformistischen Streiks mehr im taktischen Vorgehen als in der Zielsetzung. Seinen Worten zufolge ließ sich trotz allen Geredes über die "direkte Aktion", mit Ausnahme der Gewaltanwendung, keine neue Taktik erkennen, die die Unternehmer und das Bürgertum einzuschüchtern vermochte. Der einzige Beitrag, den die syndikalistische Theorie zur "direkten Aktion" geleistet hat, besteht, mit anderen Worten, im propagierten Prinzip der Gewalt, und das einzige unterscheidende Merkmal der syndikalistischen Praxis in dessen Anwendung.

Unser zeitgenössischer Beobachter verneinte - und seine Auffassung ist durch Untersuchungen in jüngster Zeit bestätigt worden -, daß die Gewerkschaften oft Gewalt angewendet hätten. Daraus läßt sich schließen, daß es in Wirklichkeit nur wenige spezifisch syndikalistische Streiks gegeben hat. Gewalttätigkeit war übrigens kein Monopol der Syndikalisten. Sie konnte auch spontan auftreten, ohne durch syndikalistische Theorie inspiriert worden zu sein. Die Encyclopaedia of Social Sciences stellt hierzu fest: "Es ist offensichtlich, daß Gewalt in Form von Handgreiflichkeit oder Zerstörung von Eigentum im Verlauf eines Streiks sehr leicht auftreten kann, vor allem wenn dieser von langer Dauer ist oder Erbitterung hervorgerufen hat." Der Syndikalismus gab immerhin diesem Sachverhalt eine theoretische Rechtfertigung, und seine polemischen Schriften können hier nicht ganz ohne Einfluß geblieben sein.

Die Syndikalisten behaupteten demnach, daß "direkte Aktion" den revolutionären Streik von der passiven - und legalen - Arbeitsverweigerung unterscheide, die von den reformistischen Gewerkschaften verfochten wurde. Sie neigten zu militärischen Fachausdrücken. Den Gewerkschaften mangelte es an Soldaten und Material: Nur ein kleiner Prozentsatz der Arbeiter war gewerkschaftlich organisiert, so daß eine bloße Verweigerung der Arbeit wirkungslos bleiben mußte, und dies in Anbetracht der begrenzten finanziellen Möglichkeiten auch dann, wenn die Arbeitsverweigerung über längere Zeit durchgehalten werden konnte. Drastischere Aktionen waren erforderlich, um das Bürgertum einzuschüchtern und ihm Konzessionen abzutrotzen. Langfristig gesehen vertieft Gewalt, da sie den Konflikt verschärft, die Kluft zwischen dem Proletariat und den Kräften des Kapitalismus, einschließlich der Macht des Staates, die ihm zu Hilfe kommt. Gewalt macht somit den Klassenkampf deutlich sichtbar und stärkt die Solidarität und den Kampfgeist der Arbeiter. Ganz im Stile Sorels priesen syndikalistische Führer die Gewalt nicht nur aus dem simplen Grund, daß Unternehmer in Schrecken versetzt würden und dadurch zum Nachgeben bereit wären; gelegentlich wurde auch eine differenziertere Begründung gegeben. Auf beiden Seiten löse Gewalt tiefe Empfindungen und einen Schock aus und trage dadurch zur Verschärfung der Klassengegensätze bei. Gewalt sei das wirksamste Mittel gegen reformistische oder demokratische Bestrebungen, die fundamentalen Fragestellungen des Klassenkampfes zu verwischen. Gewaltanwendung glich darüber hinaus mehr einem Kriege als ein einfacher Streik, da sie die heroischen Eigenschaften des Proletariats zur Entfaltung brachte und in diesem Sinne einen Erziehungswert besaß.

Im allgemeinen jedoch entwickelten die Syndikalisten weder eine rechtfertigende Theorie der Gewalt, selbst wenn sie diese befürworteten, noch eine eigenständige Taktik für ihre Anwendung. Es wäre freilich auch schwierig gewesen, eine so simple Sache wie den coup de poing zu komplizieren. Für die Arbeiterbewegung in ihrer Gesamtheit waren Gewaltakte vermutlich ohnehin nichts mehr als konkrete Anwendung von Gewalt, und keineswegs Teil einer wie immer auch gearteten diffusen Vorstellung eines Krieges. Gewiß mochten Gewaltakte manchmal von Agitatoren inspiriert worden sein, aber im allgemeinen waren sie weder vorausgeplant noch wirklich beabsichtigt. Sie ergaben sich vielmehr vor dem Hintergrund wachsender Verbitterung, als Folge ständiger Auseinandersetzungen, persönlicher Feindschaften gegen einzelne Unternehmer, eines Gefühls der Ohnmacht aufgrund der eigenen Schwäche und der geringen finanziellen Mittel, Gereiztheiten und wachsender Spannung. Die schließliche Explosion wurde oft durch die Einstellung von Streikbrechern oder die Intervention der Polizei ausgelöst. Wenn in solchen Zeiten und bei einer solchen Stimmung Fäuste, Steine, Brandstiftung oder gar Dynamit angewendet werden, bedarf dies keiner besonderen Erklärung.

Gewalt konnte die Form der Zerstörung des Eigentums der Unternehmer annehmen. In Marseille zum Beispiel zertrümmerten die Hafenarbeiter Kräne, setzten Lagerhäuser in Brand und zerstörten Waren, so daß sich der örtliche Militärkommandant gezwungen sah, den Belagerungszustand zu verhängen. In Brest wurde eine ganze Schiffsladung über Bord geworfen; eine Reihe von Lagerhäusern wurde ausgeräumt, und fünfzig Fässer Wein wurden ins Meer gerollt. In Mazamet brannten Arbeiter eine Textilfabrik nieder und brachten in verschiedenen anderen Dynamitpatronen zur Explosion. Während der Kampagne für die gesetzliche Einführung eines wöchentlichen Ruhetages schlugen Kellner, Friseure und Verkäufer Ladenfenster ein und gossen Säure über die Auslagen. In diesen Fällen mag zwar die Hoffnung, die Arbeitgeber durch Terror zur Kapitulation zu zwingen, mitgespielt haben, aber ebenso wahrscheinlich könnten die Beweggründe schlichte Frustration oder Rachegier gewesen sein. In Meru zum Beispiel verwüsteten die Arbeiter nicht nur die Fabrik, sondern auch das Privathaus ihres Arbeitgebers, und auch andernorts wurden die Häuser von Unternehmern nicht selten mit Ziegelsteinen beworfen. Noch häufiger waren wohl Angriffe auf Streikbrecher, vermutlich aus ähnlichen Gründen. Gelegentlich mag hierbei auch ein heute nicht mehr isolierbares Element der anarcho-syndikalistischen "Propaganda der Tat" mitgespielt haben. Ein Syndikalist berichtete fünfzig Jahre später in seinen Erinnerungen, daß seine erste Unternehmung, nachdem er sich 1902 der Arbeiterbewegung angeschlossen hatte, die Neuausgabe eines anarchistischen Pamphlets über die Herstellung von Bomben gewesen sei. Wenn sich ein Streik zu sehr in die Länge zu ziehen drohte, habe sich einer seiner Kameraden zum Schauplatz der Aktion begeben und durch eine Detonation ein paar Fensterscheiben zerspringen lassen.

Öfter kam es bei den Gewaltakten zu Angriffen auf Personen und Eigentum außerhalb des Arbeitsplatzes, zum Beispiel als die Leineweber von Armentieres Läden plünderten. Die Mehrzahl der gewalttätigen Vorfälle, wie zum Beispiel die Auseinandersetzungen mit der Polizei, standen in keiner direkten Beziehung zu Streiks. Demonstrationen der Streikenden konnten jedoch auch zu Handgemengen mit der Polizei führen und sich zu ernsten Zusammenstößen entwickeln. Derartige Vorfälle, einerlei ob es sich hierbei um Krawalle oder größere Unruhen handelte, verwandelten Streiks in Konflikte mit der Staatsgewalt und dienten dazu, syndikalistische Vorstellungen über das Wesen des Klassenkampfes zu untermauern. Rückblickend mag die Anzahl gewalttätiger Vorfälle nicht außergewöhnlich scheinen, aber zeitgenössische Kritiker sprachen von "revolutionärem Vandalismus unter dem Deckmantel von Streiks", und von "Bewegungen, die von Streiks in Aufstände ausarten".

"Direkte Aktion heißt Gewalt" ist ein Satz, der immer wieder in ihren Berichten zu finden ist. Die damaligen Eindrücke wurden durch eine relativ kleine Anzahl dramatischer Konflikte geprägt, in deren Verlauf Streiks zu Unruhen und Zusammenstößen mit dem Militär geführt hatten (wie in Monceau-les-Mines, Villeneuve-Saint-Georges oder Narbonne) sowie durch eine noch geringere Anzahl von Streiks im öffentlichen Dienst, bei denen es zu Sabotageakten gekommen war und die eine kurze Zeit so aussahen, als könnten sie das ganze Land lahmlegen. Die sporadischen Gewaltakte, die zu jener Zeit auch bei anderen Streiks zu verzeichnen waren, lassen sich jedoch nicht als Taktik oder "direkte Aktion" werten. Gelegentlich dürften sie die Arbeiter aber trotzdem dazu geführt haben, sich selbst in einer revolutionären Rolle zu sehen, und zuweilen werden auch revolutionäre Vorstellungen ihr Verhalten beeinflußt haben.

IV.

In jüngster Zeit ist versucht worden, den Beleg dafür zu erbringen, daß der Syndikalismus keinen Einfluß auf die französische Arbeiterschaft gehabt und es daher auch wenige Vorfälle gegeben habe, die sich als syndikalistische Aktion bezeichnen ließen: so vor allem Peter Stearns in seinem Buch Revolutionary Syndicalism and French Labor sowie Edward Shorter und Charles Tilly in Strikes in France 1830-1968.

"Die meisten Historiker, die einige Kenntnisse über die französische Arbeiterbewegung zwischen 1890 und 1914 haben, ... werden den revolutionären Syndikalismus als ihr auffallendstes Element charakterisieren." Diesem einleitenden Satz von Stearns dürften nur wenige widersprechen. "Diese Auffassung ist bestenfalls eine Mutmaßung, da sie nie ernsthaft überprüft wurde. Historiker ... wenden ihre Aufmerksamkeit nur zu oft den Ideen einer Bewegung oder Organisation zu, ohne zu untersuchen, in welchem Maße diese Ideen von der Anhängerschaft geteilt wurden oder ihr Verhalten beeinflußten." Auch diese Aussage ist gerechtfertigt. Es trifft zu, daß der Syndikalismus, wie auch andere Formen des Sozialismus, nach ideellen Kriterien dargestellt wird. Die Geschichtschreibung über politische Theorien ist völlig legitim; die Schwierigkeiten ergeben sich erst bei dem Versuch, diese Ideen mit realen Bewegungen in Beziehung zu setzen. 

Drei Fragen erheben sich in diesem Zusammenhang. Spiegelten die prinzipiellen Erklärungen der CGT und die Schriften ihrer Führer die Meinung der breiten Anhängerschaft wider? Welcher Prozentsatz innerhalb der CGT (in der wiederum nur eine Minderheit der französischen Arbeiterschaft organisiert war) hing syndikalistischen Vorstellungen an? Wieviele von denen, die diese Vorstellungen anscheinend unterstützten, glaubten wirklich an sie; waren diese lediglich Schlagworte, ein automatisches Ritual, das bei gewissen Gelegenheiten hervorgeholt wurde, oder handelte es sich um dauerhafte und feste Überzeugungen? Waren selbst aufrichtige Anhänger bereit, ihre Gesinnung durch Taten zu beweisen, oder teilte sich ihr Leben in voneinander abgetrennte Bereiche der Theorie und Praxis? 

In der CGT gab es zweifellos viele, die keine Syndikalisten waren, sondern Marxisten, Reformisten, sogar konsequente Anarchisten wie auch Arbeiter, die keinerlei "Ismen" anhingen. Die Syndikalisten selbst waren durchaus zum gleichen "verbalisme révolutionnaire" fähig, den sie den sozialistischen Politikern vorwarfen; es fiel ihnen nicht schwer, praktische, d.h. reformistische, Ziele zu verfolgen und zugleich revolutionäre Losungen im Munde zu führen. Selbst treue Anhänger schienen imstande, im Falle eines emotionalen Umschwungs bestimmte Losungen durch andere zu ersetzen, um sich der neuen Lage anzupassen. So etwa beim jähen Übergang vom antimilitaristischen Internationalismus zur patriotischen Mobilmachung im Jahre 1914.

Leider gibt es auf diese Fragen keine unmittelbare Antwort. Wie Shorter und Tilly darlegen, ist dem Historiker der Weg der Meinungsumfrage verschlossen. Ein negativer Test scheint weniger schwierig als die positive Identifizierung vergangener Überzeugungen. Mit anderen Worten: Es ist einfacher auszumachen, woran die Anhängerschaft nicht fest geglaubt haben kann, da sich die ihnen unterstellten Überzeugungen an der historisch belegten Praxis messen lassen. Der revolutionäre Syndikalismus predigte die Intensivierung des Klassenkampfes, befürwortete Streiks als allein wirksame Waffe und sah im Generalstreik das einzige Mittel zur Emanzipation des Proletariats. Der Einfluß des Syndikalismus (falls er mehr als "verbalisme" war) müßte daher in der Streikgeschichte der Arbeiterbewegung während der Periode anscheinender syndikalistischer Dominanz seinen Niederschlag finden. Die genannten Untersuchungen zeigen aber, daß kein Aspekt dieser Streikmuster - Häufigkeit, Dauer, Umfang - einer besonderen Erklärung bezüglich syndikalistischer Führung oder syndikalistischer Glaubenssätze bedarf. Die Streiks nahmen zwar in jener Zeit zu, doch war dies eine Entwicklung, die auch in anderen Industrieländern zu beobachten war. Hohe Arbeitslosigkeit und eine Senkung des Lebensstandards bieten sich als plausible Erklärungen an. Darüber hinaus unterschied sich die Geschichte der Streiks der sogenannten syndikalistischen Gewerkschaften nicht von den französischen Gewerkschaften unter anderer Führung.

Die Syndikalisten haben freilich nie behauptet, daß die Häufigkeit der Streiks, kurzfristig betrachtet, der wesentlichste Gesichtspunkt sei. Sie wußten recht gut, daß arme und schlecht organisierte Gewerkschaften, die nur in einem einzigen Gewerbezweig in einer einzigen Stadt vertreten waren, die Arbeiter unmöglich in größerem Umfang oder auf längere Zeit mobilisieren konnten. Wie der Generalsekretär der CGT erklärte, kam es hier auf den Geist an: Die syndikalistischen Streiks seien durch ihren revolutionären Charakter definiert. 

Welche externen Anzeichen hierfür auch immer bestanden haben mögen, auf jeden Fall läßt sich diese Behauptung weder durch die Art und Weise erhärten, wie solche Streiks beigelegt wurden, noch durch den Verweis auf die "direkte Aktion" (also Gewaltanwendung). Die unter syndikalistischer Führung organisierten Streiks schienen kaum besondere Merkmale zu besitzen. Zum Beispiel kam es bei Streikaktionen nicht primär zu Gewalttätigkeiten und, wenn diese in Verbindung mit Streiks auftraten, dann keineswegs häufiger als bei nicht-syndikalistischen Gewerkschaften. Die Gewaltausübung selbst läßt sich überdies auch hinlänglich durch andere Faktoren erklären, wie verständliche Enttäuschungen, Zorn über Streikbrecher oder Zusammenstöße, die sich aufgrund von Interventionen der Polizei ergaben.

In einem anderen Sinne jedoch konnten die Syndikalisten von ihren Streiks behaupten, daß sie sich im Wesen von anderen Arbeitskämpfen unterschieden und daß sich dies nicht unbedingt im Verhalten der Streikenden widerspiegeln mußte. Der revolutionäre Syndikalist hatte eine Vorstellung von jedem Streik als einer Schlacht im Klassenkampf - und dies war auch der Gesichtspunkt, den Sorel hervorhob und entsprechend dramatisierte. Mit jedem Streik wurde das Bild des Generalstreiks, ja der Revolution, lebhafter beschworen. Somit unterschieden sich die Streiks der Syndikalisten von denen der anderen zwar nicht objektiv, aber ein subjektiver Unterschied mag sehr wohl bestanden haben. Es ist schwer zu erkennen, welche quantitativen Daten man heranziehen könnte, um diese Behauptung zu überprüfen. Wie sollte man etwa feststellen, welcher Prozentsatz der Bevölkerung zu einem gegebenen Zeitpunkt in der Vergangenheit überzeugte Christen waren? Wenn der Besuch der Gottesdienste keinen Hinweis auf den Unterschied zwischen wirklich Gläubigen und konventionellen Kirchgängern liefert, ließe sich dann "christliches" Verhalten im täglichen Leben als Kriterium heranziehen? Wohl kaum. Einige von denen, die sich christlicher Tugenden befleißigen, werden keine Gläubigen sein, andere Gläubige werden ihren Glauben nicht mit ihrem Handeln in Einklang bringen können. Das gleiche trifft auch auf den Mythos von der Revolution zu. Von Sorel stammt die wohl prägnanteste Aussage zu diesem Thema: "Wir wissen, daß diese Mythen einen Menschen keineswegs davon abhalten, aus den im Laufe seines Lebens gemachten Beobachtungen einen Nutzen zu ziehen, und für ihn auch kein Hindernis bei der Verfolgung einer normalen Beschäftigung darstellen."

Stearns gibt zu, daß wir nicht wissen können, was die Arbeiter wirklich dachten und an welche Mythen sie glaubten, da wir nicht tief genug in ihre Vorstellungswelt eindringen können. "Wer war also wirklich ein Syndikalist? Wir werden es nie mit Sicherheit wissen; im Hinblick auf die eigentliche Protesttätigkeit erscheint jedoch diese Frage relativ bedeutungslos." Doch so leicht sollte man es sich nicht machen. Für die Zeitgenossen war es gewiß von Bedeutung.

Die rigorose Methode, bei der Analyse der äußeren, beobachtbaren Merkmale der Streiks, entspricht in diesen Untersuchungen nicht der Bewertung der öffentlichen Meinung. Dies zeigt sich insbesondere an der folgenden, nicht weiter belegten Feststellung: "Weder Regierung noch Arbeitgeber nahmen den Syndikalismus sonderlich ernst."

Dies ließe sich vermutlich durch eine inhaltliche Analyse zeitgenössischer Zeitungen und eine Untersuchung zeitgenössischer Kommentare überprüfen. In den Artikeln und Büchern, die von Beauftragten der Unternehmer zu jener Zeit verfaßt wurden, aber auch bei ernstzunehmenden Historikern der Arbeiterbewegung stößt man regelmäßig auf verschiedene Versionen einer Verschwörungstheorie, wonach die Arbeiter von einer kleinen Gruppe revolutionärer Anführer mit Erfolg zur Revolte aufgehetzt worden seien. In Regierungskreisen, aber auch im Bürgertum insgesamt herrschte in der Tat ziemliche Bestürzung über die Entwicklung der Ereignisse. Die Presse zeigt dies recht deutlich. Zeitungsberichten zufolge spielten sich die damaligen französischen Streiks, worin auch immer ihr wahrer Charakter bestehen mochte, auf einer Bühne mit revolutionärer Kulisse ab: Viele Streiks konnten potentiell eine Revolution auslösen und boten mithin beiden Gegnern im Klassenkampf ein revolutionäres Bild. Rückblickend ist unschwer zu erkennen, daß ein revolutionärer Generalstreik nicht sehr wahrscheinlich war, und ein erfolgreicher schon gar nicht. Aber im Rückblick lassen sich diese Dinge leicht sagen. Das Potential mag in der Tat vorhanden gewesen sein. Die Frage, wer wirklich ein Syndikalist war, hätte dann durchaus große Bedeutung gehabt.

Darüber hinaus läßt sich die ganze Frage der Motivation nicht so leicht abtun, wie diese Untersuchungen wahrhaben wollen. Die Autoren neigen dazu, die Streiks als spontane Reaktionen auf die sozioökonomischen Bedingungen zu erklären. Ohne sich offenbar darüber im Klaren gewesen zu sein, folgen sie damit dem Gedankengut der syndikalistischen Theorie. Die Theoretiker der Be wegung argumentierten, daß es unwesentlich sei, ob Streiks durch syndikalistische Agitation entstanden seien oder ob die Anhängerschaft syndikalistische Ideen bewußt aufgenommen habe. Es komme vielmehr darauf an, daß die Arbeiterbewegung ein revolutionäres Klassenbewußtsein entwickeln müsse. Hierzu bedurfte es nach ihrer Auffassung keines intellektuellen Bekenntnisses der Massen, nicht einmal der verbalen Übernahme gewisser Doktrinen. Das revolutionäre Potential der Arbeiterklasse ergäbe sich aus ihrer Situation innerhalb des Arbeitsprozesses, ihrer Zugehörigkeit zur Gewerkschaft und aus ihrem Konflikt mit dem kapitalistischen System. In einer Hinsicht (aber nur hierbei) war der Syndikalismus eine Theorie für die aufgeklärte Avantgarde des Proletariats und nicht für die Massen - und in dieser Beziehung war ihre Position der ihrer marxistischen Zeitgenossen sehr ähnlich. Die Syndikalisten waren der Auffassung, daß der Wille zur Aktion bei den Arbeitern wichtiger sei als die vom orthodoxen Marxismus postulierten unvermeidlichen Widersprüche des Kapitalismus; die Aktionsbereitschaft der Arbeiterklasse würde jedoch aus ihrer natürlichen Situation erwachsen, und daher brauchten sie letzten Endes auch nicht bewußte Syndikalisten zu sein.

Freilich glaubten diese Theoretiker, die zugleich auch militante Führer der CGT waren, selbst nicht ganz an diese These, da sonst ihre eigenen Anstrengungen sinnlos gewesen wären. Ihre Absicht war, den Arbeitern den Klassenkampf verstärkt ins Bewußtsein zu bringen und dadurch ihren Willen zur Aktion anzuspornen. Aber lassen sich diese beiden Einflüsse auf das Denken der Arbeiter - der sozioökonomische und der propagandistische - voneinander trennen? Diese Frage ist es jedoch nicht, die mich hier beschäftigt. Mir geht es vielmehr um folgendes: Die beiden genannten Studien suchten den Beweis zu erbringen, daß die syndikalistischen Ideen weder Streiks noch Gewalt verursachten. Betrachteten sich manche Arbeiter bei Konflikten, die andere Ursachen hatten, auch als Teilnehmer revolutionärer Aktionen? Beschwor eine solche Aktion Bilder herauf, die in Schlagworte übersetzt, das Verhalten, wenn auch nur am Rande, beeinflußte? Oder bestanden derartige bildliche Vorstellungen bereits als Teil der politischen Kultur? Lassen sich daher die unmittelbaren, situationsbedingten Faktoren vom vermittelten Einfluß der Sprache, in die die Arbeiter hineingewachsen waren, trennen?

Man kann also, mit anderen Worten, die "theoretischen psychologischen Erklärungen" nicht so leicht abtun, wie es Shorter und Tilly versucht haben. Jede Erklärung für das Verhalten von Personen, die nicht versucht, in die Vorstellungswelt der Beteiligten vorzudringen, muß unvollständig bleiben. Handeln erfordert den Willen zum Handeln und dieser wiederum psychologische Motivierung. Mit einer Korrelation zwischen Umweltbedingungen und Streikhäufigkeit wird noch nicht erklärt, auf welche Weise sich im Unterbewußtsein die Reaktion auf allgemeine Lebens- und Arbeitsbedingungen in Streikaktionen umsetzt. Der Kausalzusammenhang muß nicht unbedingt geradlinig sein. Externe Stimuli lösen nicht automatisch Reaktionen aus, sondern wirken auf einen Komplex von Einstellungen, Überzeugungen und Bereitschaft ein, durch die diese Stimuli erst zu Beweggründen des Handelns werden. Man kann sich hierbei nicht einfach auf das vorhandene Forschungsmaterial verlassen und die Einstellungen des Einzelnen mit der Begründung außer acht lassen, daß "die gegebenen politischen, sozialen, wirtschaftlichen und industriellen Strukturen kollektives Handeln auslösen und verändern, unabhängig von der psychischen Disposition der an einer Gruppenaktion beteiligten Individuen". Es sind aber nicht Gruppen, die handeln, sondern Individuen. Man könnte höchstens sagen, daß es, wenn sie kollektiv handeln, auch ein kollektives Unterbewußtsein mit einer kollektiven Vorstellungswelt geben muß.

Dieses Verständnis freilich bringt uns zum Begriff der politischen Kultur und der politischen Subkultur. Läßt es sich etwa bezweifeln, daß sich die Kultur der Arbeiterklasse - ihre Vorstellungs- und Gedankenwelt - von Land zu Land unterscheidet, da sie sich aus unterschiedlichen historischen Erfahrungen ableitet? Mit anderen Worten, französische, deutsche und englische Arbeiter mögen zwar ähnlich gehandelt haben, aber sind die Gründe für ihr Handeln letzten Endes nicht sehr verschieden? Leider neigt die Kliometrik dazu, alles beiseitezuschieben, was sich nicht messen läßt. Die "direkte Aktion" der französischen Arbeiter in der syndikalistischen Periode mag sich durch sozioökonomisdie Faktoren, die allen Industrieländern gemeinsam waren, "erklären" lassen und durch eine solche Erklärung als Problem beseitigen. Die gleichen Ereignisse lassen sich auch durch ideologische Faktoren "erklären", wenn auch nicht so exakt, da sie der Quantifizierung weniger zugänglich sind. Der Umstand, daß die erste Erklärung die zweite scheinbar überflüssig macht, ist noch kein schlüssiger Beweis für die Irrelevanz der letzteren. Die revolutionäre Tradition in Frankreich zum Beispiel ist keine Erfindung von Historikern, die sich der Ideengeschichte verpflichtet fühlen. Man muß nur den Versuch machen, sich in die französische Arbeiterbewegung in den Anfangsjahren dieses Jahrhunderts einzufühlen - durch Lektüre, nicht durch Zählung -, um einen Eindruck der ihr innewohnenden Kraft zu gewinnen.

Die syndikalistischen Führer besaßen zweifellos einen gewissen Einfluß auf das Denken der militanten Arbeiter. Wenn Stearns erklärt, frühere Historiker der französischen Arbeiterbewegung hätten mit ihrer Annahme, die Arbeiter seien leicht durch Ideen zu mobilisieren gewesen, unrecht gehabt, dann unterschätzt er mit Sicherheit die Arbeiterklasse.

Einerlei, ob die Vorstellungswelt im Verlaufe des politischen Sozialisationsprozesses oder intuitiv im Klassenkonflikt gewonnen wurde oder ob Ideen auch bewußt aus Reden, Zeitungen und Flugschriften übernommen wurden, die Ideen der Syndikalisten scheinen jedenfalls unter gewissen Gruppen der französischen Arbeiterbewegung einige Gültigkeit besessen zu haben. Sämtliche zeitgenössischen Beobachter waren sich hierin einig, und sie können nicht alle die Situation falsch verstanden haben. Wir werden nie wissen, wie viele Syndikalisten es tatsächlich gegeben hat. Heute lassen sie sich nicht mehr zählen. Ebensowenig können wir die "bare Münze" solcher Ideen oder ihre Wirkung, die sie tatsächlich auf die Aktionen hatten, ermitteln.

Was hingegen die Träger der Gewalt angeht, wenn unter Gewalt mehr als nur ein gelegentliches Handgemenge verstanden werden soll, so sind verallgemeinernde Daten ohnehin irrelevant. Wesentlich sind hier die marginalen Erklärungen: Was führte einen bestimmten Menschen dazu, so zu handeln, wie er es tat? Um mit Bomben Schaden anzurichten, braucht man nicht viele Akteure - eine einzige Bombe genügt. Daher müssen derartige Erklärungen vor allem im strengen Sinne psychologischer Art sein. Welche persönlichen Faktoren auch immer eine aktivistische Einstellung hervorbringen mögen, es gibt jedenfalls genügend Fallstudien, die den Einfluß von Ideen auf empfängliche Köpfe zeigen können. In dieser Hinsicht übte der revolutionäre Syndikalismus, ebenso wie der Anarchismus vor ihm, gewiß seine Wirkung aus. Im Gesamtbild der Geschichte der Arbeiterbewegung mag diese Wirkung nur eine Randerscheinung gewesen sein. Aber wenn es um wirkliche Gewalt geht, ist auch die Randerscheinung wichtig, wie alle, die in Gesellschaften leben, in denen es zu gewalttätigen Aktionen kommt, bereitwillig zugestehen werden.

Anmerkung:
1.) Dieser Artikel stützt sich teilweise auf meine frühere Veröffentlichung, Revolutionary Syndicalism in France, Cambridge 1970. Die zwei Arbeiten, auf die im folgenden Bezug genommen wurde, sind: E. Shorter und C.Tilly, Strikes in France 1830-1968, Cambridge 1974; P. N. Stearns, Revolutionärer Syndicalism and Frendi Labor, Rutgers 1971.

Originaltext: F.F.Ridley - Syndikalismus, Streik und "Revolutionäre Aktion" in Frankreich. Texte zur Theorie und Praxis des Anarchismus, Band 2 (ohne Jahresangabe, vermutlich 1970er?). Digitalisiert von www.anarchismus.at


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