"Statt Regierung Selbstverwaltung"

Interview mit einem Aktivisten der Freien ArbeiterInnen Union (FAU/IAA)

FAU - Was ist das überhaupt?

Die FAU ist die Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter Union, eine anarchosyndikalistische Gewerkschaft. Sie ist nicht eine Gewerkschaft im üblichen Sinne wie etwa der DGB, die sich als Dienstleisterin für andere versteht, sondern sie ist eine Selbstorganisation - wir handeln also nicht für irgend jemanden, sondern für uns selbst. Das hat zur Konsequenz, dass unsere Aktivitäten auf der gegenseitigen Hilfe beruhen, ohne dass wir dabei Sachen für andere erledigen. Weiterhin bleiben wir nicht nur bei Tagesthemen stehen, sondern versuchen auch die Gesellschaft zu ändern. Perspektivisch geht es darum, dass man die Regierung entbehrlich macht, die Regierung abschafft, und an Stelle dessen sich auf die Verwaltung der Wirtschaft konzentriert, also statt Regierung Selbstverwaltung. Die Wirtschaft wollen wir von der Basis aus verwaltet sehen, ohne irgendwelche Regierungsapparate oder Bürokratie dazwischen. Eine Wirtschaft die ihren Schwerpunkt auf die soziale Effizienz legt, anstatt auf Konkurrenz und Leistungsdruck, so würde ich es sagen.


Das ist praktisch dann Anarchosyndikalismus, ja?

Anarchosyndikalismus ist sozusagen das Mittel, um zu einer anderen Gesellschaft zu kommen. Eine Gewerkschaftsbewegung, die nicht nur bei Tageskämpfen stehenbleibt, sondern die das Ziel einer freien Gesellschaft vor Augen hat.


Ihr kümmert euch also mehr nur um Leute, die lohnarbeiten?

Das ist eigentlich egal, es kommt bei uns nicht darauf an, ob jemand eine Arbeit hat, sondern eher darauf, welche Funktion er innehat. Arbeitgeber, politische Funktionsträger oder in repressiven Staatsorganen Tätige können bei uns z.B. nicht Mitglied werden. Normale Arbeitnehmer, Arbeitslose, solche Menschen versuchen wir anzusprechen.


Was kann man sich unter der von Dir genannten Selbsthilfe konkret vorstellen?

Wenn zum Beispiel, auf das Arbeitsgebiet bezogen, ein Konflikt da ist - dass etwa jemand von seinem Arbeitgeber nicht bezahlt wird, man sich dann drum kümmert, dass er sein Geld kriegt. Im Baugewerbe, gerade in Berlin, ist das ganz häufig, dass Löhne nicht gezahlt werden. Aber auch woanders kommt es vor. Wenn da z.B. jemand von uns drin ist, versuchen wir, die Löhne reinzukriegen. Da sind wir allerdings noch am Anfang. Es wird noch ein paar Jahre dauern, bis wir da eine Praxis haben, weil wir noch eine sehr kleine Organisation sind.


Abgesehen von solchen Sachen - was macht Ihr auf Eure langfristige gesellschaftliche Perspektive bezogen, nicht nur arbeitsspezifisch, sondern auch zum Beispiel auf kultureller Ebene?


In Bezug auf die Arbeit ist es so, dass man lernt, sich nicht auf jemand anderes zu verlassen, also auf DIE Gewerkschaft, den Chef oder die Politiker, sondern dass man versucht, die Probleme selbst zu lösen und das kollektiv, also gemeinsam. Das ist auch eine Perspektive, dass man eine andere Motivation zum Handeln hat. Natürlich sind wir auch kulturell tätig, organisieren Konzerte oder Veranstaltungen, Lesungen, je nachdem, wie vor Ort die Möglichkeiten da sind. Die Ortsgruppen bzw. Syndikate (=Gewerkschaften) haben unterschiedliche Größen und unterschiedliche Möglichkeiten, überhaupt zu handeln.


Apropos Kultur - Ihr habt letztens in Neustrelitz ein Wochenende lang mehrere Veranstaltungen gemacht?

In Neustrelitz hatten wir eigentlich keine kulturelle Veranstaltung, sondern ein Regionaltreffen. Um besser regional und lokal arbeiten zu können, ist die FAU in Ortsgruppen bzw. Syndikate aufgeteilt, im näheren Bereich bilden diese eine Region, in der sie ohne größere Probleme in Kontakt bleiben können. Gegenwärtig gibt es vier Regionen, Nord, Ost, Mitte und Süd. An besagtem Wochenende fand ein Regionaltreffen der Region Ost statt, eines von mehreren im Jahr, immer zwischen dem Pfingstkongress, einem allgemeinen Kongress der gesamten FAU. Eines dieser Regionaltreffen war halt in Neustrelitz, wo die Organisation betreffende Sachen diskutiert wurden, seien es Demonstrationen, an denen man sich beteiligen will, kulturelle Veranstaltungen, zu denen man einlädt, oder dass man, wenn jemand gerade einen Arbeitskampf, einen Prozess oder etwas ähnliches hat, sich darüber informiert. Außerdem werden auch Dinge besprochen, die die gesamte FAU betreffen und die beim Pfingstkongress eingebracht werden, und die einer längeren Diskussion in den Ortsgruppen bedürfen.  Zu diesem Regionaltreffen gab es ein kleines kulturelles Rahmenprogramm, ein Konzert, es wurde ein Film gezeigt, damit das ganze in einer etwas lockeren und entspannteren Atmosphäre stattfindet. Die Erfahrung der Vergangenheit hat gezeigt, dass die Stimmung ziemlich schlecht ist und es wenig bringt, wenn die Treffen auf strukturelle Sachen beschränkt sind.


Zu Regionaltreffen werden ja sicher nicht alle in der FAU organisierten Leute hinfahren, sondern es werden Vertreter gewählt oder etwas ähnliches. Sind das nicht wieder Hierarchien?

Es gibt da eigentlich keine Hierarchien. Es fahren immer die Leute hin, die gerade Zeit haben, in manchen Ortsgruppen sind es allerdings häufig mal dieselben, weil die anderen keine Lust haben. Es ist aber nicht so, dass die Treffen der willkürlichen Beschlussfassung dienen, sondern eher der gegenseitigen Information über stattgefundene Dinge, die dann in den Gruppen diskutiert werden. Beschlüsse werden beim Treffen eigentlich nur per imperativem Mandat gefasst, das heißt, dass die Delegierten nur nach dem im Vorhinein gefassten Beschluss der Ortsgruppe zu entscheiden haben. Man muss sich dazu vorher in der Ortsgruppe einigen, welche Spielräume es beim Entscheiden gibt und wo man etwa überhaupt nicht zustimmen würde. So wird dann mit zum Teil längeren Diskussionen ein Konsens gesucht und versucht, die Sache zu einem gemeinsamen Beschluss zu bringen. Es läuft da noch nicht alles ideal, aber wir versuchen's.


Beschluss und Konsens - ist ein Beschluss nicht die Abstimmung der Mehrheit über die Minderheit?

Ein Konsens meint bei uns schon, dass sich alle einig sind. Das Problem sind natürlich Fälle, in denen man sich nicht einig ist, und die dann von Mehrheitsverhältnissen abhängen. Da hängt es von der Dringlichkeit des Falles und der Toleranz der anderen ab. Wenn eine Minderheit zum Beispiel einem von der Mehrheit gewollten Antrag nicht unbedingt zustimmt, aber ihn akzeptiert, wäre das bei uns auch ein Konsens. Schwieriger wird es, wenn ein Entschluss von Gruppen überhaupt nicht mitgetragen wird, er aber trotzdem gefasst wird, einfach um die Organisation arbeitsfähig zu erhalten. Dann sind diese Gruppen nicht verpflichtet, den Beschluss mit auszuführen, so wie sie ihn für sich nicht akzeptieren müssen. Nur dem Beschluss aktiv zuwiderhandeln dürfen sie nicht. Aber das sind seltene Fälle, dass solche krassen Gegensätze da sind.


Gibt es eine Zeitung oder so etwas in der Art als Möglichkeit zum Austausch und zur Information?

Wir haben die "Direkte Aktion", das ist die allgemeine Zeitung der FAU, die zweimonatlich erscheint. Einige Gruppen haben noch Lokalblätter, etwa Fanzines oder kleine Gewerkschaftszeitungen.


Wie viele Menschen sind denn in der BRD in der FAU organisiert?

Organisiert sind wir, wie gesagt, nicht so viele, es sind vielleicht einhundertsiebzig Leute (Anm.: 2010 sind`s doch einige mehr...) , aber es findet in den letzten zwei, drei Jahren meines Erachtens nach ein ziemlicher Wandel statt. Seit ihrer Wiedergründung 1977 hat die FAU zwanzig Jahre in einem Dornröschenschlaf mit kontinuierlich unter einhundert Leuten gesteckt. Seit kurzem wird versucht, nicht mehr so starr zu sein und konkret zu gucken, was heute getan werden kann. Ich denke mal, es wird sich in den nächsten fünf, sechs Jahren entscheiden, ob das eine größere soziale Bewegung werden kann, ob die Inhalte dann dermaßen ausdiskutiert sind, dass die Organisation sich in der Gesellschaft entwickeln und entfalten kann.


Ist die Situation in anderen Ländern ähnlich?


Die Entwicklung ist eigentlich in den meisten anderen Ländern positiv, in einigen klappt es nicht so, in Spanien zum Beispiel, wo es sehr viele Spaltungen gegeben hat und die Organisation dadurch sehr zersplittert ist. In Frankreich z.B. hat die dortige CNT mittlerweile etwa 4000 Mitglieder, allerdings gibt es auch dort eine Spaltung. Die CNT nimmt an Arbeitskämpfen in größerem Umfang teil und stellt bei der 1. Mai-Demonstration in Paris bereits den größten Block. Auch in Osteuropa, etwa in der Ukraine, gibt es ein Wachsen der Organisationen.


Gab es denn früher stärkere anarchosyndikalistische Bewegungen? Einige Ereignisse fallen einem ja da spontan ein, dass etwa Erich Mühsam nach dem ersten Weltkrieg an der Räteregierung in München beteiligt war...

Der war auch in der FAUD. Die FAUD, die Freie Arbeiter-Union Deutschlands, wie sie sich damals genannt hat, war damals eine Massenbewegung in Deutschland, war ziemlich stark an den Hafenarbeiterunruhen in Bremen oder an den Kämpfen im Ruhrgebiet beteiligt. In den 20er Jahren hat die FAUD an die 200.000 Mitglieder in Deutschland gehabt und war die drittgrößte anarchistische Bewegung der Welt. Das Problem ist nur, dass zu Beginn der 30er Jahre die anarchistische Bewegung wie alle linken Bewegungen in Deutschland rapide abgenommen hat, die Wählerstimmen für bestimmte Parteien haben sich zwar erhöht, aber es gab immer weniger organisierte aktive Mitglieder. Zu Beginn der Nazi-Diktatur waren nur etwa 4.000 Leute in der FAUD organisiert. Durch den Faschismus ist das Ganze ja zerschlagen worden, nicht nur in Deutschland, auch zum Beispiel in Spanien - wo die CNT mit knapp zwei Millionen Mitgliedern die größte anarchistische Organisation der Welt gewesen ist, und das Funktionieren des Anarcho-Syndikalismus während der Revolution von 1936 bestätigt hat.  Die einzige europäische Organisation, die die Wirren der Morde in den Konzentrationslagern, den persönlichen Rückzügen, des Kontaktverlustes und der Blockkonfrontation einigermaßen überstanden hat, ist die SAC in Schweden, die jedoch sehr reformistisch geworden ist und sich etwa an lokalen Wahlen beteiligt.


Wie ist denn Eure Einstellung zu Gewalt als Teil der gesellschaftlichen Veränderung?


Es gibt Demonstrationen, an denen Leute von uns teilnehmen, wo Gewalt angewandt wird, bei den Protesten gegen den Weltwirtschaftsgipfel etwa. Gewalt auf Demonstrationen ist jedoch nicht unbedingt das, was wir uns unter Aktionen vorstellen; während letzterer provoziert auch meist die Polizei die Gewalt und es kommt zu den üblichen Pressemeldungen. Aktionen sind für uns aber eher Dinge, durch die wir versuchen etwas durchzusetzen - bei einem Arbeitskampf zum Beispiel. Auch bei diesem könnte es zu Gewalt kommen. Wenn jemand sein rechtmäßiges Geld verlangt und dabei bedroht wird, gestehen wir jedem zu, sich dagegen zu wehren. Wir sind für eine Radikalisierung von zum Beispiel Streiks, durch etwa Blockaden, Besetzungen oder anderes Verschiedenes. Eine gesellschaftliche Änderung, gerade wenn sie irgendwessen Geldbeutel schmälert, wird glaube ich kaum aufgrund von gewaltfreien Moralappellen stattfinden können, so schade das auch sein mag...


In letzter Zeit ist es hier und in anderen kleineren Städten zu merken, dass sich gerade Jugendliche nicht mehr interessieren für Ideen von Selbstorganisation und linker Aktivität.

Das ist ein Problem der linken Szene, meine ich, bei uns ist das Interesse da und es kommen auch Jugendliche zu uns. Unsere Organisation ist halt gerade im Wandel, es bricht jetzt vieles auf und es kommt zu mehr gemeinsamen kulturellen Aktivitäten, Veranstaltungen oder Feiern etc.  Ich denke aber wir laufen niemanden hinterher, wir erwarten schon, dass die Leute auch etwas tun wollen und es zur GEGENSEITIGEN HILFE kommt und nicht zu Dienstleistungen. (Zwischendurch entspannte sich noch eine interessante Diskussion, die nicht vorenthalten werden soll: )


Inwiefern ist Anarchosyndikalismus eine andere Form für das persönliche Leben? Gerade aus größeren Städten kennt man ja linke Szenen...

Dass es Szenen gibt, ist, glaube ich, nicht unbedingt Anarchosyndikalismus. Die Leute in Szenen schaffen sich lieber ihr eigenes "kleines Paradies" und kapseln sich von der Gesellschaft ab. Der Beweggrund des Anarchosyndikalismus ist es eher, in der Gesellschaft zu wirken, einer problematischen Gesellschaft sicherlich, und zu versuchen - innerhalb und nicht außerhalb der Gesellschaft - eine Entwicklung zum Besseren herbeizuführen.


Könnte das nicht zu Anpassung und dann Reformismus werden?

Man passt sich ja nicht an. Aber als Autonomer zum Beispiel wirst du zu Leuten, die in der Durchschnittsgesellschaft aufgewachsen sind und dort ihre Prägung bekommen haben, keinen Zugang mehr finden. Ihr seid einfach anders geprägt und es ist ein Missverständnis da - zwischen "normalen" Menschen, die einem für die Gesellschaft "normalen" Leben nachgehen, und Leuten, die sich abkapseln und versuchen, ihr eigenes Ding durchzuziehen. So setzt bei den "normalen" Menschen keine Entwicklung ein. Man sollte meiner Meinung nach vielmehr versuchen, sie aktiv miteinzubeziehen, und da erfolgt von unserer Seite aus keine Distanzierung von diesen Leuten. Wir versuchen, innerhalb der bestehenden Verhältnisse eine Veränderung herbeizuführen, auch wenn es schwierig ist. Wir wollen uns aber nicht unser kleines Paradies schaffen, die Gesellschaft könnte dieses sowieso jederzeit beseitigen.


Aber wäre es nicht möglich, durch dieses kleine Paradies der Gegenkultur der dominanten Mehrheitskultur vorzuleben, dass es auch anders gehen kann, dass man so interessierte Leute für sich gewinnen kann und die von der Alternative überzeugt sind? Man ist ja nicht losgelöst vom Bestehenden, man trägt ja die Szene nach außen.

Szene würde ich problematisch bewerten, weil es ein Stillstand, eine Absonderung von der Gesellschaft ist, meiner persönlichen Meinung nach Unfug. Unser Verhalten in der Gesellschaft, das direkte Handeln und das gemeinsame und selbständige Lösen von Problemen, ist schon ein Vorleben, dass es anders geht. Aber das tun wir in dem Umfeld, in dem wir uns befinden. Es gibt bestimmt in der FAU auch Leute, die in der Szene drinstecken, aber so gibt es auch Leute in "normalen" Arbeitsverhältnissen oder solche, die arbeitslos sind. Die Grenze zu dem "Normalen" ist bei uns eher, wie man sich verhält und wie man handelt, dass man halt direkt handelt, dass man keine repressiven Funktionen wahrnimmt, etwa als Arbeitgeber oder Polizist. Eine Gegenkultur kann sehr schnell zum "Spiegelbild der Gesellschaft" ausarten, einige Angehörige der linken Szene sehen sich ja auch als "Spiegelbild der Gesellschaft". Scheiße im Spiegelbild würde ich sagen.


Ich glaube eher das Gegenteil, dass es schwieriger ist, innerhalb des Bestehenden Werte aufrecht zu erhalten und vorzuleben, die du für eine freie Gesellschaft bewahren und fördern willst, etwa Antisexismus oder Hierarchie, auch in der Familie. In "gegenkulturellen", ein bisschen geschlossenen Räumen ist das besser möglich, weil die Leute dort unbeeinflusster von dem Dreck um sie herum solche Sachen ausdiskutieren können.

Das sehe ich halt eher entgegengesetzt, dass etwa die Antisexismusdebatte z.T. mit einem solchen Fanatismus geführt wird, dass es teilweise fast schon Geschlechtsfaschismus ist, wo man nicht diskutiert, sondern ausgrenzt. Wo man bestehende Probleme in familiären oder sexuellen Beziehungen nicht thematisiert und ausdiskutiert, sondern eine Meinung, die einem nicht genehm ist, lediglich ausgrenzt. Das ist das, was meiner Meinung nach in der linken Szene passiert.


Aber das ist doch etwas, was in der bestehenden Gesellschaft noch mehr passiert.

Und gerade deshalb sehe ich die linke Szene als Spiegelbild dieser Gesellschaft, weil sie Probleme auf dieselbe Art angeht, durch Ausgrenzung. Nicht eine Entwicklung findet statt, sondern eine Ausgrenzung von nicht genehmen Meinungen. Ich meine, dass wir eine problematische Meinung durch eine Entwicklung, nicht durch Ausgrenzung, zu einer anderen Meinung zu bringen versuchen.


Dafür ist die sogenannte Szene in Neustrelitz zu klein, als dass es hier solche Probleme geben würde, aber ich denke mal nicht, dass Ausgrenzung der erste Schritt ist. Wenn es zum Beispiel um Leute geht, die nach Rechts tendieren, aber Interesse an dieser "Szene" haben, dass natürlich zuerst Gespräche erfolgen und gesehen wird, wie sich der Mensch verhält. Wenn er aber seine Meinung nicht ändert, die vollkommen widersprüchlich ist zu dem bestehenden Minimalkonsens, in Punkten wie Sexismus oder Rassismus etwa, dass er dann rausfliegt. Als letzte Konsequenz ist das das Mittel, um ihn zum Nachdenken zu bringen, ob er seine Meinung überdenkt und reflektiert, warum die anderen dagegen sind, oder ob er darauf beharrt und akzeptiert, dass er dort fehl am Platz ist.

Das Problem sehe ich eher darin, das ist auch nicht von der Größe der Szene abhängig, dass wenig inhaltliche Auseinandersetzung stattfindet. Ich glaube nicht, dass es in Neustrelitz anders ist, ich bin nicht drin, aber was ich in Berlin gesehen habe, war so, dass inhaltliche Auseinandersetzungen häufig nicht stattfinden. Für AntisexistInnen ist es häufig wichtiger, dass man mit dem großen i spricht und es in jedem zweiten Wort verwendet, die Beziehung untereinander bleibt vollkommen schnuppe. Das habe ich bei bestimmten Punks gesehen, die einem fast die Fresse einschlagen, weil eine bestimmte feministische Wortwahl nicht gebraucht wird, aber untereinander war bei den Leuten die Beziehung derart von sexistisch, ohne dass es eine Auseinandersetzung darüber gab. Das Problem ist in meinen Augen halt, dass man in Gefahr gerät, auf Oberflächlichkeiten zu achten - wie drücke ich mich politisch korrekt aus und bringe meine Meinung rüber - die Meinung an sich aber gerät ins Hintertreffen und wird inhaltslos.


Das kann ich mir ehrlich gesagt gar nicht vorstellen, weil es dem gesunden Menschenverstand widerspricht, dass diese Auseinandersetzung mit den Problemen nicht stattfindet. Das Reden darüber ist doch gerade der erste Schritt...

Es ist auch ein Problem, wie man darüber redet. Bei diesem konkreten Fall verstehe ich zum Beispiel überhaupt nicht, wie man durch eine Änderung der Sprache die Veränderung einer Beziehung erreichen will. Wie man von oben herab durch eine kleine Elite von sich selbst als emanzipatorisch verstehenden Leuten versucht, die Sprache zu ändern - was man ja auch schafft. Aber was ändert sich dadurch konkret? - nix. Selbst die NPD (= rechtsextreme Partei in Deutschland, Anm.) verwendet inzwischen den emanzipatorischen Sprachstil mit dem großen i, aber ich weiß nicht, ob nun dahinter unbedingt emanzipatorische Kräfte stecken. Für mich ist es wichtiger, dass nicht Oberflächlichkeiten, sondern Substanz, also das Wesentliche an der Sache, die Beziehungen der Menschen untereinander, diskutiert werden. Und das fehlt halt.


Na gut, da kann ich Dir allgemein zustimmen, das gibt es selbst hier. Es werden auffällige Sachen übernommen, die vielleicht ein Zugehörigkeitsgefühl erzeugen, aber bestimmte Werte, die mit diesen Schlagwörtern verbunden sind, werden nicht übernommen.

Quelle:
Disorder, Februar 2001

Originaltext: http://www.free.de/schwarze-katze/texte/as05.html (Änderung: neue Rechtschreibung)


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