Anne Phillips-Krug - Bloß ein paar Huren

Ein Bordell in Patagonien verweigert sich ­Soldaten, die streikende Arbeiter erschossen haben. Bis heute gilt die Episode aus dem Jahr 1922 als Beispiel für Zivilcourage

Eines der alten Gräber auf dem Friedhof in Puerto San Julián im Süden Argentiniens ist stets mit frischen Blumen geschmückt. Weshalb dies geschieht, erklärt der Schriftsteller Osvaldo Bayer im Arbeitszimmer seines Hauses in Linz am Rhein und erzählt von den Heldinnen des kleinen Städtchens in Patagonien. Noch heute kämen oft Männer und Frauen vorbei, um das Grab von Paulina Rovira – der ehemaligen Besitzerin des Bordells La Catalana – zu besuchen. In seinem Roman Aufstand in Patagonien schildert der 83-jährige Bayer im Kapitel Des Siegers einzige Niederlage den Widerstand von fünf Prostituierten aus Puerto San Julián gegen die Willkür des argentinischen Militärs. Um gegen die Erschießung von über 1.500 streikenden Landarbeitern durch einen Trupp des Oberstleutnants Varela zu protestieren, weigerten sie sich Anfang 1922, den Soldaten gefällig zu sein. Der Erinnerung an die Arbeiteraufstände in Patagonien während der zwanziger Jahre gilt dieses Aufbegehren bis heute als einsames Beispiel von Zivilcourage. Das Geschehen von damals liegt nun auch dem Film "Die schwarze Legende" des argentinischen Regisseurs Adrián Jaime zugrunde, der im Mai abgedreht werden soll. Im Mittelpunkt der Handlung stehen Frauen, die ein Theaterstück proben, das auf Osvaldo Bayers Des Siegers einzige Niederlage aufbaut. Die widerständigen Huren werden durch Frauen unterschiedlicher Nationalität dargestellt, die im heutigen Argentinien als Prostituierte arbeiten.

Generalstreik für gerechtere Löhne

Anfang des 20. Jahrhunderts prägten Schaffarmen das Bild Patagoniens. Vier Fünftel des Landes gehörten englischen Großagrariern – den Nachfahren derer, die ab 1890 die Falklandinseln verließen, um sich an der patagonischen Küste anzusiedeln. Der Wollboom begann im Jahr 1877 mit der Einfuhr von Schafen, das Übermaß an Land und überaus billiger Arbeitskraft stellte die patagonische Wollindustrie bald über jede Konkurrenz. Die auf den Estancias beschäftigten Arbeiter – unter ihnen viele Chilenen – lebten dabei oft in extremer Armut und ohne soziale Rechte. Politik und Polizei arbeiteten den Latifundisten zu. Erst als Arbeiter wie der Spanier Antonio Soto, der Gaucho Facón Grande oder der Deutsche Pablo Schulz auftauchten, die sich zur Arbeiterbewegung zählten, sollte sich das ändern, meint Osvaldo Bayer. „Argentiniens Arbeiterbewegung war vom Anarchismus italienischer und spanischer Einwanderer geprägt, während der Marxismus mit den Deutschen kam, die bald eine Sozialistische Partei gründeten. Anarchismus, Syndikalismus und Marxismus – das waren einst die großen Bewegungen.“

Angeführt von russischen, polnischen und deutschen Anarcho-Syndikalisten begannen die Landarbeiter in der Patagonien-Provinz Santa Cruz Anfang der zwanziger Jahre, für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen, und traten in einen Generalstreik für gerechtere Löhne, ausreichend Lebensmittel und Kerzen für ihre Unterkünfte. Die englischen Großgrundbesitzer verglichen daraufhin ihr Schicksal umgehend mit dem Los russischer Aristokraten nach der Oktoberrevolution. Und Präsident Hipólito Yrigoyen schickte Oberstleutnant Varela, um mit den Streikenden abzurechnen.

Osvaldo Bayer erzählt, seine Eltern hätten damals in Río Gallegos gewohnt, der Hauptstadt von Santa Cruz. „Auch als wir schon lange in Buenos Aires lebten, erzählte unser Vater oft, was er in Patagonien erlebt hatte. Er war ein sensibler Mensch und hatte unter diesen Erfahrungen sehr gelitten. In den sechziger Jahren studierte ich dann Geschichte und begann, die Streiks von 1921/22 zu erforschen, über die zuvor nie irgendetwas veröffentlicht worden war. Ich recherchierte, sichtete Dokumente der Armee, sprach mit Zeitzeugen und schrieb schließlich mein Buch Aufstand in Patagonien. Das Ganze dauerte acht Jahre und kostete mich acht Jahre Exil, als 1976 die Obristen um General Videla in Argentinien eine Militärdiktatur errichteten.“

Bayer verfasste auch das Szenarium für Héc­tor Oliveras’ gleichnamigen Film Aufstand in Patagonien, der 1974 bei den Westberliner Filmfestspielen einen Silbernen Bären gewann und überall mit großer Begeisterung aufgenommen wurde. Ursprünglich – erinnert sich Bayer – sollte der Film mit der Episode über die Prostituierten von Puerto San Julián enden und zeigen, wie Varela seine vom Töten erschöpften Soldaten in die Bordelle der Umgebung schickt. Als eine Gruppe in Puerto San Julián eintrifft, kommt ihnen die Madame des Freudenhauses La Catalana schon auf der Straße entgegen. Es gebe ein Problem, teilt sie den Männern mit. Und tatsächlich: als die Soldaten den Salon betreten wollen, verweigern ihnen Maud Foster, Consuelo García, Ángela Fortunato, María Juliache und Amalia Rodríguez den Zutritt. Vom Massaker an den Arbeitern entsetzt, gehen sie mit Besen und Geschrei auf die Soldaten los: „Mörder!“, „Schweine!“, „Mit Mördern gehen wir nicht ins Bett!“, rufen sie. Den Soldaten vergeht die Lust – die Frauen werden bald verhaftet, der Nachtklub bleibt fortan geschlossen.

Doch dieser geplante Schluss fiel der Zensur zum Opfer. In letzter Minute – die antikommunistischen Todesschwadronen haben schon sein Todesurteil in einer juntafreundlichen Zeitung veröffentlicht – kann Osvaldo Bayer 1976 mithilfe des deutschen Kulturattachés vor den Schergen der Militärjunta ins Ausland fliehen. Er lebt zunächst in Essen, dann in Westberlin, später in Linz am Rhein. Dass der vierte Band von Aufstand in Patagonien, der in Argentinien nicht mehr veröffentlicht werden konnte, schließlich in Deutschland erschien, erstaunt den Schriftsteller bis heute: „Das ist doch eine unglaubliche Sache, wenn ein Buch, das von einem solchen Augenblick in der argentinischen Geschichte handelt, auf Spanisch in Deutschland veröffentlicht werden muss. Aber ich war eben im Exil. Als das 1983 vorbei war, traf ich auf ein komplett verändertes Land. Die Militärs mussten gehen, weil sie 1982 den Falkland-Krieg gegen Großbritannien verloren hatten. Triumphieren konnten sie trotzdem: Argentinien war zu einem anderen, der Angst ausgelieferten Land geworden. Es gab eine Jugend, die nicht mehr über Politik reden, sondern sich nur noch mit alltäglichen Dingen und Rock’n’ Roll beschäftigen wollte. Während der sechziger und siebziger Jahre hatten sich junge Argentinier für die Revolution begeistert und Kuba als Beispiel empfunden.”

Denkmal auf dem zentralen Platz

Dennoch hat sich im vergangenen Jahrzehnt in puncto Geschichtsbewusstsein viel getan. Mittlerweile erinnert eine Reihe von Monumenten in Santa Cruz und an anderen Orten an die Textilarbeiter, die einst in den großen Streiks des frühen 20. Jahrhunderts ihr Leben ließen. Was die couragierten Frauen aus Puerto San Julián betrifft, so ist über ihr weiteres Schicksal wenig bekannt. Man weiß, dass die meisten des Ortes verwiesen wurden und niemals wiederkamen – bis auf Paulina Rovira, die Prinzipalin des Hurenhauses.

Dennoch: „Diese Frauen gelten mittlerweile als Heldinnen, besonders unter Studenten“, freut sich Bayer. „Bei einem meiner Besuche sagten sie mir: Osvaldo, wir müssen ihnen ein Denkmal errichten und zwar auf dem zentralen Platz der Stadt. Ich fand das eine wunderbare Idee und war sofort bereit, mich für ein solches Monument einzusetzen. Am nächsten Morgen kam der Bürgermeister in mein Hotel und meinte: Herr Bayer, glauben Sie nicht, dies geht ein bisschen zu weit? Sehen Sie, an diesem Platz erinnern wir an San Martín, unseren großen Nationalhelden, da können wir nicht ein Mahnmal für ein paar Huren danebenstellen. Eine Bronze-Plakette mit den Namen der Frauen sei genug. Im Endeffekt haben sich die Studenten zerstritten, und aus dem Projekt wurde sowieso nichts. Aber wenn Touristen nach Puerto San Julián kommen, ist der Platz, an dem damals das Bordell stand, eines ihrer Ziele. Und alle kennen die Geschichte der fünf Frauen.”

Originaltext: http://www.freitag.de/politik/1115-1922-blo-ein-paar-huren


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