Das Leben von August Spies
Möbelschreiner, im Alter von 31 Jahren zum Tod verurteilt
»Barbaren, Wilde, Analphabeten, unwissende Anarchisten aus Mitteleuropa; Männer, die den Geist unserer freiheitlichen amerikanischen Institutionen nicht begreifen können!« - ich bin einer von Ihnen. Mein Name ist August Vincent Theodor Spies. Ich wurde im Jahre 1855 inmitten der Ruinen der alten Raubritterburg Landeck auf dem Gipfel eines hohen Berges, dem Landeckerberg, im Herzen Deutschlands geboren. Mein Vater war Förster im Staatsdienst, das Forsthaus Eigentum der Regierung; und es erfüllte auf eine andere Weise den gleichen Zweck wie die alte Burg einige Jahrhunderte zuvor. Das edle Raubrittertum, das seine Spuren in den Ruinen der Burg sichtbar hinterlassen hatte, hat weniger gefahrvollen und gewaltloseren Formen von Plünderung und Raub Platz gemacht, wie sie heute von unserer Regierung betrieben werden. Aber während die Leute diese und andere Ruinen in der Umgebung als alte »Raubritterburgen« bezeichnen, sprechen sie mit großer Ehrerbietung von den gegenwärtigen Regierungsgebäuden, in denen sie täglich und stündlich ausgenommen und betrogen werden, und ich glaube, sie würden sogar für die Erhaltung dieser Institutionen kämpfen.
Von seiner Geschichte her betrachtet ist mein Geburtsort sehr interessant. Und das ist die einzige Entschuldigung, die ich vorbringen und angeben kann, warum ich mir gerade diesen Platz ausgesucht habe. Ich gebe zu, daß ich den Fehler, als „Ausländer“ geboren zu werden, eigentlich nicht hätte machen dürfen, aber kleine Kinder, vor allem ungeborene, machen nun mal Fehler! Ich will jedoch nichts gegen so kluge und intelligente Männer wie Mr. Grinnell und seine Rechtsprechung gesagt haben, die Männer an den Galgen bringt, weil sie in der Wahl ihres Geburtsortes etwas unüberlegt gehandelt haben. Vergehen dieser Art verdienen es, hart bestraft zu werden: »Die Gesellschaft muß sich gegen solche Angriffe schützen.«
Aber reden wir über Burg Landeck. Ich möchte den Leser bitten, mir an einem schönen, sonnigen Tag dorthin zu folgen. Wir besteigen den alten Turm. Vorsicht, stolpern Sie nicht über die Trümmer! Das da? Ach, das ist ein Teil einer alten Folterbank. Wir fanden es in einem der unterirdischen Gänge, zusammen mit den Überresten alter Waffen, die in früheren Zeiten dazu verwandt wurden, die Ordnung unter den gefangengenommenen Opfern aufrechtzuerhalten. Aber warum läuft es Ihnen denn kalt über den Rücken? Es ist richtig, die Ausrüstung eines Polizeibeamten unserer Tage ist nicht so plump und barbarisch, aber ist sie nicht ebenso wirkungsvoll und dient sie nicht dem gleichen Zweck? Kommen Sie, nehmen Sie meine Hand, ich helfe Ihnen zu dem höchsten Punkt der Ruine. Passen Sie auf, es gibt hier Fledermäuse. Diese geflügelten Freunde der Dunkelheit haben große Ähnlichkeit mit Königen, Priestern, ganz allgemein, mit Mächtigen und Herrschern. Sie leben in den Ruinen der „guten, alten Zeit“ und werden ziemlich unangenehm, wenn man sie aufschreckt oder ans Tageslicht zerrt.
Aber wir haben den höchsten Punkt erreicht. Eine großartige Aussicht, nicht wahr? Dort drüben, im Westen, sehen Sie eine andere Ruine. Das ist Burg Dreieck. Sie können sie zu Fuß in 30 Minuten erreichen. Und dort, im Südwesten, liegt in gleicher Entfernung Burg Wildeck. Und nun blicken Sie hinunter auf die fruchtbaren Täler, die wundervollen Wiesen und Felder und die blühenden Dörfer. Etwa ein Dutzend liegen am Fuße dieses Berges. Wissen Sie, daß diese Dörfer und andere, die während des 30jährigen Krieges verwüstet wurden, den Raubrittern, die von diesen drei Burgen über sie herrschten, tributpflichtig waren? Ja, die Bewohner dieser Dörfer haben ihr Leben lang von Sonnenaufgang bis spät in die Nacht hart gearbeitet, um die Schatzkammern dieser edlen Grafen zu füllen, die ihrerseits die Freundlichkeit besaßen, für „Ruhe und Ordnung“ im Lande zu sorgen.
Dazu ein Beispiel. Wenn einer dieser schwer arbeitenden Bauern seine Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen äußerte, wenn er über die harten und unerträglichen Lasten klagte, die man ihm aufgebürdet hatte, so verlangten „Recht und Ordnung“, daß er auf eine der Folterbänke gespannt wurde, die Sie eben gesehen haben, um ihn gehorsam und gefügig zu machen. »Die Gesellschaft mußte sich vor dieser Art Krimineller schützen« - auch die edlen Grafen hatten ihre Grinnells, Bonfields und Pinkertons. Und um ihre wohltätigen Ziele durchzusetzen, brauchten sie noch nicht die Unterstützung eines Chicagoer Geschworenengerichts.
Sie bezweifeln, daß das Volk alle diese Greueltaten ertragen hätte? Mein Freund, Ihre aufrührerische Gesinnung geht mit ihnen durch. Das „gesittete und gutwillige Volk“ ertrug diese Grausamkeiten ebenso ruhig, wie die Arbeiter heute sich den Prinzipien von „Recht und Ordnung“ beugen. Meine Worte stimmen Sie traurig und pessimistisch? Kommen Sie, ich will Ihnen etwas anderes zeigen. Können Sie entlang dieser Bergkette, nach Nordosten zu, dort hinten am Horizont jenen kleinen grauen Punkt erkennen, den man für eine kleine Wolke halten könnte? Ja? Das ist die Wartburg. Sie haben sicherlich schon davon gehört. Hier lebte und arbeitete Dr. Martin Luther, der ein Werkzeug der revolutionären Kräfte war. Der revolutionären Kräfte, mein Freund, die sich überall in diesen Dörfern entwickelt hatten.
Wir haben es uns angewöhnt, große Bewegungen großen Persönlichkeiten zuzuschreiben, als seien sie ihr Verdienst. Das ist immer falsch und stimmt auch im Falle Martin Luthers nicht. Der Adel wollte sich zwar von der Zwangsherrschaft der römischen Kirche befreien, aber er hing doch zu sehr an den Privilegien, die sie ihm verschafft hatte. Da er nicht auf den Freibrief, die Bauern um die Früchte ihrer Arbeit zu bringen, verzichten wollte, stand er den Ideen des gemeinen Volkes, das nach wirklicher Freiheit strebte, feindlich gegenüber. Reichte nicht „geistige Freiheit“, die Veränderung bestimmter Dogmen, für den gemeinen Mann aus? Luther wurde bald zum Werkzeug dieser betrügerischen Schurken und verfaßte Schriften, aus denen seine Verachtung und Verurteilung der Forderungen des Volkes sprachen. Er brandmarkte die tatsächlichen und mutigen Führer des Volkes, den furchtlosen Thomas Münzer und seine Verbündeten, schärfer, als der Papst ihn selbst kurze Zeit zuvor angeprangert hatte.
Und als das nach Freiheit dürstende Volk schließlich seine Sensen, Äxte und Forken ergriff, um seine edlen Grafen aus ihren Räuberhöhlen zu vertreiben, war es Luther, der eine große Verschwörung der Adligen gegen das Volk anzettelte. Es ist typisch, daß in diesem Augenblick alle religiösen Dispute nebensächlich wurden, und daß sich alle, ob Papist oder Lutheraner, in einem großen Feldzug gegen das Volk vereinigten. (In Amerika spielt sich zur Zeit ein ähnliches Schauspiel ab: Wo auch immer sich die Arbeiter erheben, um sich zu befreien, umarmen sich Demokraten und Republikaner wie Nektar und Ambrosia.) Natürlich bestand das Volk aus Konspirateuren und Brandschatzern. Hören Sie, was Thomas Münzer sagte: »Sieh zu, die Grundsuppe des Wuchers, der Dieberei und Räuberei sind unsere Herren und Fürsten. Sie nehmen alle Kreaturen zum Eigentum: die Fische im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden muß alles ihres sein. Darüber lassen sie dann Gottes Gebot ausgehen über die Armen und sprechen: „Gott hat geboten, Du sollst nicht stehlen.“ So sie nun alle Menschen, den armen Ackersmann, Handwerksmann und alles was da lebt, schinden und schaben. So er sich dann vergreift am allergeringsten, so muß er hängen. Da sagt denn der Doktor Lügner: „Amen!“ Dabei machen die Herren das selber, daß ihnen der arme Mann feind wird. Die Ursache des Aufruhrs wollen sie nicht wegtun, wie kann es auf die Dauer gut werden? Wenn ich dies sage, muß ich aufrührerisch sein. Wohlan!«
Die Rebellen waren am Anfang siegreich, aber sie konnten sich letzten Endes gegen das vereinigte Fußvolk ihrer Unterdrücker nicht behaupten. Am Fuße dieses Berges wurden sie besiegt. Dort unten, wo Sie den großen, von herrlichen Eichen umstandenen Felsen sehen, wurde die Schlacht für die Freiheit geschlagen und verloren. Nein, nicht verloren, sondern nur durch den vorübergehenden Sieg des Feindes vertagt. Der aufrührerische und gesetzlose Geist der Reformation führte zu der folgenschweren Entdeckung der Neuen Welt. Die Reformation gebar einen neuen Giganten: Amerika. Sie gab England Cromwell und Frankreich Richelieu. Ihre gärende Kraft vertrieb die Hugenotten aus Frankreich und die Puritaner aus England. Als gefährliche Elemente mußte sich die Gesellschaft gegen sie schützen, und so flohen sie über den Atlantik, da sie in ihrer Heimat nicht wegen ihrer fortschrittlichen Ideen als Märtyrer sterben wollten.
Der gegenwärtige Gesellschaftszustand ist nichts anderes als das Ergebnis des Kampfes dieser und aller vorangegangenen Epochen - ja, des Kampfes! »Man wird die Welt nicht dadurch verändern, indem man Rosenöl versprengt«, sagt Mirabeau; und die Geschichte hat die Richtigkeit dieser Aussage bestätigt. Die Herrscher und Vernichter unseres Volkes haben ihre Opfer immer fest an der Kehle gepackt, und sie haben den Griff erst dann gelockert, wenn man sie dazu gezwungen hat. Durch Logik und Argumente? Nein! Die Freiheit mußte immer teuer, mußte immer mit Blut erkauft werden.
Ich habe eine glückliche Kindheit verbracht. Ich habe gespielt, und ich habe gelernt. Ich wurde für eine Laufbahn im Staatsdienst im Bereich des Forstwesens ausgebildet. Als Kind hatte ich Privatunterricht, danach besuchte ich das Polytechnikum in Kassel. Als ich 17 Jahre alt war, starb sehr plötzlich mein Vater. Er hinterließ eine große Familie, und wir mußten uns sehr einschränken. Da ich der Älteste war, hielt ich es nicht für gerechtfertigt, meine kostspielige Ausbildung fortzusetzen und beschloß, nach Amerika auszuwandern, wo ich eine Reihe recht wohlhabender Verwandter hatte und habe.
Ich kam 1872 in New York an und begann auf den Rat meiner Freunde hin, in der Möbelbranche zu lernen. Im nächsten Jahr ging ich nach Chicago. Seitdem lebe ich hier, obwohl ich hinzufügen muß, daß ich die Stadt gelegentlich für einige Zeit verlassen habe. Ich habe eine Zeitlang auf einem Bauernhof gearbeitet, da ich die Absicht hatte, mich auf dem Lande niederzulassen. Als ich allerdings sah, daß es den kleinen Farmern und Pächtern noch miserabler ging als den Arbeitern, und daß ihre Abhängigkeit dieselbe war, kehrte ich nach Chicago zurück. Ich habe auch die Südstaaten bereist, um Land und Leute kennenzulernen.
Als ich in dieses Land kam, wußte ich so gut wie nichts über den Sozialismus; und aus dem, was ich in den Zeitungen darüber las, schloß ich, daß die Sozialisten eine Bande ungebildeter und arbeitsscheuer Landstreicher sein müßten. Da ich in der alten Welt kaum mit Leuten in Berührung gekommen war, die ihren Lebensunterhalt durch ehrliche Arbeit verdienten, war ich erstaunt und schockiert, als ich mit der Lage der Arbeiter in Amerika konfrontiert wurde. Die Fabrik, die menschenunwürdigen Verordnungen, die Überwachung, das Spitzelsystem, Unterwürfigkeit und fehlendes Selbstbewußtsein der Arbeiter, das überhebliche und willkürliche Verhalten des Chefs und seiner Angestellten - das alles machte einen Eindruck auf mich, dem ich mich nicht wieder habe entziehen können.
Am Anfang konnte ich nicht verstehen, warum die Arbeiter, unter ihnen viele alte Männer mit gebeugten Rücken, jedes Schimpfwort, das ihnen der Boß oder Vorarbeiter aus einer Laune heraus an den Kopf warf, stumm und ohne Widerspruch hinnahmen. Damals wußte ich noch nicht, daß arbeiten ein Privileg ist, und daß es in der Macht der Leute liegt, denen die Fabriken und Arbeitsmittel gehören, dieses Privileg zu verweigern oder zu gewähren. Damals wußte ich noch nicht, wie schwer es ist, seine eigene Arbeitskraft an den Mann zu bringen. Ich wußte damals auch noch nicht, daß es Abertausende von Arbeitern gab, die bereit waren, sich unter jeder Bedingung anwerben zu lassen, die einfach nur einen Arbeitsplatz suchten. Allerdings wurde ich mir dieser Dinge sehr bald bewußt, und mir wurde klar, weshalb diese Menschen so unterwürfig waren und weshalb sie alle demütigenden Befehle und Launen ihrer Vorgesetzten ertrugen.
Ich selbst hatte keine Schwierigkeiten, „klarzukommen“. Ich hatte gegenüber meinen Arbeitskollegen sehr viele Vorteile. Sicherlich wäre es mir gelungen, ein geachteter Geschäftsmann zu werden, wenn ich den skrupellosen Ehrgeiz besessen hätte, der den erfolgreichen Geschäftsmann auszeichnet - wenn ich ein gieriger Hamster gewesen wäre. (Der Hamster gehört zu der Familie der Ratten. Er sieht den Sinn des Lebens im Stehlen und Anhäufen seiner Schätze. In einigen Hamsterverstecken wurden häufig die Bestände ganzer Kornspeicher gefunden. Das größte Vergnügen des Hamsters scheint der Besitz zu sein, denn sie stehlen sehr viel mehr, als sie überhaupt verbrauchen können. Ja, sie stehlen genau wie unsere ehrbaren Bürger ungeachtet ihres Konsum Vermögens.)
Ich habe immer die Anschauung vertreten, daß das Leben nur sinnvoll ist, wenn man es genießen kann, und daß die vernünftige Anwendung dieses Prinzips wahre Sittlichkeit ist. Ich war der Ansicht, daß Askese, wie sie von der Kirche gelehrt wird, ein Verbrechen gegen die Natur der Menschen darstellt. Als ich entdeckte, daß die breite Masse des Volkes ihr Leben in harter Arbeit, Elend und Not zubrachte, erschien es mir nur natürlich, nach den Ursachen zu forschen. War diese Selbstverleugnung, diese Selbstverstümmelung des Volkes freiwillig oder wurde sie ihm aufgezwungen? Und wenn dies der Fall war, durch wen? In der Zeit, als ich auf der Suche nach irgendeinem Anhaltspunkt über meinen Büchern saß, wurde meine Aufmerksamkeit auf die folgenden Zeilen von Aristoteles gelenkt: »Wenn in künftigen Zeiten jedes Werkzeug seine Arbeit auf Befehl oder nach Vorausbestimmung ausführen wird, so wie es die Kunstwerke des Dädalus taten, die sich von selbst bewegten, oder die drei Füße des Hephaistos, die selbständig zu ihrer geweihten Arbeit schritten, wenn sich die Weberschiffchen von selbst bewegen, dann werden wir keine Herren und keine Sklaven mehr brauchen.« War diese Zeit, von dem großen Denker vor so vielen Jahrhunderten schon vorausgesagt, nicht jetzt gekommen?
Ja, sie war gekommen. Es gab Maschinen. Aber immer noch gibt es Herren und Sklaven. Und ich stellte mir die Frage, ob ihre Existenz immer noch notwendig sei? Ich glaube, es war 1875, zu der Zeit, als die »Workingmen's Party of Illinois« gegründet wurde, als ich auf Einladung eines Freundes zum ersten Mal eine Versammlung besuchte, auf der ein Vortrag über Sozialismus gehalten wurde. Vom theoretischen Standpunkt aus betrachtet, war dieser Vortrag, der von einem jungen Mechaniker gehalten wurde, sicherlich nicht sehr beeindruckend, mir aber gab er den Schlüssel zu allen Fragen, die mich schon seit etlichen Jahren beschäftigt hatten.
Ich besorgte mir alles, was jemals zu diesem Thema erschienen war; ob es für oder gegen den Sozialismus geschrieben war, machte für mich keinen Unterschied. Am Anfang war ich ein Schwärmer und Phantast. Wie so viele rechtschaffene Menschen heutzutage glaubte ich, daß man die Wahrheit nur verkünden und den Beweis nur erbringen müsse, um jeden aufrichtigen Mann und jede aufrichtige Frau für die gerechte Sache zu gewinnen. In meiner jugendlichen Begeisterung vergaß ich, die Erfahrung des historischen Prozesses auf diesen besonderen Fall anzuwenden. Es gab mir dann sehr zu denken, als ich feststellen mußte, daß die meisten Menschen wie Automaten sind, unfähig zu denken und sich nicht dessen bewußt, daß sie nur Werkzeuge der Gewohnheit sind.
Ich ließ mich jedoch durch nichts entmutigen. Das Studium französischer, deutscher und englischer Ökonomisten und Sozialwissenschaftler ließ mich einige Dinge differenzierter betrachten, als dies in meiner ersten Begeisterung der Fall war. Buckles »Geschichte der Zivilisation«, das »Kapital« von Karl Marx und Morgans »Alte Gesellschaft« haben mich vielleicht am stärksten beeinflußt.
Nun wurde ich selber ein aufmerksamer Beobachter der verschiedenen sozialen Phänomene. In den letzten zehn Jahren waren die Bedingungen für solche Nachforschungen überaus günstig, und ich fand die Theorien meiner bevorzugten Lehrmeister überall bestätigt.
Wenn ich mich recht erinnere, trat ich 1877 in die »Sozialistische Arbeiterpartei« ein. Die Ereignisse dieses Jahres, die brutalen Angriffe auf die winselnden und vertrauensseligen Lohnsklaven, bestärkten mich in der Überzeugung, daß es notwendig sei, Widerstand zu leisten. Dieser Widerstand mußte organisiert werden. Kurze Zeit später trat ich dem »Lehr- und Wehrverein« bei, einer Organisation bewaffneter Arbeiter, die ungefähr 1.500 gut ausgebildete Mitglieder hatte. Sobald unsere Patrizier sahen, daß sich der »Mob« auf den bewaffneten Verteidigungskrieg vorbereitete, beauftragten sie ihre Gesetzesvertreter in Springfield, den Arbeitern das Tragen von Waffen zu verbieten. Ihre Forderung wurde erfüllt.
Die Arbeiter begannen auch Politik, unabhängige Politik zu betreiben. Ich selbst wurde einige Male als Kandidat nominiert. Als die edlen Patrizier und politischen Auguren jedoch feststellen mußten, daß einige unserer Kandidaten gewählt wurden, zettelten sie eine Verschwörung an, um den Arbeitern das Wahlrecht zu entziehen, die Ergebnisse zu verfälschen und ähnliches. Angewidert von diesen Methoden verzichteten die Arbeiter darauf, sich weiterhin an Wahlen zu beteiligen.
Obwohl ich in den letzten Jahren politische Aktionen unterstützt habe, war es für mich immer klar, daß die sozialen Mißstände dadurch nicht beseitigt oder Reformen zugunsten der Arbeiter durchgesetzt werden könnten - für mich waren politische Aktionen schlicht und einfach ein Mittel zur Propaganda. Da ich der Meinung bin, daß das ökonomische Gefüge den Organismus der Gesellschaft bildet, kann ich den Gedanken, daß dieses Fundament durch Reformen oder Veränderungen umzugestalten sei, nur zurückweisen. Ebenso unsinnig ist es, zu glauben, man könne durch neue Strukturen im Überbau etwas verändern. Sie werden unweigerlich zusammenbrechen, sobald das Fundament berührt wird. Die ökonomische Befreiung kann meiner Meinung nach nur durch einen ökonomischen Kampf, und nicht durch politische Aktionen, erreicht werden. Allerdings können politische Aktionen dazu beitragen, die Organisierung der Arbeiter voranzutreiben, und die ist notwendig, um den Endkampf zum zentralen Problem zu machen. Zumindest sieht es zur Zeit so aus.
Ich erwähnte schon, daß ich seit meiner Ankunft in New York, 1872, in der Möbelbranche arbeitete. Da ich eine ausgeprägte Neigung zur Unabhängigkeit besaß, machte ich mich 1876 selbständig und eröffnete ein kleines Geschäft. Im selben Jahr kam meine Mutter mit meinen drei jüngeren Brüdern und meiner Schwester ebenfalls nach Chicago. Ich nahm sie bei mir auf und sorgte einige Jahre für ihren Lebensunterhalt.
Im Frühjahr 1880 stand die »Arbeiter-Zeitung«, das Organ der deutschen Arbeiter, die seit 1872, zuerst wöchentlich und später als Tageszeitung, erschienen war und einigermaßen an Einfluß gewonnen hatte, am Rand des Ruins. Man hatte nicht richtig gewirtschaftet und die Zeitung falsch geführt. Ich wurde von der Gesellschaft beauftragt, die Leitung zu übernehmen. Kurze Zeit später wurde ich zum Herausgeber ernannt. Die Zeitung war gerettet und hatte von allen deutschsprachigen Zeitungen die höchste Auflage in Chicago. Die deutschen Arbeiter sind mit Recht stolz auf ihr Sprachrohr, die Zeitung gehört ihnen als Klasse und niemand hat ein privates Interesse an ihr.
Die Politiker versuchten, sich mit mir anzufreunden, weil sie auf Unterstützung durch die »Arbeiter-Zeitung« hofften. Als sie feststellen mußten, daß ihre Bemühungen umsonst waren, begannen sie mich zu hassen. Das Schlimmste, was sie mir nachsagen konnten, war: »Er ist ein Fanatiker.« Die Verfechter der „freiheitlichen Ordnung“ sind so demoralisiert und heruntergekommen, daß sie einen Mann, der seine Arbeitskraft nicht auf dem kapitalistischen Markt zum Verkauf anbietet, als Fanatiker bezeichnen! Einer der Geschworenen, die uns verurteilt haben, der Bankier E. S. Dreyer [1], äußerte in aller Öffentlichkeit, daß wir aus unserem Einsatz für die Arbeiterbewegung Kapital schlagen würden. Derselbe Mann war während der letzten Präsidentschaftswahlen Schatzmeister des demokratischen Wahlkampfkomitees, das an mich herangetreten war und mir 10.000 Dollar angeboten hatte, wenn ich mich bereit erklärte, nichts Nachteiliges über Cleveland [2] zu äußern. Er muß von dieser Sache gewußt haben, und er muß auch gewußt haben, daß ich den Mann, der mir das Angebot unterbreitete, kurzerhand vor die Tür setzte.
Derselbe Dreyer hatte vor drei Jahren ein Grundstück für 32.000 Dollar der Schulbehörde zum Verkauf angeboten. Der Stadtrat war schon im Begriff, das Geschäft zu genehmigen, als ich erfuhr, daß derselbe Bauplatz kurz zuvor noch für 16.000 Dollar angeboten worden war. Ich machte die Sache publik. Nachforschungen deckten den Schwindel auf, und das Geschäft war geplatzt. Wenn ich mir überlege, daß solche Männer über meine Genossen und mich zu Gericht gesessen und uns verurteilt haben; wenn ich mir überlege, daß es diese Männer waren, die geschrien haben, wir seien eine Gefahr für die Gesellschaft, werde ich an den alten Trick von »Haltet den Dieb!« erinnert. Was nun den Prozeß betrifft, so ist darüber alles in der Rede, die ich vor meinem Henker Gary und seinen Helfershelfern gehalten habe, nachzulesen.
Fußnoten:
[1] Dreyer war Vorsitzender des Geschworenengerichts.
[2] Stephen G. Cleveland war 1885-89 und 1893-97 Präsident der USA.
Originaltext: Karasek, Horst: Haymartket! 1886 – Die deutschen Anarchisten von Chicago. Reden und Lebensläufe. Wagenbachs Taschenbücherei 11, Verlag Klaus Wagenbach 1975. Digitalisiert von www.anarchismus.at