Haymarket 1886 - Die Grabrede von Robert Reitzel

Freunde der Freiheit! Mein erstes Wort an diesen Särgen soll eine Anklage sein, nicht gegen den Geldpöbel, der heute das Land regiert, sondern gegen die Arbeiter von Chicago. Denn ihr, Arbeiter von Chicago, habt fünf eurer besten, edelsten und konsequentesten Vertreter eurer Sache in eurer Mitte ermorden lassen. Nicht den Henker, den man hierzulande Sheriff nennt, klage ich der Ermordung an, nicht die Geschworenen und die Richter, sondern das fluchwürdige System, das das arbeitende Volk nicht bloß ausbeutet, sondern es auch vergewaltigt, sobald es sich seiner Rechte bewußt wird.

Die Religion klage ich an, die den Unterdrückten zuruft: »Duldet, so werdet ihr ernten; seid Untertan aller Obrigkeit, denn sie ist von Gott.« Dieses System und diese Religion haben die Menschheit entmannt und die Humanität geschändet. Dieses System und die Religion, in deren Namen man euch getauft hat, haben euch, ihr Arbeiter von Chicago, so feige gemacht, daß ihr zusaht, wie man eure besten Männer ermordete.

Es gab eine Zeit, da die Arbeiter es nicht begreifen konnten, daß nur die ganze Freiheit ihre Sklaverei vernichten und ihnen Menschenwürde garantieren kann. Damals konnten jene elenden Schreiberlinge, die ein gut Teil zur Ermordung dieser Männer beigetragen haben, scheinheilig behaupten, daß die Prediger des Unglaubens und der anarchistischen Lehren keine Vertreter der Arbeiterklasse seien. Heute ist es durch die Teilnahme fast aller Gewerkschaften bewiesen, daß die Arbeiter die Vertreter ihrer Sache anerkennen und ehren, wofür sie gemordet worden sind. Wie zur Zeit der Französischen Revolution das Bürgertum, nachdem so viele Opfer geblutet, sich selbst zur Nation erklärte, so ist jetzt die Zeit gekommen, daß die Arbeiter sich selbst zur regierenden und gesetzgebenden Macht erklären müssen. Hier an diesen Särgen ist es an der Zeit, daß in allen Herzen das Gelübde getan wird: Wir wollen das ausführen, was diese Leute anstrebten, wir wollen den Menschenrechten, die uns auf dem Papier schon längst geschenkt sind, praktische Geltung verschaffen. Und wir wollen die Ermordung unserer Brüder rächen.

Wir sind keine Christen, die die Rache ihrem Gott überlassen, wir müssen sie selbst in die Hand nehmen. Und da wir keinen Himmel erhoffen, so müssen wir alles, was getan werden kann, auf Erden tun, und zwar bald tun! Wir müssen eine Organisation haben, egal ob öffentlich oder geheim, die die Ermordung des Rechts durch diejenigen, die die Macht in Händen haben, durchaus nicht erlaubt. Wir müssen den Leuten beweisen, daß die rote Fahne das Symbol jener Liebe ist, die, alle von Fürsten und Mammonsdienern geschaffenen Unterschiede verachtend, der ganzen Menschheit die ganze Welt geben will. Man kann nicht von jedem Bekenner unserer Sache verlangen, daß er sich bis zu der Sonnenhöhe unseres Louis Lingg aufschwingt, der allen Versuchen, ihn zur Unterschreibung eines Gnadengesuches zu veranlassen, das herrliche Wort entgegensetzte: »In unserer Lage ist der Selbsterhaltungstrieb das größte Verbrechen.«

Aber man kann von jedem verlangen, daß er von diesen Toten den wahren Lebensmut kennen lernt, nämlich über die gewöhnlichen Lebensbedingungen die Erringung jener Ideale zu setzen, die von allen großen Menschen empfunden und gelehrt und von jedem Lumpen verlacht werden: Freie Liebe! Freie Wahrheit! Freies Recht!

Eines dürfen wir an diesen Särgen sagen, obwohl unsere Feigheit an der Ermordung hier mitschuldig ist: Diese fünf starben wie Männer, wie Helden! Louis Lingg, Georg Engel, Albert Parsons, Adolph Fischer, August Spies - wenn in Zukunft diese Namen genannt werden, so wird jeder Verteidiger des Systems erbleichen, das auf Raub gegründet, durch Heuchelei zusammengehalten und durch gesetzlichen Mord verteidigt wird. Diese Toten werden wahrhaftig weiterleben. An einem Karfreitag hat man sie gekreuzigt. Dieser Sonntag ist ein Ostersonntag und muß für alle Zeiten ein Auferstehungstag werden.

So gewiß wie diese Bäume wieder frisches Laub hervorsprossen werden, so gewiß werden diese Toten lebendig werden in uns, in den Arbeitern von Chicago und in den aufrechten Menschen der ganzen Welt. Noch nie hat man mit Henkern das Recht unterdrückt! Noch nie hat man am Galgen die Wahrheit erdrückt! Nie gibt es Schranken für ihren Gedanken! Wir haben keine Ursache, für diese Toten zu trauern, sie starben den Heldentod, und wie das Kreuz einst zum Zeichen der Liebe wurde, so wird der Galgen im 19. Jahrhundert zum Zeichen der Freiheit werden. Aber trauern müssen wir über unsere eigene Schmach, über unsere Unentschlossenheit, über unsere Feigheit.

Laßt uns von diesen Gräbern mit den Worten Herweghs im Herzen scheiden: »Wir haben lang' genug geliebt, Wir wollen endlich hassen!«

Anmerkung: Robert Reitzel, Sohn einer protestantischen Lehrerfamilie, wanderte 1871 als 22jähriger von Badennach Amerika aus. Zehn Jahre lang durchstreifte er als Wanderprediger das Land, ehe er im Jahre 1884 in Detroit die Zeitschrift »Der arme Teufel« herausgab, die ihm den Beinamen »Amerikas Heine« einbrachte. »Der arme Teufel« war ein freigeistiges Blatt, in dem Anarchisten und Sozialisten, Demokraten und Individualisten gleichermaßen zu Wort kamen. Reitzel selber nannte sich einen Anarchisten. Er starb 1899 nach langjähriger. Krankheit, und mit ihm »Der arme Teufel«. Die Grabrede von ihm ist ebenfalls den Berichten der deutschsprachigen »New-Yorker Volkszeitung« entnommen.

Originaltext: Karasek, Horst: Haymartket! 1886 – Die deutschen Anarchisten von Chicago. Reden und Lebensläufe. Wagenbachs Taschenbücherei 11, Verlag Klaus Wagenbach 1975. Digitalisiert von www.anarchismus.at


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