Mit der Website www.systempunkte.org ist Anfang März 2014 ein interessantes anarchistisches Netzprojekt aus dem Internet verschwunden. Als Beitrag zur Debatte veröffentliche ich hier noch verspätetet den Abschieds-Newsletter.

Kritik und Selbstkritik


Liebe Leser/innen von systempunkte.org,

nach 3 Jahren und etwa 200 Blogposts haben wir uns entschieden, das Projekt systempunkte.org kontrolliert zu beenden. Wir müssen feststellen, dass wir nicht die personellen Ressourcen haben, um ein Medium, das unseren Ansprüchen genügt, zu betreiben und vor allem weiterzuentwickeln. Statt die Seite auf zu kleiner Flamme weiter existieren zu lassen, wenden wir uns lieber anderen politischen Projekten zu. Wir beenden damit ein Experiment, und wissen etwas mehr über die Bewegungen in dieser Gesellschaft und die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst, die nichtzuletzt Bedingung des Gelingens eines jeden politischen Projekts sind.

Was wir versucht haben

Unser Ziel war Brücken zu schlagen und Gräben, die uns als unvernünftig erschienen in Frage zu stellen. Insbesondere zählt hierzu jene zwischen akademischen Diskurs und Bewegungsdiskussionen, wir wollten beides zusammenführen. Zudem wollten wir den Horizont der deutschsprachigen anarchistischen Bewegung erweitern: Statt immer nur dieselben Thesen zu wiederholen, wollten wir Kontrapunkte setzen. Damit wollten wir nicht zuletzt die anarchistische Theorie auf die Höhe der Zeit bringen, Kompromisse bei der Qualität gingen wir deshalb selten ein. Wir wollten keine Flugblätter veröffentlichen (dafür gibt es Indymedia & Co), sondern fundierte Meinungen, Analysen, Berichte, Kommentare, Recherchen, Argumente.

Was wir getan haben

Thematisch haben wir versucht über das inhaltlich Gewöhnlichen hinauszugehen ohne  die typischen Themen zu vernachlässigen und haben dabei die unterschiedlichsten Felder bearbeitet, von der Organisationsfrage über anarchistische Wirtschaftsformen zu Krishnacore. Damit wollten wir neue Diskussionen in den unser Erachten verhärteten inneranarchistischen Diskurs einbringen.

Und so haben wir die Thesen von David Graeber zu Schulden und ökonomischer Geschichte aufgearbeitet. Wir haben etwas über Max Stirner gelernt, den anarchistischen Egoisten des 19. Jahrhunderts. Wir haben utopisch und dystopisch über die Ökonomie der Zukunft nachgedacht. Wir haben die Pros und Contras von Konsens und Mehrheitsentscheid diskutiert.

Was uns nicht gelungen ist

Während dieser drei Jahre erlebten wir die Occupy-Bewegung, ihre Vorläufer und Ableger, sowie die Ausbleiben der anarchistischen Reaktion hierauf. Noam Chomskys Einschätzung zum Zustand der anarchistischen Bewegung ist heute so zutreffend wie vor ein paar Jahren. Für ein politisches Millieu, das sich gern "undogmatische Linke" nennt, bringt dieses immer noch eine große Portion Dogmatismus mit. Wir sind so oft damit beschäftigt, Gräben zu ziehen und darin zu kämpfen. Im deutschsprachigen Raum sind wir mit einer kleinen Anarchismus-Szene konfrontiert, eingebettet in eine linksradikale Szene, die z.B. absurderweise Occupy als "die anderen" betrachtet. Wir möchten deshalb mit einem Aufruf zum Pluralismus schließen. Damit meinen wir nicht inhaltliche Beliebigkeit, sondern Offenheit und Bereitschaft zur Diskussion. Diese haben wir gelegentlich vermisst - ein Beispiel: Der Versuch die Rolle von Marktwirtschaft in einer freien Gesellschaft zu diskutieren, bzw. ob eine solche überhaupt eine Rolle spielen dürfte, soll uns hier und da den Ruf als "Anarchokapitalisten" eingebracht haben, ein Label was wir ablehnen und nicht nachvollziehen können. Schubladen dienen leider zu oft als bequemer Ersatz für inhaltliche Auseinandersetzung.

Wir stellen fest, dass die radikale Linke an ihrem Dogmatismus krankt, und wir sehen ihn als einen wichtigen Grund für ihre Schwäche und Irrelevanz im 21. Jh. an. Und damit beenden wir dann auch den typisch linken Rant.

Nicht gelungen ist uns zudem die versprengten Stücke des Anarchismus in der Blogosphäre zu verbinden, die Internet-Affinität lässt noch zu wünschen übrig. Sicherheitsbedenken scheinen uns hierbei nicht ausschlaggebend zu sein, angesichts der in der Bewegung weitverbreiten Nutzung von kommerziellen Netzwerkseiten. Angesichts der jüngeren Entwicklungen scheint uns auch die weitgehende Vernachlässigung der Netzpolitik durch die radikale Linke als bedenklich.

Was wir gelernt haben

Wir haben uns bewusst für eine hauptsächlich deutschsprachige Seite entschieden. Gezielt wollten wir aber Inhalte aus der weltweiten Bewegung in den deutschsprachigen Diskurs hineintragen. Unser Fazit dazu ist, dass regelmäßige Übersetzungsarbeit nicht effizient machbar ist, zumindest nicht für kleine Gruppen. Die Konsequenz: Aktivist/innen sollten Fremdsprachen lernen. Das ermöglicht uns den Blick über den nationalen Tellerrand, was für uns als kosmopolitische, transnationale und antinationalistische Bewegung umso wichtiger ist.(Jedenfalls so lange wie Google Translate & Co noch nicht auf dem Niveau eines menschlichen Übersetzers sind.

Autor/innen kommen nicht von selbst, sie müssen angesprochen und der Kontakt mit ihnen gepflegt werden. Die Liste der Autor/innen, die wir gewinnen  konnten, ist nicht sehr lang, und sie ließ auch an Diversität zu wünschen  übrig. Viele Beiträge und Rückmeldungen, die wir bekamen, waren allerdings sehr gut und ermutigend - vielen Dank dafür. Theoriearbeit, so mussten wir feststellen, funktioniert nicht, indem eine Gruppe von Leuten einfach Inhalte in die Welt bzw. ins Internet setzt und hofft, das irgendwer sie schon lesen wird. Die Bewegung muss sich aktiv und kollektiv bemühen ihre Schwäche in diesem Bereich zu überwinden. Auch das Lesen und Verstehen von Texten sollte gemeinsam erfolgen und die Ergebnisse solcher Diskussionen in Schrift gefasst zurück in die Gesamtbewegung getragen werden. Dies haben wir gelernt, die Umsetzung liegt aber nicht allein in unseren Händen.

Wir werden klüger weitermachen und wenn wir mit unseren nächsten Experimenten scheitern, werden wir klüger scheitern. Wir hoffen, dass unsere Erfahrungen ein Beitrag leisten, dass auch die anarchistische Bewegung neue Wege gehen kann und nicht alte Fehler wiederholen muss. Wir werden klüger weitermachen, denn es geht weiter bis zum Ende aller Verhältnisse, in denen der Mensch ein geknechtetes, ein verächtliches Wesen ist. Wie das gehen soll? Was ist denn das für eine scheiß bourgeoise Fragestellung!?!

Seit dem 6.3.2014 kein Anschluss unter dieser Adresse.


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